XV.4. Nach Gesetzen ihrer innern Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine dauerndere Humanität befördern

 

 Alle Zweifel und Klagen der Menschen über die Verwirrung und den wenig merklichen Fortgang des Guten in der Geschichte rührt daher, daß der traurige Wanderer auf eine zu kleine Strecke seines Weges sieht. Erweiterte er seinen Blick und vergliche nur die Zeitalter, die wir aus der Geschichte genauer kennen, unparteiisch miteinander, dränge er überdem in die Natur des Menschen und erwägte, was Vernunft und Wahrheit sei, so würde er am Fortgange derselben sowenig als an der gewissesten Naturwahrheit zweifeln. Jahrtausende durch hielt man unsere Sonne und alle Fixsterne für stillstehend; ein glückliches Fernrohr läßt uns jetzt an ihrem Fortrücken nicht mehr zweifeln. So wird einst eine genauere Zusammenhaltung der Perioden in der Geschichte unseres Geschlechts uns diese hoffnungsvolle Wahrheit nicht nur obenhin zeigen, sondern es werden sich auch, trotz aller scheinbaren Unordnung, die Gesetze berechnen lassen, nach welchen kraft der Natur des Menschen dieser Fortgang geschieht. Am Rande der alten Geschichte, auf dem ich jetzt wie in der Mitte stehe, zeichne ich vorläufig nur einige allgemeine Grundsätze aus, die uns im Verfolg unseres Weges zu Leitsternen dienen werden.

 Erstens. Die Zeiten ketten sich kraft ihrer Natur aneinander; mithin auch das Kind der Zeiten, die Menschenreihe, mit allen ihren Wirkungen und Produktionen.

 Durch keinen Trugschluß können wir's leugnen, daß unsere Erde in Jahrtausenden älter geworden sei und daß diese Wandererin um die Sonne seit ihrem Ursprunge sich sehr verändert habe. In ihren Eingeweiden sehen wir, wie sie einst beschaffen gewesen, und dürfen nur um uns blicken, wie wir sie jetzt beschaffen finden. Der Ozean brauset nicht mehr; ruhig ist er in sein Bette gesunken; die umherschweifenden Ströme haben ihre Ufer gefunden, und die Vegetation sowohl als die organischen Geschöpfe haben in ihren Geschlechtern eine fortwirkende Reihe von Jahren zurückgelegt. Wie nun seit der Erschaffung unserer Erde kein Sonnenstrahl auf ihr verlorengegangen ist, so ist auch kein abgefallenes Blatt eines Baums, kein verflogener Same eines Gewächses, kein Leichnam eines modernden Tiers, noch weniger eine Handlung eines lebendigen Wesens ohne Wirkung geblieben. Die Vegetation z.B. hat zugenommen und sich, soweit sie konnte, verbreitet; jedes der lebendigen Geschlechter ist in den Schranken, die ihm die Natur durch andere Lebendige setzte, fortgewachsen, und sowohl der Fleiß des Menschen als selbst der Unsinn seiner Verwüstungen ist ein regsames Werkzeug in den Händen der Zeit worden. Auf dem Schutt seiner zerstörten Städte blühen neue Gefilde; die Elemente streuten den Staub der Vergessenheit darüber, und bald kamen neue Geschlechter, die von und über den alten Trümmern bauten. Die Allmacht selbst kann es nicht ändern, daß Folge nicht Folge sei; sie kann die Erde nicht herstellen zu dem, was sie vor Jahrtausenden war, so daß diese Jahrtausende mit allen ihren Wirkungen nicht dagewesen sein sollten.

 Im Fortgange der Zeiten liegt also schon ein Fortgang des Menschengeschlechts, sofern dies auch in die Reihe der Erde- und Zeitkinder gehört. Erschiene jetzt der Vater der Menschen und sähe sein Geschlecht: wie würde er staunen! Sein Körper war für eine junge Erde gebildet, und nach der damaligen Beschaffenheit der Elemente mußte sein Bau, seine Gedankenreihe und Lebensweise sein; mit sechs und mehr Jahrtausenden hat sich gar manches hierin verändert. Amerika ist in vielen Strichen jetzt schon nicht mehr, was es bei seiner Entdeckung war; in ein paar Jahrtausenden wird man seine alte Geschichte wie einen Roman lesen. So lesen wir die Geschichte der Eroberung Trojas und suchen ihre Stelle, geschweige das Grab des Achilles oder den gottgleichen Helden selbst, vergebens. Es wäre zur Menschengeschichte ein schöner Beitrag, wenn man mit unterscheidender Genauigkeit alle Nachrichten der Alten von ihrer Gestalt und Größe, von ihren Nahrungsmitteln und dem Maß ihrer Speisen, von ihren täglichen Beschäftigungen und Arten des Vergnügens, von ihrer Denkart über Liebe und Ehe, über Leidenschaften und Tugend, über den Gebrauch des Lebens und das Dasein nach diesem Leben ort- und zeitgemäß sammelte. Gewiß würde auch schon in diesen kurzen Zeiträumen ein Fortgang des Geschlechts bemerkbar, der ebensowohl die Bestandheit der ewigjungen Natur als die fortwirkenden Veränderungen unserer alten Mutter Erde zeigte. Diese pflegt der Menschheit nicht allein, sie trägt alle ihre Kinder auf einem Schoß, in denselben Mutterarmen; wenn eins sich verändert, müssen sie sich alle verändern.

 Daß dieser Zeitenfortgang auch auf die Denkart des Menschengeschlechts Einfluß gehabt habe, ist unleugbar. Man erfinde, man singe jetzt eine Iliade; man schreibe wie Äschylus, Sophokles und Plato: es ist unmöglich. Der einfache Kindersinn, die unbefangene Art, die Welt anzusehen, kurz, die griechische Jugendzeit ist vorüber. Ein gleiches ist's mit Ebräern und Römern; dagegen wissen und kennen wir eine Reihe Dinge, die weder Ebräer noch Römer kannten. Ein Tag hat den andern, ein Jahrhundert das andere gelehrt; die Tradition ist reicher worden; die Muse der Zeiten, die Geschichte selbst spricht mit hundert Stimmen, singt aus hundert Flöten. Möge in dem ungeheuren Schneeball, den uns die Zeiten zugewälzt haben, soviel Unrat, soviel Verwirrung sein, als da will; selbst diese Verwirrung ist ein Kind der Jahrhunderte, die nur aus dem unermüdlichen Fortwälzen einer und derselben Sache entstehen konnte. Jede Wiederkehr also in die alten Zeiten, selbst das berühmte Platonische Jahr, ist Dichtung; es ist dem Begriff der Welt und Zeit nach unmöglich. Wir schwimmen weiter, nie aber kehrt der Strom zu seiner Quelle zurück, als ob er nie entronnen wäre.

 Zweitens. Noch augenscheinlicher macht die Wohnung der Menschen den Fortgang unseres Geschlechts kennbar.

 Wo sind die Zeiten, da die Völker wie Troglodyten hie und da in ihren Höhlen, hinter ihren Mauern saßen und jeder Fremdling ein Feind war? Da half, bloß und allein mit der Zeitenfolge, keine Höhle, keine Mauer; die Menschen mußten sich einander kennenlernen; denn sie sind allesamt nur ein Geschlecht auf einem nicht großen Planeten. Traurig gnug, daß sie sich einander fast allenthalben zuerst als Feinde kennenlernten und einander wie Wölfe anstaunten; aber auch dies war Naturordnung. Der Schwache fürchtete sich vor dem Starkem, der Betrogne vor dem Betrüger, der Vertriebne vor dem, der ihn abermals vertreiben könnte, das unerfahrne Kind endlich vor jedem Fremden. Diese jugendliche Furcht indes und alles, wozu sie mißbraucht wurde, konnte den Gang der Natur nicht ändern: das Band der Vereinigung zwischen mehreren Nationen wurde geknüpft, wenn gleich durch die Roheit der Menschen zuerst auf harte Weise. Die wachsende Vernunft kann den Knoten brechen; sie kann aber das Band nicht lösen, noch weniger alle die Entdeckungen ungeschehen machen, die jetzt einmal geschehen sind. Moses' und Orpheus', Homers und Herodots, Strabo und Plinius' Erdgeschichte, was sind sie gegen die unsere? Was ist der Handel der Phönicier, Griechen und Römer gegen Europas Handel? Und so ist uns mit dem, was bisher geschehen ist, auch der Faden des Labyrinths in die Hand gegeben, was künftig geschehen werde. Der Mensch, solange er Mensch ist, wird nicht ablassen, seinen Planeten zu durchwandern, bis dieser ihm ganz bekannt sei; weder die Stürme des Meers noch Schiffbrüche, noch jene ungeheure Eisberge und Gefahren der Nord- und Südwelt werden ihn davon abhalten, da sie ihn bisher von den schwersten ersten Versuchen selbst in Zeiten einer sehr mangelhaften Schiffahrt nicht haben abhalten mögen. Der Funke zu allen diesen Unternehmungen liegt in seiner Brust, in der Menschennatur. Neugierde und die unersättliche Begierde nach Gewinn, nach Ruhm, nach Entdeckungen und größerer Stärke, selbst neue Bedürfnisse und Unzufriedenheiten, die im Lauf der Dinge, wie sie jetzt sind, unwidertreiblich liegen, werden ihn dazu aufmuntern, und die Gefahrenbesieger der vorigen Zeit, berühmte glückliche Vorbilder, werden ihn noch mehr beflügeln. Der Wille der Vorsehung wird also durch gute und böse Triebfedern befördert werden, bis der Mensch sein ganzes Geschlecht kenne und darauf wirke. Ihm ist die Erde gegeben, und er wird nicht nachlassen, bis sie, wenigstens dem Verstande und dem Nutzen nach, ganz sein sei. Schämen wir uns nicht jetzt schon, daß uns der halbe Teil unseres Planeten, als ob er die abgekehrte Seite des Mondes wäre, so lange unbekannt geblieben?

 


 © textlog.de 2004 • 16.04.2024 10:54:50 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright