VIII.4. Die Empfindungen und Triebe der Menschen sind allenthalben dem Zustande, worin sie leben, und ihrer Organisation gemäß; allenthalben aber werden sie von Meinungen und von der Gewohnheit regiert

 

Lasst uns also auf die Tugenden des Weibes kommen wie sie sich in der Geschichte der Menschheit offenbaren. Auch unter den wildesten Völkern unterscheidet sich das Weib vom Mann durch eine zärtere Gefälligkeit, durch Liebe zum Schmuck und zur Schönheit; auch da noch sind diese Eigenschaften kennbar, wo die Nation mit dem Klima und dem schnödesten Mangel kämpft. Überall schmückt sich das Weib, wie wenigen Putz es auch hie und da, sich zu schmücken, habe; so bringt im ersten Frühling die lebenreiche Erde wenigstens einige geruchlose Blümchen hervor, Vorboten, was sie in andern Jahrszeiten zu tun vermöchte. - Reinlichkeit ist eine andere Weibertugend, dazu sie ihre Natur zwingt und der Trieb, zu gefallen, reizt. Die Anstalten, ja die oft übertriebnen Gesetze und Gebräuche, wodurch alle gesunde Nationen die Krankheiten der Weiber absonderten und unschädlich machten, beschämen manche kultivierte Völker. Sie wußten und wissen also auch nichts von einem großen Teil der Schwachheiten, die bei uns sowohl eine Folge als eine neue Ursache jener tiefen Versunkenheit sind, die eine üppige, kranke Weiblichkeit auf eine elende Nachkommenschaft fortbreitet. - Noch eines größern Ruhmes ist die sanfte Duldung, die unverdrossene Geschäftigkeit wert, in der sich, ohne den Mißbrauch der Kultur, das zarte Geschlecht überall auf der Erde auszeichnet Mit Gelassenheit trägt es das Joch, das ihm die rohe Übermacht der Männer, ihre Liebe zum Müßiggange und zur Trägheit, endlich auch die Ausschweifungen seiner Vorfahren selbst als eine geerbte Sitte auflegten, und bei den armseligsten Völkern finden sich hierin oft die größesten Muster. Es ist nicht Verstellung, wenn in vielen Gegenden die mannbare Tochter zur beschwerlichen Ehe gezwungen werden muß; sie entläuft der Hütte, sie flieht in die Wüste; mit Tränen nimmt sie ihren Brautkranz; denn es ist die letzte Blüte ihrer vertändelten, freieren Jugend. Die meisten Brautlieder solcher Nationen sind Aufmunterungs-, Trost- und halbe Trauerlieder148, über die wir spotten, weil wir ihre Unschuld und Wahrheit nicht mehr fühlen. Zärtlich nimmt sie Abschied von allem, was ihrer Jugend so lieb war; als eine Verstorbene verläßt sie das Haus ihrer Eltern, verliert ihren vorigen Namen und wird das Eigentum eines Fremden, der vielleicht ihr Tyrann ist. Das Unschätzbarste, was ein Mensch hat, muß sie ihm aufopfern, Besitz ihrer Person, Freiheit, Willen, ja vielleicht Gesundheit und Leben; und das alles um Reize, die die keusche Jungfrau noch nicht kennt und die ihr vielleicht bald in einem Meer von Ungemächlichkeit verschwinden. Glücklich, daß die Natur das weibliche Herz mit einem unnennbar zarten und starken Gefühl für den persönlichen Wert des Mannes ausgerüstet und geschmückt hat. Durch dies Gefühl erträgt sie auch seine Härtigkeiten; sie schwingt sich in einer süßen Begeisterung so gern zu allem auf, was ihr an ihm edel, groß, tapfer, ungewöhnlich dünkt; mit erhebender Teilnehmung hört sie männliche Taten, die ihr, wenn der Abend kommt, die Last des beschwerlichen Tages versüßen und es zum Stolz ihr machen, daß sie, da sie doch einmal zugehören muß, einem solchen Mann gehöre. Die Liebe des Romantischen im weiblichen Charakter ist also eine wohltätige Gabe der Natur, Balsam für sie und belohnende Aufmunterung des Mannes; denn der schönste Kranz des Jünglings war immer die Liebe der Jungfrau.

Endlich die süße Mutterliebe, mit der die Natur dies Geschlecht ausstattete; fast unabhängig ist sie von kalter Vernunft und weit entfernt von eigennütziger Lohnbegierde. Nicht, weil es liebenswürdig ist, liebt die Mutter ihr Kind, sondern weil es ein lebendiger Teil ihres Selbst, das Kind ihres Herzens, der Abdruck ihrer Natur ist. Darum regen sich ihre Eingeweide über seinem Jammer; ihr Herz klopft stärker bei seinem Glück; ihr Blut fließt sanfter, wenn die Mutterbrust, die es trinkt, es gleichsam noch an sie knüpft. Durch alle unverdorbene Nationen der Erde geht dieses Muttergefühl; kein Klima, das sonst alles ändert, konnte dies ändern; nur die verderbtesten Verfassungen der Gesellschaft vermochten etwa mit der Zeit das weiche Laster süßer zu machen als jene zarte Qual mütterlicher Liebe. Die Grönländerin säugt ihren Sohn bis ins dritte, vierte Jahr, weil das Klima ihr keine Kinderspeisen darbeut; sie erträgt von ihm alle Unarten des keimenden männlichen Übermuts mit nachsehender Duldung Mit mehr als Manneskraft ist die Negerin gewaffnet, wenn ein Ungeheuer ihr Kind anfällt; mit staunender Verwunderung liest man die Beispiele ihrer das Leben verachtenden mütterlichen Großmut. Wenn endlich der Tod der zärtlichen Mutter, die wir eine Wilde nennen, ihren besten Trost, den Wert und die Sorge ihres Lebens, raubt - man lese bei Carver149 die Klage der Nadowesserin, die ihren Mann und ihren vierjährigen Sohn verloren hatte - : das Gefühl, das in ihr herrscht, ist über alle Beschreibung. - Was fehlt also diesen Nationen an Empfindungen der wahren weiblichen Humanität, wenn nicht etwa der Mangel und die trauige Not oder ein falscher Punkt der Ehre und eine geerbte rohe Sitte sie hie und da auf Irrwege leiten? Die Keime zum Gefühl alles Großen und Edeln liegen nicht nur allenthalben da, sondern sie sind auch überall ausgebildet, nachdem es die Lebensart, das Klima, die Tradition oder die Eigenheit des Volks erlaubte.

 Ist dieses, so wird der Mann dem Weibe nicht nachbleiben; und welche denkbare männliche Tugend wäre es, die nicht hie und da auf der Erde den Ort ihrer Blüte gefunden hätte? Der männliche Mut, auf der Erde zu herrschen und sein Leben nicht ohne Tat, aber gnügsam-frei zu genießen, ist wohl die erste Mannestugend; sie hat sich am weitsten und vielartigsten ausgebildet, weil fast allenthalben die Not zu ihr zwang und jeder Erdstrich, jede Sitte sie anders lenkte. Bald also suchte der Mann in Gefahren Ruhm, und der Sieg über dieselbe war das kostbarste Kleinod seines männlichen Lebens. Vom Vater ging diese Neigung auf den Sohn über; die frühe Erziehung beförderte sie, und die Anlage zu ihr wurde in wenigen Generationen dem Volk erblich. Dem gebornen Jäger ist die Stimme seines Horns und seiner Hunde, was sie sonst keinem ist; Eindrücke der Kindheit trugen dazu bei; oft sogar geht das Jägergesicht und das Jagdgehirn in die Geschlechter über. So mit allen andern Lebensarten freier, wirkender Völker. Die Lieder jeder Nation sind über die ihr eignen Gefühle, Triebe und Seharten die besten Zeugen, ein wahrer Kommentar ihrer Denk- und Empfindungsweise aus ihrem eignen fröhlichen Munde.150 Selbst ihre Gebräuche, Sprüchwörter und Klugheitsregeln bezeichnen lange nicht soviel, als jene bezeichnen; noch mehr aber täten es, wenn wir Proben davon hätten oder vielmehr die Reisenden sie bemerkten, der Nationen charakteristische Träume. Im Traum und im Spiel zeigt sich der Mensch ganz, wie er ist, in jenem aber am meisten.

Die Liebe des Vaters zu seinen Kindern ist die zweite Tugend, die sich beim Mann am besten durch männliche Erziehung äußert. Frühe gewöhnt der Vater den Sohn zu seiner Lebensweise: er lehrt ihn seine Künste, weckt in ihm das Gefühl seines Ruhms und liebt in ihm sich selbst, wenn er alt oder nicht mehr sein wird. Dies Gefühl ist der Grund aller Stammesehre und Stammestugend auf der Erde; es macht die Erziehung zum öffentlichen, zum ewigen Werk; es hat alle Vorzüge und Vorurteile der Menschengeschlechter hinabgeerbt. Daher fast bei allen Stämmen und Völkern die teilnehmende Freude, wenn der Sohn ein Mann wird und sich mit dem Gerät oder den Waffen seines Vaters schmückt, daher die tiefe Trauer des Vaters, wenn er diese seine stolzeste Hoffnung verliert. Man lese die Klage des Grönländers um seinen Sohn151, man höre die Klagen Ossians um seinen Oskar, und man wird in ihnen Wunden des Vaterherzens, die schönsten Wunden der männlichen Brust, bluten sehen. -

Die dankbare Liebe des Sohns zu seinem Vater ist freilich nur eine geringe Wiedervergeltung des Triebes, mit dem der Vater den Sohn liebte; aber auch das ist Naturabsicht. Sobald der Sohn Vater wird, wirkt das Herz auf seine Söhne hinunter; der vollere Strom soll hinab, nicht aufwärts fließen; denn nur also erhält sich die Kette stets wachsender, neuer Geschlechter. Es ist also nicht als Unnatur zu schelten, wenn einige vom Mangel gedrückte Völker das Kind dem abgelebten Vater vorziehn oder, wie einige Erzählungen sagen, den Tod der Vergreisten sogar befördern. Nicht Haß, sondern traurige Not oder gar eine kalte Gutmütigkeit ist diese Beförderung, da sie die Alten nicht nähren, nicht mitnehmen können und ihnen also lieber mit freundschaftlicher Hand selbst ein qualenloses Ende bereiten, als sie den Zähnen der Tiere zurücklassen wollen. Kann nicht im Drange der Not, wehmütig genug, der Freund den Freund töten und ihm, den er nicht erretten kann, damit eine Wohltat erweisen, die er ihm nicht anders erweisen konnte? - Daß aber der Ruhm der Väter in der Seele ihres Stammes unsterblich lebe und wirke, zeigen bei den meisten Völkern ihre Lieder und Kriege, ihre Geschichten und Sagen, am meisten die mit ewiger Hochachtung derselben sich forterbende Lebensweise.

 Gemeinschaftliche Gefahren endlich erwecken gemeinschaftlichen Mut: sie knüpfen also das dritte und edelste Band der Männer, die Freundschaft. In Lebensarten und Ländern, die gemeinschaftliche Unternehmungen nötig machen, sind auch heroische Seelen vorhanden, die den Bund der Liebe auf Leben und Tod knüpfen. Dergleichen waren jene ewigberühmten Freunde der griechischen Heldenzeit; dergleichen waren jene gepriesenen Scythen und sind allenthalben noch unter den Völkern, die Jagd, Krieg, Züge in Wäldern und Wüsteneien oder sonst Abenteuer lieben. Der Ackermann kennt nur einen Nachbar, der Handwerker einen Zunftgenossen, den er begünstigt oder neidet; der Wechsler endlich, der Gelehrte, der Fürstendiener - wie entfernter sind sie von jener eigengewählten, tätigen, erprobten Freundschaft, von der eher der Wanderer, der Gefangne, der Sklave weiß, der mit dem andern an einer Kette ächzt. In Zeiten des Bedürfnisses, in Gegenden der Not verbünden sich Seelen: der sterbende Freund ruft den Freund um Rache seines Blutes an und freut sich, ihn hinterm Grabe mit demselben wiederzufinden. Mit unauslöschlicher Flamme brennet dieser, den Schatten seines Freundes zu versöhnen, ihn aus dem Gefängnis zu befreien, ihm beizustehen im Streit und das Glück des Ruhms mit ihm zu teilen. Ein gemeinschaftlicher Stamm kleiner Völker ist nichts als ein also verbündeter Chor von Blutsfreunden, die sich von andern Geschlechtern in Haß oder in Liebe scheiden. So sind die arabischen, so sind manche tatarische Stämme und die meisten amerikanischen Völker. Die blutigsten Kriege zwischen ihnen, die eine Schande der Menschheit scheinen, entsprangen zuerst aus dem edelsten Gefühl derselben, dem Gefühl der beleidigten Stammesehre oder einer gekränkten Stammesfreundschaft.

 Weiterhin und auf die verschiednen Regierungsformen weiblicher oder männlicher Regenten der Erde lasse ich mich jetzt und hier noch nicht ein. Denn da aus den bisher angezeigten Gründen es sich noch nicht erklären läßt, warum ein Mensch durchs Recht der Geburt über Tausende seiner Brüder herrsche, warum er ihnen ohne Vertrag und Einschränkung nach Willkür gebieten, Tausende derselben ohne Verantwortung in den Tod liefern, die Schätze des Staats ohne Rechenschaft verzehren und gerade dem Armen darüber die bedrückendsten Auflagen tun dörfe; da es sich noch weniger aus den ersten Anlagen der Natur ergibt, warum ein tapfres und kühnes Volk, d. i. tausend edle Männer und Weiber, oft die Füße eines Schwachen küssen und den Zepter anbeten, womit ein Unsinniger sie blutig schlägt, welcher Gott oder Dämon es ihnen eingegeben, eigne Vernunft und Kräfte, ja oft Leben und alle Rechte der Menschheit der Willkür eines zu überlassen und es sich zur höchsten Wohlfahrt und Freude zu rechnen, daß der Despot einen künftigen Despoten zeuge - da, sage ich, alle diese Dinge dem ersten Anblick nach die verworrensten Rätsel der Menschheit scheinen und glücklicher- oder unglücklicherweise der größeste Teil der Erde diese Regierungsformen nicht kennt, so können wir sie auch nicht unter die ersten, notwendigen, allgemeinen Naturgesetze der Menschheit rechnen. Mann und Weib, Vater und Sohn, Freund und Feind sind bestimmte Verhältnisse und Namen; aber Führer und König, ein erblicher Gesetzgeber und Richter, ein willkürlicher Gebieter und Staatsverweser für sich und alle seine noch. Ungebornen - diese Begriffe wollen eine andere Entwicklung, als wir ihnen hier zu geben vermögen. Genug, daß wir die Erde bisher als ein Treibhaus natürlicher Sinne und Gaben, Geschicklichkeiten und Künste, Seelenkräfte und Tugenden in ziemlich großer Verschiedenheit derselben bemerkt haben; wiefern sich nun der Mensch dadurch Glückseligkeit zu bauen berechtigt oder fähig sei, ja, wo irgend der Maßstab zu ihr liege, dies lasst uns jetzo erwägen.


 © textlog.de 2004 • 18.04.2024 07:55:14 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright