VIII.5. Die Glückseligkeit der Menschen ist allenthalben ein individuelles Gut, folglich allenthalben klimatisch und organisch, ein Kind der Übung, der Tradition und Gewohnheit

 

Irre ich nicht, so lassen sieh nach diesen einfachen Voraussetzungen, deren Wahrheit jede Brust fühlt, einige Linien ziehen, die wenigstens manche Zweifel und Irrungen über die Bestimmung des Menschengeschlechts abschneiden. Was z. B. könnte es heißen, daß der Mensch, wie wir ihn hier kennen, zu einem unendlichen Wachstum seiner Seelenkräfte zu einer fortgehenden Ausbreitung seiner Empfindungen und Wirkungen, ja gar, daß er für den Staat, als das Ziel seines Geschlechts, und alle Generationen desselben eigentlich nur für die letzte Generation gemacht sein, die auf dem zerfallenen Gerüst der Glückseligkeit aller vorhergehenden throne?

Der Anblick unserer Mitbrüder auf der Erde, ja selbst die Erfahrung jedes einzelnen Menschenlebens widerlegt diese der schaffenden Vorsehung untergeschobenen Plane. Zu einer ins Unermeßliche wachsenden Fülle der Gedanken und der Empfindungen ist weder unser Haupt noch unser Herz gebildet, weder unsere Hand gemacht noch unser Leben berechnet. Blühen nicht unsere schönsten Seelenkräfte ab, wie sie aufblühten? Ja, wechseln nicht mit Jahren und Zuständen sie selbst untereinander und lösen im freundschaftlichen Zwist oder vielmehr in einem kreisenden Reigentanz einander ab? Und wer hätte es nicht erfahren, daß eine grenzenlose Ausbreitung seiner Empfindungen diese nur schwäche und vernichte, indem sie das, was Seil der Liebe sein soll, als eine verteilte Flocke den Lüften gibt oder mit seiner verbrannten Asche das Auge des andern benebelt. Da wir unmöglich andere mehr oder anders als uns selbst lieben können; denn wir lieben sie nur als Teile unser selbst oder vielmehr uns selbst in ihnen so ist allerdings die Seele glücklich, die wie ein höherer Geist mit ihrer Wirksamkeit viel umfasset und es in rastloser Wohltätigkeit zu ihr selbst zählt; elend ist aber die andere, deren Gefühl, in Worte verschwemmt, weder sich noch andern tauget. Der Wilde, der sich, der sein Weib und Kind mit ruhiger Freude liebt und für seinen Stamm wie für sein Leben mit beschränkter Wirksamkeit glüht, ist, wie mich dünkt, ein wahreres Wesen als jener gebildete Schatte, der für den Schatten seines ganzen Geschlechts, d. i. für einen Namen, in Liebe entzückt ist. In seiner armen Hütte hat jener für jeden Fremden Raum, den er mit gleichgültiger Gutmütigkeit als seinen Bruder aufnimmt und ihn nicht einmal, wo er her sei, fraget. Das verschwemmte Herz des müßigen Kosmopoliten ist eine Hütte für niemand.

Sehen wir denn nicht, meine Brüder, daß die Natur alles, was sie konnte, getan habe, nicht um uns auszubreiten, sondern um uns einzuschränken und uns eben an den Umriß unseres Lebens zu gewöhnen? Unsere Sinne und Kräfte haben ein Maß: die Horen unserer Tage und Lebensalter geben einander nur wechselnd die Hände, damit die ankommende die verschwundne ablöse. Es ist also ein Trug der Phantasie, wenn der Mann und Greis sich noch zum Jünglinge träumt. Vollends jene Lüsternheit der Seele, die, selbst der Begierde zuvorkommend, sich augenblicks in Ekel verwandelt, ist sie Paradieses Lust oder vielmehr Tantalus' Hölle, das ewige Schöpfen der unsinnig gequälten Danaiden? Deine einzige Kunst, o Mensch, hienieden ist also Maß! Das Himmelskind Freude, nach dem du verlangest, ist um dich, ist in dir, eine Tochter der Nüchternheit und des stillen Genusses, eine Schwester der Gnügsamkeit und der Zufriedenheit mit deinem Dasein im Leben und Tode.

Noch weniger ist's begreiflich, wie der Mensch also für den Staat gemacht sein soll, daß aus dessen Einrichtung notwendig seine erste wahre Glückseligkeit keime; denn wie viele Völker auf der Erde wissen von keinem Staat, die dennoch glücklicher sind als mancher gekreuzigte Staatswohltäter. Ich will mich auf keinen Teil des Nutzens oder des Schadens einlassen, den diese künstliche Anstalten der Gesellschaft mit sich führen; da jede Kunst aber nur Werkzeug ist und das künstlichste Werkzeug notwendig den vorsichtigsten, feinsten Gebrauch erfodert, so ist offenbar, daß mit der Größe der Staaten und mit der feinern Kunst ihrer Zusammensetzung notwendig auch die Gefahr, einzelne Unglückliche zu schaffen, unermeßlich zunimmt. In großen Staaten müssen Hunderte hungern, damit einer prasse und schwelge; Zehntausende werden gedrückt und in den Tod gejagt, damit ein gekrönter Tor oder Weiser seine Phantasie ausfahre. Ja endlich, da, wie alle Staatslehrer sagen, jeder wohleingerichtete Staat eine Maschine sein muß, die nur der Gedanke eines regiert: welche größere Glückseligkeit könnte es gewähren, in dieser Maschine als ein gedankenloses Glied mitzudienen? Oder vielleicht gar wider besser Wissen und Gefühl lebenslang in ihr auf ein Rad Ixions geflochten zu sein, das dem Traurig-Verdammten keinen Trost läßt, als etwa die letzte Tätigkeit seiner selbstbestimmenden, freien Seele wie ein geliebtes Kind zu ersticken und in der Unempfindlichkeit einer Maschine sein Glück zu finden? - O wenn wir Menschen sind, so laßt uns der Vorsehung danken, daß sie das allgemeine Ziel der Menschheit nicht dahin setzte! Millionen des Erdballs leben ohne Staaten, und muß nicht ein jeder von uns auch im künstlichsten Staat, wenn er glücklich sein will, es eben da anfangen, wo es der Wilde anfängt, nämlich daß er Gesundheit und Seelenkräfte, das Glück seines Hauses und Herzens, nicht vom Staat, sondern von sich selbst erringe und erhalte? Vater und Mutter, Mann und Weib, Kind und Bruder, Freund und Mensch - das sind Verhältnisse der Natur, durch die wir glücklich werden; was der Staat uns geben kann, sind Kunstwerkzeuge, leider aber kann er uns etwas weit Wesentlicheres, uns selbst, rauben.

Gütig also dachte die Vorsehung, da sie den Kunstendzwecken großer Gesellschaften die leichtere Glückseligkeit einzelner Menschen vorzog und jene kostbaren Staatsmaschinen, soviel sie konnte, den Zeiten ersparte. Wunderbar teilte sie die Völker, nicht nur durch Wälder und Berge, durch Meere und Wüsten, durch Ströme und Klimate, sondern insonderheit auch durch Sprachen, Neigungen und Charaktere, nur damit sie dem unterjochenden Despotismus sein Werk erschwerte und nicht alle Weltteile in den Bauch eines hölzernen Pferdes steckte. Keinem Nimrod gelang es bisher, für sich und sein Geschlecht die Bewohner des Weltalls in ein Gehege zusammenzujagen; und wenn es seit Jahrhunderten der Zweck des verbündeten Europa wäre, die glückaufzwingende Tyrannin aller Erdnationen zu sein, so ist die Glückesgöttin noch weit von ihrem Ziele. Schwach und kindisch wäre die schaffende Mutter gewesen, die die echte und einzige Bestimmung ihrer Kinder, glücklich zu sein, auf die Kunsträder einiger Spätlinge gebaut und von ihren Händen den Zweck der Erdeschöpfung erwartet hätte. Ihr Menschen aller Weltteile, die ihr seit Äonen dahingingt, ihr hättet also nicht gelebt und etwa nur mit eurer Asche die Erde gedüngt, damit am Ende der Zeit eure Nachkommen durch europäische Kultur glücklich würden: was fehlt einem stolzen Gedanken dieser Art, daß er nicht Beleidigung der Naturmajestät heiße?

Wenn Glückseligkeit auf der Erde anzutreffen ist, so ist sie in jedem fühlenden Wesen; ja sie muß in ihm durch Natur sein, und auch die helfende Kunst muß zum Genuß in ihm Natur werden. Hier hat nun jeder Mensch das Maß seiner Seligkeit in sich; er trägt die Form an sich, zu der er gebildet worden und in deren reinem Umriß er allein glücklich werden kann. Eben deswegen hat die Natur alle ihre Menschenformen auf der Erde erschöpft, damit sie für jede derselben in ihrer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuß hätte, mit dem sie den Sterblichen durchs Leben hindurch täuschte.

 


 © textlog.de 2004 • 29.03.2024 16:57:43 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright