IX.1. So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnt, so sehr hangt er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von andern ab

 

 Nicht nur Philosophen haben die menschliche Vernunft, als unabhängig von Sinnen und Organen, zu einer ihm ursprünglichen, reinen Potenz erhoben, sondern auch der sinnliche Mensch wähnt im Traum seines Lebens, er sei alles, was er ist, durch sich selbst worden. Erklärlich ist dieser Wahn, zumal bei dem sinnlichen Menschen. Das Gefühl der Selbsttätigkeit, das ihm der Schöpfer gegeben hat, regt ihn zu Handlungen auf und belohnt ihn mit dem süßesten Lohn einer selbstvollendeten Handlung. Die Jahre seiner Kindheit sind vergessen; die Keime, die er darin empfing, ja, die er noch täglich empfängt, schlummern in seiner Seele; er sieht und genießt nur den entsproßten Stamm und freut sich seines lebendigen Wuchses, seiner früchtetragenden Zweige. Der Philosoph indessen, der die Genesis und den Umfang eines Menschenlebens in der Erfahrung kennt und ja auch die ganze Kette der Bildung unseres Geschlechts in der Geschichte verfolgen könnte, er müßte, dünkt mich, da ihn alles an Abhängigkeit erinnert, sich aus seiner idealischen Welt, in der er sich allein und allgenugsam fühlt, gar bald in unsere wirkliche zurückfinden.

 Sowenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt nach aus sieh entspringt, sowenig ist er im Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein Selbstgeborner. Nicht nur der Keim unserer innern Anlagen ist genetisch wie unser körperliches Gebilde, sondern auch jede Entwicklung dieses Keimes hängt vom Schicksal ab, das uns hie- oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jahren die Hülfsmittel der Bildung um uns legte. Schon das Auge mußte sehen, das Ohr hören lernen; und wie künstlich das vornehmste Mittel unserer Gedanken, die Sprache, erlangt werde, darf keinem verborgen bleiben. Offenbar hat die Natur auch unsern ganzen Mechanismus samt der Beschaffenheit und Dauer unserer Lebensalter zu dieser fremden Beihülfe eingerichtet. Das Hirn der Kinder ist weich und hangt noch an der Hirnschale; langsam bildet es seine Streifen aus und wird mit den Jahren erst fester, bis es allmählich sich härtet und keine neuen Eindrücke mehr annimmt. So sind die Glieder, so die Triebe des Kindes; jene sind zart und zur Nachahmung eingerichtet, diese nehmen, was sie sehen und hören, mit wunderbar-reger Aufmerksamkeit und innerer Lebenskraft auf. Der Mensch ist also eine künstliche Maschine, zwar mit genetischer Disposition und einer Fülle von Leben begabt; aber die Maschine spielt sich nicht selbst, und auch der fähigste Mensch muß lernen, wie er sie spiele. Die Vernunft ist ein Aggregat von Bemerkungen und Übungen unserer Seele, eine Summe der Erziehung unseres Geschlechts, die nach gegebnen fremden Vorbildern der Erzogne zuletzt als ein fremder Künstler an sich vollendet.

 Hier also liegt das Principium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifische Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unseres Geschlechts hierauf beruht, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede.

 Es gibt also eine Erziehung des Menschengeschlechts, eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von Individuen lebt. Freilich, wenn jemand sagte, daß nicht der einzelne Mensch, sondern das Geschlecht erzogen werde, so spräche er für mich unverständlich, da Geschlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe sind, außer sofern sie in einzelnen Wesen existieren. Gäbe ich diesem allgemeinen Begriff nun auch alle Vollkommenheiten der Humanität, Kultur und höchsten Aufklärung, die ein idealischer Begriff gestattet, so hätte ich zur wahren Geschichte unseres Geschlechts ebensoviel gesagt, als wenn ich von der Tierheit, der Steinheit, der Metallheit im allgemeinen spräche und sie mit den herrlichsten, aber in einzelnen Individuen einander widersprechenden Attributen auszierte. Auf diesem Wege der Averroischen Philosophie, nach der das ganze Menschengeschlecht nur eine, und zwar eine sehr niedrige Seele besitzt, die sich dem einzelnen Menschen nur teilweise mitteilt auf ihm soll unsere Philosophie der Geschichte nicht wandern. Schränkte ich aber gegenseits beim Menschen alles auf Individuen ein und leugnete die Kette ihres Zusammenhanges sowohl untereinander als mit dem Ganzen, so wäre mir abermals die Natur des Menschen und seine helle Geschichte entgegen; denn kein einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch worden. Das ganze Gebilde der Humanität in ihm hangt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, mit seinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umständen im Lauf seines Lebens, also mit seinem Volk und den Vätern desselben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geschlechts zusammen, das irgend in einem Gliede eine seiner Seelenkräfte berührte. So werden Völker zuletzt Familien, Familien gehen zu Stammvätern hinauf; der Strom der Geschichte engt sich bis zu seinem Quell, und der ganze Wohnplatz unserer Erde verwandelt sich endlich in ein Erziehungshaus unserer Familie, zwar mit vielen Abteilungen, Klassen und Kammern, aber doch nach einem Typus der Lektionen, der sich mit mancherlei Zusätzen und Verändrungen durch alle Geschlechter vom Urvater heraberbte. Trauen wir's nun dem eingeschränkten Verstande eines Lehrers zu, daß er die Abteilungen seiner Schüler nicht ohne Grund machte, und finden, daß das Menschengeschlecht auf der Erde allenthalben, und zwar den Bedürfnissen seiner Zeit und Wohnung gemäß, eine Art künstlicher Erziehung finde: welcher Verständige, der den Bau unserer Erde und das Verhältnis der Menschen zu ihm betrachtet, wird nicht vermuten, daß der Vater unseres Geschlechts, der bestimmt hat, wie lange und weit Nationen wohnen sollen, diese Bestimmung auch als Lehrer unseres Geschlechts gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Absicht des Werkmeisters in ihm leugnen? Und wer das künstliche Gebilde unserer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen können, daß nicht auch in Absicht der geistigen Erziehung die klimatische Diversität der vielartigen Menschen ein Zweck der Erdeschöpfung gewesen? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht alles ausmacht, indem lebendige, uns ähnliche Wesen dazu gehören, uns zu unterrichten, zu gewöhnen, zu bilden: mich dünkt, so gibt es eine Erziehung des Menschengeschlechts und eine Philosophie seiner Geschichte so gewiß, so wahr es eine Menschheit, d. i. eine Zusammenwirkung der Individuen, gibt, die uns allein zu Menschen machte.

 Sofort werden uns auch die Prinzipien dieser Philosophie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturgeschichte des Menschen selbst ist: sie heißen Tradition und organische Kräfte. Alle Erziehung kann nur durch Nachahmung und Übung, also durch Übergang des Vorbildes ins Nachbild, werden; und wie könnten wir dies besser als Überlieferung nennen? Der Nachahmende aber muß Kräfte haben, das Mitgeteilte und Mitteilbare aufzunehmen und es wie die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln. Von wem er also, was und wieviel er aufnehme, wie er's sich zueigne, nutze und anwende: das kann nur durch seine, des Aufnehmenden, Kräfte bestimmt werden; mithin wird die Erziehung unseres Geschlechts in zwiefachem Sinn genetisch und organisch: genetisch durch die Mitteilung, organisch durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgeteilten.

 


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