V.4. Das Reich der Menschenorganisation ist ein System geistiger Kräfte

 

3. Das hellere Bewußtsein, dieser große Vorzug der menschlichen Seele, ist derselben auf eine geistige Weise, und zwar durch die Humanität, allmählich erst zugebildet worden. Ein Kind hat noch wenig Bewußtsein, ob seine Seele gleich sich unablässig übt, zu demselben zu gelangen und sich seiner selbst durch alle Sinnen zu vergewissern. Alle sein Streben nach Begriffen hat den Zweck, sich in der Welt Gottes gleichsam zu besinnen und seines Daseins mit menschlicher Energie froh zu werden. Das Tier geht noch im dunkeln Traum umher: sein Bewußtsein ist in so viel Reize des Körpers verbreitet und von ihnen mächtig umhüllt, daß das helle Erwachen zu einer fortwirkenden Gedankenübung seiner Organisation nicht möglich war. Auch der Mensch ist sich seines sinnlichen Zustandes nur durch Sinne bewußt, und sobald diese leiden, ist's gar kein Wunder, daß ihn eine herrschende Idee auch aus seiner eignen Anerkennung hinreißen kann und er mit sich selbst ein trauriges oder fröhliches Drama spielt. Aber auch dies Hinreißen in ein Land lebhafter Ideen zeigt eine innere Energie, bei der sich die Kraft seines Bewußtseins, seiner Selbstbestimmung oft auf den irrigsten Wegen äußert. Nichts gewährt dem Menschen ein so eignes Gefühl seines Daseins als Erkenntnis; Erkenntnis einer Wahrheit, die wir selbst errungen haben, die unserer innersten Natur ist und bei der uns oft alle Sichtbarkeit schwindet. Der Mensch vergißt sich selbst: er verliert das Maß der Zeit und seiner sinnlichen Kräfte, wenn ihn ein hoher Gedanke aufruft und er denselben verfolgt Die scheußlichsten Qualen des Körpers haben durch eine einzige lebendige Idee unterdrückt werden können, die damals in der Seele herrschte. Menschen, die von einem Affekt, insonderheit von dem lebhaftesten, reinsten Affekt unter allen, der Liebe Gottes, ergriffen wurden, haben Leben und Tod nicht geachtet und sich in diesem Abgrunde aller Ideen wie im Himmel gefühlt. Das gemeinste Werk wird uns schwer, sobald es nur der Körper verrichtet; aber die Liebe macht uns das schwerste Geschäft leicht, sie gibt uns zur langwierigsten, entferntsten Bemühung Flügel. Räume und Zeiten verschwinden ihr sie ist immer auf ihrem Punkt, in ihrem eignen Ideenland. - Diese Natur des Geistes äußert sich auch bei den wildesten Völkern; gleichviel, wofür sie kämpfen, sie kämpfen im Drang der Ideen. Auch der Menschenfresser im Durst seiner Rache und Kühnheit strebt, wiewohl auf eine abscheuliche Art, nach dem Genuß eines Geistes.

4. Alle Zustände, Krankheiten und Eigenheiten des Organs also können uns nie irremachen, die Kraft, die in ihnen wirkt, primitiv zu fühlen. Das Gedächtnis z.B. ist nach der verschiednen Organisation der Menschen verschieden: bei diesen formt und erhält es sich durch Bilder, bei jenen durch Zeichen der Abstraktion, Worte oder gar Zahlen. In der Jugend, wenn das Gehirn weich ist, ist es lebhaft; im Alter, wenn sich das Gehirn härtet, wird es träge und hält an alten Ideen. So ist's mit den übrigen Kräften der Seele; welches alles nicht anders sein kann, sobald eine Kraft organisch wirkt. Bemerkt indes auch hier die Gesetze der Aufbewahrung und Erneurung der Ideen: sie sind allesamt nicht körperlich, sondern geistig. Es hat Menschen gegeben, die das Gedächtnis gewisser Jahre, ja gewisser Teile der Rede, der Namen, Substantiven, sogar einzelner Buchstaben und Merkzeichen verloren; das Gedächtnis der vorigen Jahre, die Erinnerung anderer Teile der Rede und der freie Gebrauch derselben blieb ihnen; die Seele war nur an dem einen Gliede gefesselt, da das Organ litt. Wäre der Zusammenhang ihrer geistigen Ideen materiell, so müßte sie, diesen Erscheinungen nach, entweder im Gehirn umherrücken und für gewisse Jahre, für Substantiven und Namen eigne Protokolle führen, oder sind die Ideen mit dem Gehirn verhärtet, so müßten sie alle verhärtet sein; und doch ist bei den Alten eben das Andenken der Jugend noch so lebhaft. Zu einer Zeit, da sie ihrem Organ gemäß nicht mehr rasch verbinden oder flüchtig durchdenken kann, hält sie sich desto fester an das erworbne Gut ihrer schönern Jahre, über das sie wie über ihr Eigenturn waltet.

Unmittelbar vor dem Tode und in allen Zuständen, da sie sich vom Körper weniger gefesselt fühlt, erwacht dies Andenken mit aller Lebhaftigkeit der Jugendfreude, und die Glückseligkeit der Alten, die Freude der Sterbenden beruht größtenteils darauf. Vom Anfange des Lebens an scheint unsere Seele nur ein Werk zu haben, inwendige Gestalt, Form der Humanität zu gewinnen und sich in ihr, wie der Körper in der seinigen, gesund und froh zu fühlen. Auf dies Werk arbeitet sie so unablässig und mit solcher Sympathie aller Kräfte, als der Körper nur immerdar für seine Gesundheit arbeiten kann, der, wenn ein Teil leidet, es sogleich ganz fühlt und Säfte anwendet, wie er sie kann, den Bruch zu ersetzen und die Wunde zu heilen.

Gleicherweise arbeitet die Seele auf ihre immer hinfällige und oft falsche Gesundheit, jetzt durch gute, jetzt durch trügliche Mittel sich zu beruhigen und fortzuwirken. Wunderbar ist die Kunst, die sie dabei anwendet und unermeßlich der Vorrat von Hülfs- und Heilmitteln, den sie sich zu verschaffen weiß. Wenn einst die Semiotik der Seele studiert wird wie die Semiotik des Körpers, wird man in allen Krankheiten derselben ihre so eigne geistige Natur erkennen, daß die Schlüsse der Materialisten wie Nebel vor der Sonne verschwinden werden. Ja, wer von diesem innern Leben seines Selbst überzeugt ist, dem werden alle äußern Zustände, in welchen sich der Körper, wie alle Materie, unablässig verändert, mit der Zeit nur Übergänge, die sein Wesen nicht angehn er schreitet aus dieser Welt in jene so unvermerkt, wie er aus Nacht in Tag und aus einem Lebensalter ins andere schreitet.

Jeden Tag hat uns der Schöpfer eine eigne Erfahrung gegeben, wie wenig alles in unserer Maschine von uns und voneinander unabtrennlich sei: es ist des Todes Bruder, der balsamische Schlaf. Er scheidet die wichtigsten Verrichtungen unseres Lebens mit dem Finger seiner sanften Berührung: Nerven und Muskeln ruhen, die sinnlichen Empfindungen hören auf, und dennoch denkt die Seele fort in ihrem eignen Lande. Sie ist nicht abgetrennter vom Körper, als sie wachend war, wie die dem Traum oft eingemischte Empfindungen beweisen; und dennoch wirkt sie nach eigenen Gesetzen auch im tiefsten Schlaf fort, von dessen Träumen wir keine Erinnerung haben, wenn nicht ein plötzliches Erwecken uns davon überzeugt. Mehrere Personen haben bemerkt, daß ihre Seele bei ruhigen Träumen sogar dieselbe Ideenreihe, unterschieden vom wachenden Zustande, unverrückt fortsetze und immer in einer, meistens jugendlichen, lebhaften und schönern Welt wandle. Die Empfindungen des Traums sind uns lebhafter, seine Affekten feuriger, die Verbindungen der Gedanken und Möglichkeiten in ihm werden leichter, unser Blick ist heiterer, das Licht, das uns umglänzt, ist schöner. Wenn wir gesund schlafen, wird unser Gang oft ein Flug, unsere Gestalt ist größer, unser Entschluß kräftiger, unsere Tätigkeit freier. Und obwohl dies alles vom Körper abhängt, weil jeder kleinste Zustand unserer Seele notwendig ihm harmonisch sein muß, solange ihre Kräfte ihm so innig einverleibt wirken, so zeigt doch die ganze gewiß sonderbare Erfahrung des Schlafes und Traums, die uns ins größte Erstaunen setzen würde, wenn wir nicht daran gewohnt wären, daß nicht jeder Teil unsers Körpers auf gleiche Art zu uns gehöre, ja daß gewisse Organe unserer Maschine abgespannet werden können und die oberste Kraft wirke aus bloßen Erinnerungen idealischer, lebhafter, freier. Da nun alle Ursachen, die uns den Schlaf bringen, und alle seine körperliche Symptome nicht bloß einer Redeart nach, sondern physiologisch und wirklich ein Analogon des Todes sind, warum sollten es nicht auch seine geistige Symptome sein? Und so bleibt uns, wenn uns der Todesschlaf aus Krankheit oder Mattigkeit befällt, Hoffnung, daß auch er, wie der Schlaf, nur das Fieber des Lebens kühle, die zu einförmig und lang fortgesetzte Bewegung sanft umlenke, manche für dies Leben unheilbaren Wunden heile und die Seele zu einem frohen Erwachen, zum Genuß eines neuen Jugendmorgens bereite. Wie im Traum meine Gedanken in die Jugend zurückkehren, wie ich in ihm, nur halb entfesselt von einigen Organen, aber zurückgedrängter in mich selbst, mich freier und tätiger fühle, so wirst auch du, erquickender Todestraum, die Jugend meines Lebens, die schönsten und kräftigsten Augenblicke meines Daseins mir schmeichelnd zurückführen, bis ich erwache in ihrem - oder vielmehr im schönern Bilde einer himmlischen Jugend.

 


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