IV.3. Der Mensch ist zu feinern Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisiert

 

Nahe dem Boden hatten alle Sinnen des Menschen nur einen kleinen Umfang, und die niedrigen drängten sich den edlern vor, wie das Beispiel der verwilderten Menschen zeigt. Geruch und Geschmack waren, wie bei dem Tier, ihre ziehenden Führer.

- Über die Erde und Kräuter erhoben, herrscht der Geruch nicht mehr, sondern das Auge; es hat ein weiteres Reich um sich und übt sich von Kindheit auf in der feinsten Geometrie der Linien und Farben. Das Ohr, unter den hervortretenden Schädel tief hinuntergesetzt, gelangt näher zur innern Kammer der Ideensammlung, da es bei dem Tier lauschend hinaufsteht und bei vielen auch seiner äußern Gestalt nach zugespitzt horcht.

Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf; denn durch ihn, die erste und schwerste Kunst, die ein Mensch lernt, wird er eingeweiht, alle zu lernen und gleichsam eine lebendige Kunst zu werden. Siehe das Tier! Es hat zum Teil schon Finger wie der Mensch; nur sind sie hier in einen Huf, dort in eine Klaue oder in ein ander Gebilde eingeschlossen und durch Schwielen verderbt. Durch die Bildung zum aufrechten Gange bekam der Mensch freie und künstliche Hände, Werkzeuge der feinsten Hantierungen und eines immerwährenden Tastens nach neuen klaren Ideen. Helvétius hat sofern recht, daß die Hand dem Menschen ein großes Hülfsmittel seiner Vernunft gewesen; denn was ist nicht schon der Rüssel dem Elefanten? Ja dieses zarte Gefühl der Hände ist in seinen Körper verbreitet, und bei verstümmelten Menschen haben die Zehen des Fußes oft Kunststücke geübt, die die Hand nicht üben konnte. Der kleine Daum, der große Zeh, die auch der Struktur ihrer Muskeln nach so besonders gebildet sind, ob sie uns gleich verachtete Glieder scheinen, sind uns die notwendigsten Kunstgehülfen zum Stehen, Gehen, Fassen und allen Verrichtungen der kunstarbeitenden Seele.

Man hat so oft gesagt, daß der Mensch wehrlos erschaffen worden und daß es einer seiner unterscheidenden Geschlechtscharaktere sei, nichts zu vermögen Es ist nicht also; er hat Waffen der Verteidigung wie alle Geschöpfe. Schon der Affe führt den Prügel und wehrt sich mit Sand und Steinen; er klettert und rettet sich vor den Schlangen, seinen ärgsten Feinden; er deckt Häuser ab und kann Menschen morden. Das wilde Mädchen zu Songi schlug ihre Mitschwester mit der Keule vor den Kopf und ersetzte mit Klettern und Laufen, was ihr an Stärke abging. Also auch der verwilderte Mensch ist seiner Organisation nach nicht ohne Verteidigung; und aufgerichtet, kultiviert - welch Tier hat das vielarmige Werkzeug der Kunst, was er in seinem Arm, in seiner Hand, in der Geschlankigkeit seines Leibes, in allen seinen Kräften besitzt? Kunst ist das stärkste Gewehr, und er ist ganz Kunst, ganz und gar organisierte Waffe. Nur zum Angriff fehlen ihm Klauen und Zähne; denn er sollte ein friedliches, sanftmütiges Geschöpf sein; zum Menschenfressen ist er nicht gebildet.

Welche Tiefen von Kunstgefühl liegen in einem jeden Menschensinn verborgen, die hie und da meistens nur Not, Mangel, Krankheit, das Fehlen eines andern Sinnes, Mißgeburt oder ein Zufall entdeckt und die uns ahnen lassen, was für andere, für diese Welt unaufgeschlossene Sinne in uns liegen mögen. Wenn einige Blinde das Gefühl, das Gehör, die zählende Vernunft, das Gedächtnis bis zu einem Grad erheben konnten, der Menschen von gewöhnlichen Sinnen fabelhaft dünkt, so mögen unentdeckte Welten der Mannigfaltigkeit und Feinheit auch in andern Sinnen ruhen, die wir in unserer vielorganisierten Maschine nur nicht entwickeln. Das Auge, das Ohr! Zu welchen Feinheiten ist der Mensch schon durch sie gelangt und wird in einem höhern Zustande gewiß weiter gelangen, da, wie Berkeley sagt, das Licht eine Sprache Gottes ist, die unser feinster Sinn in tausend Gestalten und Farben unablässig nur buchstabiert. Der Wohllaut, den das menschliche Ohr empfindet und den die Kunst nur entwickelt, ist die feinste Meßkunst, die die Seele durch den Sinn dunkel ausübt, so wie sie durchs Auge, indem der Lichtstrahl auf ihm spielt, die feinste Geometrie beweist. Unendlich werden wir uns wundern, wenn wir, in unserm Dasein einen Schritt weiter, alle das mit klarem Blick sehn, was wir in unserer vielorganisierten göttlichen Maschine mit Sinne und Kräften dunkel übten und in welchem sich seiner Organisation gemäß das Tier schon vorzuüben scheint.

Indessen wären alle diese Kunstwerkzeuge, Gehirn, Sinne und Hand, auch in der aufrechten Gestalt unwirksam geblieben, wenn uns der Schöpfer nicht eine Triebfeder gegeben hätte, die sie alle in Bewegung setzte: es war das göttliche Geschenk der Rede. Nur durch die Rede wird die schlummernde Vernunft erweckt, oder vielmehr die nackte Fähigkeit, die durch sich selbst ewig tot geblieben wäre, wird durch die Sprache lebendige Kraft und Wirkung. Nur durch die Rede wird Auge und Ohr, ja das Gefühl aller Sinne eins und vereinigt sich durch sie zum schaffenden Gedanken, dem das Kunstwerk der Hände und anderer Glieder nur gehorcht. Das Beispiel der Taub- und Stummgebornen zeigt, wie wenig der Mensch auch mitten unter Menschen ohne Sprache zu Ideen der Vernunft gelange und in welcher tierischen Wildheit alle seine Triebe bleiben. Er ahmt nach, was sein Auge sieht, Gutes und Böses; und er ahmt es schlechter als der Affe nach, weil das innere Kriterium der Unterscheidung, ja selbst die Sympathie mit seinem Geschlecht ihm fehlt. Man hat Beispiele30, daß ein Taub- und Stummgeborner seinen Bruder mordete, da er ein Schwein morden sah, und wühlte, bloß der Nachahmung wegen, mit kalter Freude in den Eingeweiden desselben: schrecklicher Beweis, wie wenig die gepriesne menschliche Vernunft und das Gefühl unserer Gattung durch sich selbst vermöge. Man kann und muß also die feinen Sprachwerkzeuge als das Steuerruder unserer Vernunft und die Rede als den Himmelsfunken ansehen, der unsere Sinnen und Gedanken allmählich in Flammen brachte.

 


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