Leidenschaft

Leidenschaft (pathos, passio) ist ein dauerndes und heftiges (habituelles) Begehren, die starke Disposition, Bereitschaft zu Begierden, Trieben bestimmter Art, die auf Befriedigung warten und das Vorstellungsleben einseitig beherrschen, lenken. Insofern die Leidenschaften unbekümmert um schädliche Folgen, wider die Vernunft den Willen determinieren können, sind sie »blind«.

In der älteren Philosophie wird die Leidenschaft nicht genauer vom Affekt (s. d.) unterschieden. Die Stoiker fordern vom Weisen Freisein von Leidenschaften (s. Apathie). AUGUSTINUS verlangt nur Beherrschung der Leidenschaften (De genes. 20; De civ. Dei XIV, 6). So auch SPINOZA (s. Affect). Nach LEIBNIZ sind die »passions« »tendances ou plutôt modifications de la tendance qui viennent de l'opinion ou du sentiment et qui sont accompagnés de plaisir ou de déplaisir« (Nouv. Ess. II, ch. 20). Nach CHR. WOLF ist »Leidenschaft« »eine Veränderung, davon der Grund in einer andern Sache, als die verändert wird, anzutreffen« (Vern. Ged. I, § 104). Nach CONDILLAC ist »passion« »un désir qui ne permet pas d'en avoir d'autres, ou qui du moins est le plus dominant« (Trait. d. sens. I, ch. 3, § 3) HELVETIUS erklärt: »Les passions sont dans le moral ce que dans le physique est le mouvement« (De l'esprit III, 4).

Erst KANT scheidet Leidenschaft und Affekt. Leidenschaft ist zur bleibenden Neigung gewordene Begierde (WW. IX, 257), eine »Neigung, die die Herrschaft über sich selbst ausschließt« (Relig. S. 28). Leidenschaften sind »Neigungen, welche alle Bestimmbarkeit der Willkür durch Grundsätze erschweren oder unmöglich machen« (Krit. d. Urt. I, § 29). »Die Neigung, durch welche die Vernunft gehindert wird, sie, in Ansehung einer gewissen Wahl, mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen, ist die Leidenschaft« (Anthropol. I, § 78). Die Leidenschaften zerfallen in solche »der natürlichen (angeborenen) und die der aus der Kultur des Menschen hervorgehenden (erworbenen) Neigung« (ib.). Leidenschaft ist »die durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung« (l.c. § 71). »Wo viel Affekt ist, da ist gemeiniglich wenig Leidenschaft« (l.c. § 72). G. E. SCHULZE erklärt: »Die aus öfterer Befriedigung oder Gewohnheit entspringende große Stärke der Begierden wird Leidenschaft genannt« (Psych. Anthropol.2, S. 426 f.; vgl. 374). Nach PLATNER ist die Leidenschaft »die durch öftere Wiederholungen der Sehnsucht zur leidentlichen Fertigkeit gewordene Belebung der Idee« (Philos. Aphor. II, § 458; Anthropol. § 1414). Ähnlich FRIES (Anthropol. I. § 64, 69), F. A. CARUS (Psychol. I, 306), E. REINHOLD (Lehrb. d. philos. propäd. Psychol. S. 269 f.), FEUCHTERSLEBEN (Lehrb. d. ärztl. Seelenkunde 1845, § 47), NÜSSLEIN (Grundr. d. allgem. Psychol. § 476 ff.), LINDEMANN (Lehre vom Mensch. § 434) u. a. Nach SUABEDISSEN ist die Leidenschaft eine Neigung, wenn diese »so mächtig im Menschen ist, daß er sich in ihrer Befriedigung nur mit Mühe mäßigen kann«, wenn sie den Menschen »vor allen andern Neigungen beherrscht« (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 225). Der Affekt ist ein Gefühl, welches die Seele so einnimmt, daß der Mensch die Selbstmacht ganz oder beinahe verliert (l.c. S. 224). »Der Affekt ist schnell vorübergehend, die Leidenschaft ist dauernd; jener setzt den Menschen außer sich, diese beschränkt seine Selbstmacht in der Richtung zu ihrem Ziele« (l.c. S. 227). Nach C. G. CARUS ist die Leidenschaft ein »heftiges und anhaltendes Begehren, den Zustand eines gewissen Affektes immer wieder herbeizuführen« (Vorles. S. 379). Nach MAASS ist die Leidenschaft eine starke sinnliche Begierde (Üb. d. Leidensch.); es gibt objektive und subjektive Leidenschaften (l.c. II, 20). Ähnliche Definitionen der Leidenschaft bei HOFFBAUER (Psychol.2, S. 353), HAGEMANN (Psychol. S. 94) u. a.

Nach HEGEL ist die Leidenschaft »die Subjektive, insofern formelle Seite der Energie, des Willens und der Tätigkeit« (Philos. d. Gesch. S. 28). Leidenschaft ist der Wille, »insofern die Totalität des praktischen Geistes sich in eine einzelne der mit dem Gegensatze überhaupt gesetzten vielen beschränkten Bestimmungen legt« (Encyl. § 473). »Die Leidenschaft enthält in ihrer Bestimmung, daß sie auf eine Besonderheit der Willensbestimmung beschränkt ist, in welche sich die ganze Subjektivität des Individuums versenkt, der Gehalt jener Bestimmung mag sonst sein, welcher er will. Um dieses Formellen willen aber ist die Leidenschaft weder gut noch böse; diese Form drückt nur dies aus, daß ein Subjekt das ganze lebendige Interesse seines Geistes, Talents, Charakters, Genusses in einen Inhalt gelegt habe. Es ist nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden, noch kann es ohne solche vollbracht werden« (l.c. § 474). Ähnlich MICHELET (Anthropol. S. 488), DAUB (Vorles. üb. philos. Anthropol. § 61 ff.), K. ROSENKRANZ: »Das Verschwinden des Subjektes in den Abgrund einer einzigen Bestimmung ist die Größe der Leidenschaft« (Psychol.3, S. 437). In der Leidenschaft ist das Subjekt dem Inhalt des Gefühls ganz unterworfen (l.c. S. 434). - Nach SCHOPENHAUER sind die Leidenschaften »das heftige Verfolgen eingebildeter Genüsse« (Neue Paralipom. § 129).

Nach HERBART sind Leidenschaften »Dispositionen zu Begierden, welche in der ganzen Verwebung der Vorstellungen ihren Sitz haben« (Psychol. als Wiss. II, § 107). Jede Begierde kann Leidenschaft werden. »Sie wird es, indem sie zu einer Herrschaft gelangt, wodurch die praktische Überlegung aus ihrer Richtung kommt. Das Vernünfteln ist das eigentliche Kennzeichen der Leidenschaften« (Lehrb. zur Psychol.3, S. 81). Ähnlich definiert G. SCHILLING (Lehrb. d. Psychol. § 62): Leidenschaften sind »dauernde Dispositionen zu bestimmten Begehrungen, die bei vorkommender Gelegenheit unausbleiblich hervorbrechen und mit überwiegender Gewalt zu Handlungen führen, wie sehr auch die Umstände und ruhige Überlegung gegen ein solches Begehren und Handeln sprechen mögen«. Nach NAHLOWSKY ist die Leidenschaft »eine fixierte und vorwiegende Disposition zu einer bestimmten Art von Begehren, welches der Leitung durch die Vernunft widerstrebt, vielmehr selber den Gedankenlauf und die Gefühlsrichtung des Individuums beherrscht« (Das Gefühlsleb. S. 263). Nach G. A. LINDNER ist die Leidenschaft »eine Begierde, die so stark geworden ist, daß sie sich nicht mehr apperzipieren läßt, sondern selbst als oberste apperzipierende Vorstellungsmasse das Bewußtsein beherrscht«, »die herrschend gewordene Begierde« (Lehrb. d. empir. Psychol.9, S. 204 ff.). - Nach WAITZ unterscheidet sich die Leidenschaft vom Affekt besonders durch ihre Dauer (Lehrb. d. Psychol. S. 486). VOLKMANN erklärt: »Positive Unfreiheit als bleibende Eigentümlichkeit des Subjektes ist Leidenschaft« »Das Wesen der Leidenschaft besteht darin, daß bezüglich einer Klasse von Vorstellungen die Maxime zwar vernommen, das Wollen aber gegen die Maxime entschieden wird« (Lehrb. d. Psychol. II4, 509). - Nach BENEKE ist die Leidenschaft ein »Gesamtgebilde (Aggregat) von Angelegtheiten für Lustempfindungen (Schätzungen) und für Begehrungen« mit großer Vielfachheit der »Spuren« (s. d.), infolge deren »sie sich stets in einer Art von Halbbewußtsein behauptet, stets gleichsam auf dem Sprunge steht, zur vollständigen Erregtheit zu gelangen, sobald nur die Seele frei ist von anderen Entwicklungen« (Lehrb. d. Psychol.3, § 175, vgl. § 187, 188). Nach J. H. FICHTE ist die Leidenschaft ein »starker und dauernder Affect, begleitet von ebenso starker und dauernder Willenserregung« (Psychol. II, 139). KIRCHMANN erklärt: »Die Affekte entspringen aus sehr starken äußern Ursachen der Gefühle; die Leidenschaft beruht auf der dauernden Empfänglichkeit für gewisse Arten der Lust« (Grundbegr. d. Rechts u. d. Mor. S. 42). - Den Wert der Leidenschaften für das Leben betont E. DÜHRING (Wert d. Leb.3, S. 68 ff.).

Nach TH. ZIEGLER ist das Wesentliche der Leidenschaft »die dauernde Vorherrschaft einer einzelnen Neigung und die Beherrschung des ganzen Gedankenganges und Vorstellungsverlaufes durch ein Begehren in einseitiger Richtung« (Das Gef.2, S. 302). Nach WUNDT sind die Leidenschaften psychologisch nicht von den Affekten (s. d.) zu trennen (Gr. d. Psychol.5, S. 209). Nach H. HÖFFDING ist der Affekt »ein plötzliches Aufbrausen des Gefühls..., welches das Gemüt eine Weile überwältigt und die freie und natürliche Verbindung der Erkenntniselemente hemmt«. Die Leidenschaft ist hingegen »die zur Natur gewordene, durch Gewohnheit eingewurzelte Bewegung des Gefühls. Was der Affekt im einzelnen Moment ist, mit gewaltiger, expansiver Bewegung, das ist die Leidenschaft in der Tiefe des Gemüts als eine ersparte Summe von Kraft, die zur Verwendung bereit liegt« (Psychol.2, S. 392). Nach JODL ist die Leidenschaft eine Willensgewohnheit, eine Disposition, deren Gefühle sich im Falle der Befriedigung zum Affekt steigern (Lehrb. d. Psychol. S. 700). Nach KREIBIG sind die Leidenschaften »dispositionelle Seelenzustände, bei welchen eine relativ eng umschriebene Gruppe von Vorstellungen vermöge ihres starken Gefühlswertes eine herrschende Rolle einnimmt und auf das Handeln eine einseitig übermächtige Wirkung ausübt« (Werttheor. S. 42). Affekte dagegen sind »actuelle, an assoziativ konzentrierte Bewußtseinsinhalte anknüpfende Gefühlszustände, welche in einer ungewöhnlichen Erregung oder Lähmung unseres ganzen Selenlebens und regelmäßig auch in äußerlich wahrnehmbaren Begleiterscheinungen Ausdruck finden« (l.c. S. 41); sie sind Steigerungsformen der Gefühle (ib.). Nach F. MACH entsteht die Leidenschaft »dadurch, daß ein bestimmter Wollenskreis, indem er sich von den übrigen absondert, zur Neigung wird und sich schließlich zu einem Wollen auswächst, das sich dem Verbote der sittlichen Maxime gegenüber mit Hartnäckigkeit behauptet« (Religions- und Weltprobl. II, 1308). Vgl. Affekt.


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