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Ein Lebenszeichen

Ein Lebenszeichen gibt jener Soldatenvater Erzherzog Josef, der Gatte der lästigen Soldatenmatrone Augusta, welcher »sein Bestes eingesetzt hat«, nämlich Maschinengewehre in den Rücken seiner halbtoten Mannschaft, um sie halt zum Halten unhaltbarer Stellungen zu bewegen, seiner Soldaten, denen er selbst das Zeugnis ausstellt, daß viele unter ihnen schließlich »aus vollster Erschöpfung Selbstmord begingen«. Der tatenreiche Boroevic, eine Kapazität im Aufopferungsfache, rühmt es ihm nach. »Es mangelt ihm keineswegs an Energie. Wenn er als ein Mitglied der a.h. Dynastie das Odium auf sich nimmt, Truppen durch Maschinengewehrfeuer am Weichen zu verhindern ... so glaube ich, daß es nicht an ihm liegt, wenn Teile des Korps versagen.« Nicht das Mitglied der aha-Dynastie war also Schuld an dem Rückzug, sondern das Korps, und diese Aussage eines hervorragenden Sachverständigen für Menschenmaterial hat es jenem ermöglicht, bis zum Endsieg Soldatenvater zu bleiben, also auf einem Posten auszuharren, den er nicht durch den Gebrauch, sondern nur durch die Wirkungslosigkeit der Maschinengewehre verloren hätte. In der Aufzählung der mildernden Umstände für das Verhalten der Truppe, deren geringer »Kampfwert« immer offenkundiger wurde, hat der Fachmann einen lapidaren Satz, den die Klio in ihr Gedenkbuch kriegslustiger Staaten eintragen dürfte: »Die vorgekommenen Erfrierungen Schlafender erzeugen Furcht vor dem Einschlafen«. Denn ohne Lagerfeuer, ohne Stroh, in kahlen Gräbern sind die Schützlinge des Soldatenvaters gelegen, ehe er sich entschloß, ihnen durch Maschinengewehrfeuer ein wenig einzuheizen, nachdem offenbar auch der Zuspruch der Feldgeistlichkeit seine wärmende Wirkung verfehlt hatte. Doch selbst der Tod, den der geliebte Kommandant in ihre Reihen sandte, hatte keine belebende Kraft mehr, und der Soldatenvater sah sich zum strategischen Rückzug genötigt, da es nun auch den Sachverständigen einleuchten mußte, daß das »schwächliche Korps«, wie es diese Bestien nannten, ja doch nicht mehr imstande war, seine Stellung und vollends die seines Generals zu halten. Es war der galizische Winter, in dem die Kommanden häufig keine telephonische Antwort aus den vordersten Linien bekamen, wo alles ruhig war und später die stehenden Leichen erfrorener Soldaten, Mann neben Mann, das Gewehr im Anschlag, aufgefunden wurden. Den übrigen blieb noch die Wahl zwischen anderen Heldentoden übrig. Vor ihnen der Feind, hinter ihnen das Vaterland und über ihnen die ewigen Sterne. Wir schliefen in Betten. Wo mußten diese unglücklichsten aller Märtyrer, die je dem Antichrist geopfert wurden, wo mußten sie, wenn nicht schon Todesangst und Körperqual sie in die Gefangenschaft des Irrsinns trieb, den »Feind« erkennen: in ihm, der keineswegs darauf bestand, sie zum Halten ihrer Stellungen zu bewegen, oder hinterrücks in jenem Vaterland, das sie beim ersten Schritt als Mördergrube empfing? In diesem vielfachen Zwang der Heldentode, dem durch die Natur, dem durch die Munition, dem fürs Vaterland, dem durchs Vaterland, haben sie Selbstmord gewählt. Wir lasen den Bericht und gingen in unsere Betten. Aber die frosterstarrten Leichname in den galizischen Schützengräben, Mann neben Mann, das Gewehr im Anschlag, standen als die Protagonisten Habsburgischen Totlebens. Welch eine Kapuzinergruft! Schließt die Augen vor dem Bild, damit jene auf Lorbeerreisern ruhen können! Diese Gut- und Blutegel haben an uns Menschheit gesogen, und wir glaubten, das müsse so sein. Unser Tod war ihr Lebenszeichen. Aber wenn sie im Hinterland praßten, so war’s ein Streich von Lemuren. Alles war unwirklich.

Lebt denn die Gestalt dieses Schwiegersohnes, der, schnurstracks vom Roten Kreuz, am Abend des Tages, an dem die Russen Czernowitz zum drittenmal genommen haben, sich samt Anhang vom Wolf in Gersthof das Lied ins Ohr singen läßt: »Draußen im Schönbrunner Park sitzt ein guater alter Herr, hat das Herz von Sorgen schwer«? Der Schwiegersohn! Und lebt dieser jugendliche Feschak, der in der Kärntnerstraße den Hofwagen halten läßt, weil er — Serwas Fritzl! — einen Operettentenor gesehn hat, der wie’s Kind im Erzhaus ist? Der einzige von ihnen allen, der im Feld eine Wunde empfing, indem er im Siegesrausch sich eine Beule schlug. Der in den Kriegswintern »mullattierend« — furchtbarstes Zeitwort von jenem militärischen Hauptwort »Mullatschak« — im Ausseer Sommer in Judenfrozzeleien die Frohnatur auslebt. Ist es nicht nur eine Fortsetzung der Tradition jener doch bessern Tage, da die Vindobona noch beim Ballett und nicht beim Kabarett war, da man mit Fiakern Bruderschaft trank und über Leichen nicht schritt, nur galoppierte? Und, Hand aufs Herz, konnte aus dem mit Muskete-Bildern tapezierten Arbeitszimmer eines Thronfolgers, und wäre er noch so gutartig veranlagt, ein Licht in unser Dunkel dringen? Der einzige unter ihnen, den ein Herrenmaß vom Niveau der Grüßer, Drahrer und Walzertraumdeuter schied, dem die Wartezeit neben der unsterblichen Nullität das jähe Blut ins Stocken brachte und dessen schwarzgelbe Drohung nur die der Galle war vor diesem Unwesen von Wurschtigkeit und Hamur, ist gestorben, nachdem er den Weltkrieg, der um seinetwillen ausbrach, verhindert hatte. Dem Wilhelm abgeschlagen hatte. Das deutsch-ungarische Pathos wußte genau, was es an ihm verlor; und der Wiener Schmerz nicht minder. So stark war diese Ohnmacht im Wünschen, daß ihr alles glückte, der Krieg und sein Grund; und nie größer im Lügen als nun, da ein Reich die Stirn des Grames hatte, sich in sie zu falten und mit einem heitern, einem nassen Auge den Hingang des Mannes zu beklagen, der wohl darnach geartet schien, uns mit der Lebenslust auch ihren Aussatz zu nehmen. Da aber die Wartezeit einer verspäteten Herrschernatur nicht Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte zurückreicht, so gibt die Stärke der Härte nach, der Abstand erlebt sich in Geiz und Grausamkeit und solchen Zügen, die dem leutseligen Klatsch eines dauernd herabgelassenen Hofes greifbar sind. Er war das verhaßte Hindernis des Stillstands und mußte sich einer Gesellschaft, die nur frei war, weil sie nicht mehr wert war, geführt zu werden, als Unhold alles Rückschritts offenbaren, dem hinterdrein auch die Brandtat mediokrer Spieler zu Gesichte stand. In Wahrheit hat es der Gemütlichkeit nicht genügt, erlöst zu sein. Zur Erhaltung der Gemütlichkeit hat’s Krieg gegeben. Aber daß sie auch den leidenden Völkern nicht ausgehen wollte, war das Wunder. Es überstieg nicht die Maße aller uns zugemuteten Kriegsgeduld, daß eine dieser unsere Ehrfurcht herausfordernden Individualitäten, die das Subjekt eines Strafparagraphen waren und nie das Objekt eines solchen sein konnten, daß der Generalinspektor der Artillerie im Treubund mit einem Champagneragenten ein Millionen-Liefergeschäft entriert hatte, welches zur Aushungerung der Front wesentlich beitrug und, solange die Volkshymne keinen andern Text bekommt, zu einer Verwechslung von Lorbeerreisern und Dörrgemüse führen wird. Gott erhalte, Gott beschütze vor der Sippe unser Land! Nein, eure Liebden waren die unsern nicht. Wie, es gibt Menschen, deren Herz nichts Schöneres zu tun hat, als nach ihrer Wiederkehr zu schlagen? Aber wenngleich solche die Monarchie für eine praktische Einrichtung halten und die majestätsbeleidigenden Eigenschaften einer regierenden Familie für nebensächlich und für ein Erbteil aller Dynastien, so werden sie doch nicht leugnen, daß die Evidenz und Aufdringlichkeit dieser Eigenschaften, die Entartung in den Erlaubnissen einer gelockerten Zeit, die Skandal-, ja Kriminalreife höchster Vorbilder, und würde dies alles noch nicht die Absetzung empfehlen, doch keineswegs die Berufung dringlich macht. Man kann ein Preistreiber in Konserven sein, wie dieser Artillerieinspektor, man kann an Holz dick verdienen wie jener Marschall Bumsti, aber man muß bei Abwicklung der Geschäfte nicht gerade dem Wucherparagraphen entzogen und vom Ehrfurchtsparagraphen unterstützt sein, und wenn solche Privilegien, die zum Neid der Branchen bestanden hatten, einmal abgeschafft sind, so ist es ganz gewiß nicht nötig, sie wiederherzustellen. Nein, die Hoffnung auf diese Revenants wollen wir in das Reich des Aberglaubens verweisen. Eine »Restauration« der Monarchie — die Vorstellungen, die sich für den Wiener an dieses Fremdwort knüpfen, würde sie keineswegs erfüllen, wiewohl die Monarchie hierzulande, in allen ihren kulturellen Auslagen und Niederlagen, nie etwas anderes war als das größte Etablissement der Monarchie, und die Identität der Kaiser und Kaffeesieder bis auf die Manifeste eines Jubiläums, einer Erweiterung und einer Abdankung zu den Herzen sprach. Aber die offenbar zeitgebotene Verbindung von Kapuzinergruft und Nachtkaffee, die Melange von spanischem Zeremoniell und Budapester Orpheum müßte gerade den grundsätzlichen Monarchisten unerwünscht sein, und so wird ihnen nichts übrigbleiben, als einem Ideal, den Royalisten der Bars und Salonkapellen jedoch, einem Andenken nachzutrauern. Wer hätte sich nicht ein Ekelgefühl vor der spezifischen Kaisertreue bewahrt, die unlösbar mit der dunstigen Vorstellung eines Animierlokals verknüpft bleibt, wo es plötzlich allerhöchst hergeht, zwischen den Gassenhauern der Liebe das Vaterland in seine Rechte tritt und die nur hier denkbare Schmach ehrfürchtig gestimmter Defraudanten, Büfettdamen, Lebemänner und Würzen aller Grade sich von den Sitzen erhebt unter Assistenz flaschenfertiger Kellner, des Garderobepersonals und last not least der Toilettefrau. Diese tiefen Zusammenhänge mögen unausrottbar sein und der nervenstarken Republik zum Trotz noch über eine Silvesterstimmung hinaus demonstriert werden. Sie können nur den Rückschluß fordern, daß es im Erzhaus wie im »Tabarin« zugegangen sei, und die Hoffnung, daß auch diesem Nachtleben die Sperrstunde geschlagen habe.

Sie alle wußten es, von den Dächern pfiffen es die Praterspatzen, d’Geigerbuam im siebenten Himmel tönten es: daß ein Kretin der Marschall unseres Verhängnisses war; Minister trugen es in Anekdoten von der Tafel ins Kaffeehaus und der Hof- und Staatswitz übte sich an der Erkenntnis, wie es denn überhaupt die Note dieses Österreich war — das einzige nebst der angestammten Dynastie einigende Band des Staatsbewußtseins —, die allerhöchsten geistigen und sittlichen Defekte spaßhaft zu finden, den Staat für zerfallsreif zu erklären, alle Beamten vom Nebenzimmer angefangen für Trottel und Schurken, und in der jeweiligen Camera caritatis eben das auszusprechen, wofür sie die andern aufgehängt haben. Die entgegenkommenden Funktionäre Österreichs kamen mit dieser Ansicht uns und der historischen Entwicklung entgegen. Ein Würdenträger des deutschen Zentralstaates fragte mich einmal: »No was glauben S’, wem uns die Tschechen herausreißen?« Es war an dem Tag, an dem im Generalstabsbericht die Meldung, daß die in italienischen Gräben vorgefundenen tschecho-slowakischen Legionäre »ihrem verdienten Schicksal zugeführt wurden«, mit dem schuftigen Rufzeichen versehen war, das wie ein Galgen der deutschen Ehre aus diesem Blut- und Preßquartier aufragte. Jene Frage und dieser Ruf und die Gleichzeitigkeit beider Gemütslagen: in all dem war das österreichische Antlitz, das wie geschaffen war, Sonntagsfeuilletonisten freundlich anzumuten. Denn das österreichische Antlitz ist kein anderes als das des Wiener Henkers, der auf einer Ansichtskarte, die den toten Battisti zeigt, seine Tatzen über dem Haupt des Hingerichteten hält, ein triumphierender Ölgötze der befriedigten Gemütlichkeit, während sich grinsende Gesichter von Zivilisten und solchen, deren einziger Besitz die Ehre ist, dicht um den Leichnam drängen, damit sie nur ja alle auf die Ansichtskarte kommen. Sie wurde wirklich und wahrhaftig, von Amts wegen, hergestellt, am Tatort wurde sie verbreitet, im Hinterland zeigten sie »Vertraute« Intimen, und jetzt ist sie als ein Gruppenbild des k.k. Menschentums in den Schaufenstern aller feindlichen Städte, umgewertet zum Skalp der Wiener Kultur, ein Denkmal des Galgenhumors unserer Henker. Es war vielleicht seit Erschaffung der Welt zum erstenmal der Fall, daß der Teufel Pfui Teufel! rief. Es bildeten sich Gruppen, um nicht nur bei einer der viehischesten Hinrichtungen dabei zu sein, sondern auch zu bleiben, und alle machten ein freundliches Gesicht. Dieses, das österreichische, ist auch auf einer andern Ansichtskarte, der unter vielen ähnlichen eine nicht geringere kulturhistorische Bedeutung zukommt, vertreten, in zahlreichen Soldatentypen, die zwischen einer hängenden polnischen Gräfin und ihrer hängenden Kammerzofe Schulter an Schulter die Hälse recken, um nur ja ins Dokument aufgenommen zu werden. Gott weiß, für welche satanische Blähung eines Generals, den vielleicht ein Zwischenfall beim Sautanz zu einer furiosen Aufarbeitung von »Wird vollzogen« gestimmt hatte, die beiden unglücklichen Frauen gestorben sein mögen. Das österreichische Antlitz lächelte und greinte je nach Wetter; aber Medusa bedeutet sowohl eine mythologische Schönheit wie eine Qualle, und dieser Gorgonenblick hatte wohl nicht die Kraft, was er ansah in Stein zu verwandeln, wohl aber in Blut oder in Dreck. Das österreichische Antlitz, mit dem zugekniffenen linken Auge, hat man in den letzten Jahren Schulter an Schulter neben einem mehr martialischen Gesicht so oft in den Schaufenstern gesehen, daß es wohl vierzig Friedensjahre brauchen wird, um die Erinnerung loszuwerden. Was mich anlangt, ich konnte den Photographen um so leichter entbehren, als ich die fatale Fähigkeit besaß, das österreichische Antlitz auf Schritt und Tritt, in jeder halbschlächtigen Handlung, in jeder mißratenen Lebensäußerung, in jeder luschen Andeutung zu erkennen, und wenn ich Gesichter brauchte, so waren sie mir zum Hineingreifen nah. Einmal, auf einem Bahnhofe bei Wien, habe ich das österreichische Antlitz an einem Kassenschalter gesehen. Der war vorher zwei Stunden lang herabgelassen, eine fünfhundertköpfige Schafsherde von Wienern stand geduldig, es waren nur noch zehn Minuten bis zum Eintreffen des Zuges, der die einstündige Verspätung wahrscheinlich hoffentlich hereingebracht haben dürfte. Nichts rührte sich, bis ich mit meinem Stock eine Anregung gab. Da ging der Schalter in die Höhe und ein Gesicht von außerordentlicher Unterernährtheit zeigte sich, wie ich es in der Sättigung eines teuflischen Behagens noch nie geschaut habe, und ein dürrer Finger, der hin- und herfahrend dem Leben alle Hoffnung vor diesem Höllentor nahm, ward sichtbar, und ich weiß nicht mehr, war es Finger oder Blick oder wirklich eine Stimme, die da rief — ich hörte die Worte: »Wird kane Koaten ausgeben! Wird kane Koaten ausgeben!« Es war der Auftakt zur österreichischen Revolution: die Wiener begannen zu toben, es bildeten sich Gruppen, ein Eingeweihter gab seine Bereitwilligkeit kund, alle durch ein Hintertürl auf den Perron zu führen. Das geschah, der Zug kam, war so übervoll, daß es auf die Fünfhundert auch nicht mehr ankam, sie fuhren ohne Koaten, und aus dem Gemenge ächzender Menschenleiber unterschied ich nur die Stimmen zweier Revolutionäre: »Vurn is leer, und mir hat der Kondukteur befohlen, hinten einizusteigen« und: »Mir hat er befohlen, vurn einizusteigen, so hab ich halt denkt, hinten wirds leer sein.« Ich sah kein Antlitz, aber es war das österreichische. Und immer werde ich den Finger sehn vor allem was im Leben unerreichbar ist und dann schließlich doch geht. Das österreichische Antlitz aber wirkt gerade in der Unsichtbarkeit. Seh’ ich es nicht im Raufhandel eines Wiener Telephongesprächs, wenn sie, die ich nicht sehe, mir sagt: »Ja, mir haben Sie die Nummer nicht gesagt«? Ist es nicht in den Automaten, deren Funktion damit erschöpft ist, ganz von selbst Geldstücke einzunehmen? In diesen Taxametern, denen schon alles wurscht ist, weil der Kutscher, wenn er, nämlich der Taxameter, einmal funktioniert, ihn eh zudeckt? War es nicht in der ganzen Gangart, dem physischen und seelischen Trott und Getorkel eines von solchem Staat erzogenen Volkes, in dem Anspruch, durch die eigene Wegfreiheit sie dem nächsten zu nehmen, in der Habeas-corpus-Akte der leiblichen Selbstbehauptung und Belästigung des Nachbarn, in der Verabredung, sich selbst das Leben so leicht als möglich, und dem andern so schwer als nur denkbar zu machen? In einem Verkehr, der nichts anderes war als sein Hindernis. In einem Verhältnis zum Recht, das in der Erwartung der Ausnahme, in einer Beziehung zur Amtlichkeit, die in der Furcht vor »Scherereien« bekundet war. In einer Geschäftsmoral zwischen Handeln und Würzen. In den vereinfachten Formen einer durch artilleristische Überlegenheit geschwächten Nationalökonomie: einem Notenumlauf, bewirkt durch den Hochdruck einer Staatsraison, der für jede Maßnahme die ethische Bedeckung fehlte, und einem Warenaustausch, der immer mehr durch Diebstahl bewerkstelligt wurde und schließlich dem Aufgeben eines Pakets am Postschalter den Charakter eines Verzichts gab. Nur der wachsenden Not war es zu danken, daß es am Ende nicht mehr so viele Dinge gab, als gestohlen wurden; gleichwohl wäre auch die raffinierteste Phantasie nicht imstande gewesen, sich alles das vorzustellen, was einem in diesem Reich, von ihm selbst abgesehen, gestohlen werden konnte. Gesandten wurden die Pässe nach der Kriegserklärung nicht zurückgegeben, sondern gestohlen, und dann erst nicht zurückgegeben. Im Kriege wurden den Invaliden die Prothesen gestohlen. Einer Sängerin wurde im enthusiastischen Gewühle nach Schluß der Oper — der Ruf »Hoch Elizza!« durchdrang Kriegsgeschrei und Revolutionslärm — die Pelzboa gestohlen. Und als die Not am höchsten war, wurde der Kadaver eines wutkranken Hundes gestohlen. Das einzige, was nicht gestohlen wurde, vielleicht eben weil es uns das konnte, war Kriegsanleihe; der Dieb einer Reisetasche — Reisetaschen wurden mit Vorliebe gestohlen und wenn einer eine Reise tat, so konnte er was erzählen —, einer Reisetasche mit 300.000 Kronen in ungarischer Kriegsanleihe, der vorsichtige Dieb behielt also die Reisetasche, den Inhalt jedoch fand man auf dem Abort des Bahnhofs, wo sich der Diebstahl ereignet hatte. Und wer hat hierzulande der Behörde mehr zu schaffen gegeben: der Dieb oder der Bestohlene? Hat das österreichische Antlitz nicht ein Auge des Gesetzes und eins, das es zudrückt, woraus dieser merkwürdig schwankende Ausdruck von Wissenschaft und Ehschowissen entsteht? Ist es nicht das des Konfidenten mit dem »schoarfen Blick« oder das des unbeirrbaren Wachmanns, der sich höchstens des Mißgriffs schuldig macht, eine Bürgerin geprügelt zu haben, weil er im guten Glauben war, sie treibe Prostitution? Oder dem eine interessierte Menge durch die Kärntnerstraße folgt, weil er aus diesem Haufen von Sünde ein dreijähriges Bettelkind hervorgezerrt hat? Und das seines rauheren Bruders von der »Mülidärpolizei«, der eine kranke Frau aus dem Bett auf die Straße prügelt, weil sie mit der Verhaftung ihres Jungen, der ein Stück Brot genommen hat, nicht einverstanden war? Ist es nicht in der Grausamkeit, der die Not nur ein erschwerender Umstand ist, und in der Scherzhaftigkeit, die sie zum Witzblatthema macht und ihr noch die Sexualehre zum Fraß hinwirft? Und dann wieder in der Stimme dieses Hexenhammers: »Wer Schanddirnen beherberget —«. Und in dieser schwärzesten Kriminalität, die eine Mutter straft, die dem von den Furien des Vaterlands gejagten Sohne »Obdach« gewährt hat statt ihn dem Galgen auszuliefern. In der Finsternis eines Wiener Abends, wenn das bekannte Weichbild durch diese nur hier mögliche Abart von Regen, der von unten kommt, so recht fühlbar wird, kann ich das österreichische Antlitz nicht wahrnehmen; aber ich höre ein Menschengebell, das in stoßartiger Zurechtweisung, als würden Gewehrgriffe geübt, einem armen Soldaten gilt, der in der Finsternis es auch nicht bemerkt und darum nicht salutiert hat; an einem Abend, da es am Piave noch feuchter und dunkler war. Wie das alles noch funktionierte, wo es nicht mehr weiter konnte! Es war bis zu der Stunde, da der Wiener doch unterging, mir immer das unheimliche Wunder unserer Existenz, daß dieses ganze Zubehör von Menschen und Maschinenbestandteilen nicht plötzlich mit einem »Ah woos« sich hinlegte und seine Selbstauflösung den mühevollen Gesten eines unmöglichen Betriebs einfach vorzog. Denn wer, der Österreich etwa auf einem Wiener Bahnhofperron in der Kriegszeit ins Antlitz geschaut hat, wäre imstande, das Schlachtfeld zu beschreiben — »Ist dies das verheißne Ende? Sinds Bilder jenes Grauns?« — mit umherliegenden Soldaten, zwischen denen ein keuchendes Chaos von Rucksäcken, Menschen, Rollwagen, Koffern und sonstigen Bündeln Elends sich vor Waggons mit reservierten Offizierscoupés und eingeschlagenen Zivilfenstern staut. Wer hätte sich durch diese Qual aller Sinne, durch einen Schauplatz, gegen den Walleinsteins Lager eine Londoner Hotelhall ist, nicht mit dem Staunen durchgeschlagen: Und so etwas führt Krieg gegen England! Gott strafe es! Gegen Völker, denen, wenn schon nichts anderes, Seife den Sieg sichert. Und wenn das Antlitz in allem, was Dreck und Pallawatsch verhieß, aufglänzte: sich selbst zum Sprechen ähnlich war es erst in der Wildnis dieser Heimkehrerzeiten — getäuschte Hoffnung, daß sie dieses Heim kehren werden! — wenn ein Teil der Wiener Bevölkerung, vom ersten Schrecken erholt, selbst zur Bahn drängte, um den Demobilisierten ihre Konservenbüchsen abzuschwindeln. Und gar in der Entscheidungsschlacht einer Fahrt auf der Elektrischen, wo doppelt so viel Menschen jeder einen doppelten Raum beanspruchen, weil doch alle Berechnungen der unterernährenden Obrigkeit durch eine Vertiefung der Körper im Krieg zunichte wurden. Ich hatte einmal gerade die Ansprache des Erzherzogs Friedrich an den Kaiser memoriert, worin der gewiß selbstverfaßte Satz stand, daß der Marschallstab »der oberste Traum eines jeden Soldaten« sei, und war zu neugierig, ob er in einem dieser Erdäpfeltornister Platz hätte, an die angebunden solch ein armes, verschmutztes, verquältes Stück Mensch die große Zeit durchkeucht. Und war es nicht, Österreichs Antlitz mit dem offenen Mund und den ins Leere starrenden Pupillen, in der rührenden Ausdauer, wie diese Jammergestalt von Staat, dieser Lebensmittelkartenabmeldeschein von einem Nichts, den lachenden Nachbarn und den dumpf verzweifelten Angehörigen von der Erfüllung seiner Blütenträume sprach, von der bereits erfolgten oder im Zuge befindlichen »Erneuerung Österreichs«, darin bestärkt von einer alten Wahrsagerin, einer gewissen Hermann Bahr, die ihm gesagt hatte: Sie werden ein großes Glück machen und ein karolingisches Zeitalter ist im Anzug. Nämlich mit besonderer Berücksichtigung des Umstands, daß der betreffende Kaiser also Karl hieß, was auf viele Durchhalter ungemein suggestiv wirkte. Jene Wahrsagerin, die in Salzburg ihr Unwesen trieb und die katholischen Bauern durch einen »Kriegssegen« fing, die Wiener Juden aber durch ein freimütiges Tagebuch, mußte sich jetzt, vom Lauf der Ereignisse um ihren Kredit geprellt, angesichts der nicht mehr abzuleugnenden Tatsache, daß das karolingische Zeitalter infolge Auflassung des Geschäfts nicht durchführbar ist und selbst eine Erneuerung Österreichs nicht mehr stattfinden könnte, zu dem Geständnisse bequemen, es sei eigentlich das Österreich Masaryks gemeint gewesen; dann aber wurde sie frech: »... Und ich glaube noch heute an mein Österreich, ja heute mehr als je ... Mein Irrtum war nur, daß ich mir dieses Österreich von unseren Deutschen versprach ... Aber im Grunde kommt es, weltgeschichtlich betrachtet, auch gar nicht so sehr darauf an, durch wen und wie mein Österreich geschieht, wenn es nur geschieht.« Angesichts der Verwandlung eines Lebensmittelkartenabmeldescheins in einen Totenschein scheint hier etwas wie ein Glaube an Seelenwanderung die Konjunktur benützen zu wollen und die Erneuerung Österreichs in Prag anzustreben sowie die Errichtung eines karolingischen Zeitalters durch Masaryk, zu dem bereits tatsächlich eine Verbindung des Cola di Rienzo mit Karl IV. besteht. Aber schließlich, wenn wir schon im Umgruppieren sind, wird es sich herausstellen, daß wir auch nicht das Österreich Masaryks wünschen, sondern daß uns mehr das Österreich Marischkas am Herzen liegt. Nun, auch die Fähigkeit, am eigenen Grab noch eine Hoffnung aufzupflanzen, diese Zudringlichkeit dem Schicksal gegenüber, wenn hienieden noch ein Geschäft zu machen ist, diese ewige Wiederkehr des Hausierers, der eigentlich Böhmen gemeint, wenn er Österreich angeboten hat, diese Beharrlichkeit eines Phönix-Agenten, der die Auferstehung in jeder Form garantiert — auch dies ist einer der letzten Züge des österreichischen Antlitzes. Aber es weiß, wozu es auf der Welt ist. Es gehört ja dem Wiener, und darum zweifelt es nicht an seinem Davonkommen. Es bewährt sich todsicher in dieser Fähigkeit, sich, in guten und schlimmen Zeiten, als Protektionskind der Schöpfung zu erleben und den Wiener als den Wiener zu reklamieren, worunter eben ein Wesen zu verstehen ist, das sich mit Recht um seine Eigenart beneidet, indem es nämlich ein besonderes Blut hat, das sogenannte Wiener Blut, sich durch Schick, aber auch durch »Schan« von der Umwelt erfolgreich abhebt und, wie es anders zu essen gewohnt war, nun auch apart durchzuhalten versteht. Die Besonderheit seiner Sprache sind die vielfachen Spuren eines Gedankenlebens, das ausschließlich, in den Tagen der Erfüllung wie der Enttäuschung, vom Problem der Viktualien beherrscht ist, und es ist gewiß ein ethnologisches Wahrzeichen, daß der Wiener durch drei Gemütslagen mit der Erinnerung an eine und dieselbe Speise hindurchkommt: aus jenem Gleichmut, dem alles Wurst ist, durch die Zuversicht, daß es für ihn eine Extrawurst geben wird, in die Resignation, daß jetzt Krieg ist und daß es da keine Würschtel gibt. Und war denn das österreichische Antlitz nicht eigentlich die Hoteliervisage, deren Optimismus selbst dem Untergang noch einen Gusto gab, das Chaos beliebt machte und vom jüngsten Gericht überzeugt war, daß sich die Herren das loben? Deren Blick durch alle Finsternis mit jener letzten Hoffnung geleuchtet hat, die einem Trümmerfeld den Reiz der Spezialität abgewinnt, der Hoffnung auf Hebung des Fremdenverkehrs, und wäre es selbst, um ihnen Heldengräber als Sehenswürdigkeiten vorzuführen und die Konkurrenz der Hyänen zu schlagen. Wo suche ich das österreichische Antlitz noch? Wo kommt es uns nicht schöngefärbt entgegen und wo hat es nicht wieder den Mut, sich zu seiner Häßlichkeit mit dem letzten Gruß aus großer Zeit zu bekennen: »Gut schaun mr aus!« So oder so, immer wußte sich die lustige Person zu behaupten, indem sie die Gebärde jenes kühnen Luftspringers Schulter an Schulter parodierte oder das eigene heroische Mißlingen mit einem Purzelbaum abschloß. Der Knockabout ist der humoristische Träger jenes Lebensprinzips, das Mittel und Zweck zu ewiger Verwechslung verwendet und beide aneinander verliert. Welch ein Symbol österreichischen Daseins: In Feldkirch war es die letzte Pein derer, die entfliehen wollten, ihre Namen ausgebrüllt und den Mitreisenden preisgegeben zu hören, so peinlich wie der Zwang, die Nomenklatur dieser phantastischen Einkäufergestalten zu erfahren. Die deutsche Sitte des Nummernaufrufs — ist der Mensch schon eine Nummer, so sei er es auch — wäre der Pikanterie unseres Grenzverfahrens abträglich gewesen. Endlich wird sie eingeführt. Vor Feldkirch erfolgt die Verteilung der Nummern. Jeder hält die seine in der Hand und wartet auf den Ruf. Damit ist dem organisatorischen Vorbild Deutschlands Genüge geschehn; denn es wird nun jeder, der die Nummer in der Hand hält, mit Namen aufgerufen. Auf die Frage, wozu denn die Nummer sei, weiß kein Funktionär eine Antwort. Meiner Ansicht, es sei wohl nach deutschem Muster eingeführt, wird beigepflichtet. Vermutlich ist später, da der Mißgriff bemerkt wurde, mit dem Namen die Nummer ausgerufen worden. Die deutsche Organisation war das Irrlicht, das einen Unzurechnungsfähigen vollends ins Elend geführt hat. Der Treubund konnte nicht anders ausgehn, als daß Wien von der Mechanik die Roheit annahm und Berlin dafür die Schlamperei lernte. Wir aber hätten das österreichische Antlitz vor Seelenlosigkeit nicht wiedererkannt, wenn nicht auch mehr Schmutz sie verdeckt hätte. Wo stand es nicht vor dem, der hilfesuchend in ein Amt kam und Unrat fand? Muß ich es in den Aborten der Kriminalität suchen, in den Wanzen- und Bazillenräumen der Wiener Garnisonsarreste, an den verwahrlosten Spitalsbetten, wo dafür graduierte Profosen und Assistenten von Scharfrichtern nervenkranke Soldaten mit Starkstrom elektrisierten, um den Verdacht, sich von der Front zu drücken, auf sie abzuwälzen? War es denn nicht in jeder Schmach und Unappetitlichkeit jeder Amtshandlung und vor allem in der Gerechtsame jener Feldgerichte, deren eines die noch über den Justizmord unsittliche Forderung aufgestellt hat, daß der österreichische Staatsbürger seinen Behörden, diesen Behörden, »mit Ehrfurcht und Liebe zu begegnen habe«? Allen, selbst in den Gestalten der Zagorski, Preminger, König und Peutlschmid! Und solche Härte, verschärft durch die Sicherheit, daß hier nicht Naivetät, sondern ein Vollbewußtsein der eigenen Schurkerei am Werke war und die diabolische Lust einer letzten Belastungsprobe auf unsere Geduld. Das von einer feindlichen Regierung längst verbotene Experiment der Hundsgrotte ist von der österreichischen tagtäglich den vierzig Millionen Menschen zugemutet worden, und das Antlitz zwinkerte bei dem gelungenen Gspaß, um nach eingetretener Erstickung in voller Heiligkeit zu erglänzen.