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Oktober 1912

Harakiri und Feuilleton

Gespräch der Kulis

Vorwort

Die handelnden und leidenden Personen sprechen in einem Dialekt. Aber die Darstellung bezweckt nicht den Eindruck, als ob die realen Personen, die in dem dargestellten Milieu leben, denselben Dialekt oder ihn mit derselben Deutlichkeit sprächen. Es mußte dem Darsteller dieses engeren Milieus, da es zugleich das weiteste Milieu der modernen Welt ist, darum zu tun sein, die Personen den Dialekt sprechen zu lassen, den ihre Seele spricht. Ich gestehe, daß ich andere, deren Rasse oder Erziehung weit von der Möglichkeit eines solchen Dialektes liegt, auch nicht anders hätte sprechen lassen mögen. Denn auch ihre Seele spricht diesen Dialekt. Es ist der Weltdialekt. Er ist unübersetzbar und doch das einzige Verständigungsmittel zwischen den Sprachen, das wahre Volapük aller, die in der Zeit leben und in der Welt fortkommen wollen. Alle honetten Leute, die sich nach der Decke strecken, sprechen diesen Dialekt. Denn auf seinen Lockruf kommt das Geld herbei. Und so ist er auch die Wünschelrute in der Hand des satirischen Suchers, die ihm alle verborgenen Schlechtigkeiten der irdischen Seele auffinden hilft. Nun hat leider gerade dieser Dialekt, von seinen leisesten Anklängen bis in seine letzten Besonderheiten, die Gefahr, eine komische Wirkung sich selbst zu verdanken. Die Satire erstrebt diese Wirkung nicht, und sie wird durch sie am meisten gerade in den Augen jener herabgesetzt, die sich der Wirkung freuen. Es ist nicht schwer, durch den Ausruf: »Las’r verdienen« Heiterkeit zu erregen. Aber diese Heiterkeit darf nicht tröstend von dem furchtbaren Gesichtsausdruck ablenken, den die ganze Welt annehmen kann, wenn ich einen gleichgültigen Einzelnen »Las’r verdienen« sagen lasse. Während ich hier ein nachgemachtes schlechtes Geräusch dem Gelächter preisgebe, vergesse das Gelächter nie, daß nicht weit die Tragödie der Ideale ist, die hinter dem Geräusch verstummen müssen, weil sie des Dialekts entbehren, der allein das Losungswort hat. Aber das Geräusch selbst mache auch seine Sprecher mitleidwürdig. Denn es sind Existenzen, die nur noch im Gehäuse des Ideals leben, welches die Phrase ist und worin ihnen nichts übrig bleibt, als sich satt zu essen, um dann einander aufzufressen. Zwei Generationen von Journalismus stelle ich einander gegenüber, die sich zueinander verhalten, wie der Leitartikel zum Feuilleton. Sie sind einig in der Verachtung dessen, was über das Notwendige und über das Faßbare hinausgeht. Nichts Menschliches ist ihnen fremd, doch alles Göttliche. Mit Helden und Heiligen haben sie keine Verbindung: sprachlos vor dem Geist, ratlos vor der Tat, wissen sie dennoch Bescheid. Die jüngere Generation versucht Rettung und Halt, indem sie Gott, Kunst, Natur und den Menschen erklärend betastet. Die ältere lebt ohne Probleme; nichts sei hier zu erklären, denn: »Alles ist bewußt«. Sie täuscht sich durch Sicherheit, jene sich durch Frechheit über die geistige Not der Zeit hinweg. Beide leben gottlos: jene braucht ihn nicht; diese mag ihn nicht. Und leben dennoch in ewiger Furcht. In einer andern Furcht vor einem anderen Herrn, der als der Träger der ausbeutenden Gewalt ihnen den Fuß auf den Nacken setzt und dessen Stimme schon ein so leibhaftiger Akteur ist wie sie selbst. Und in der Furcht vor der Satire, dem einzig Unbegreiflichen, das sie empfinden und zugeben, vor einer Macht, welche sie wie jene hassen, der sie dienen; einer, deren Stimme ihnen noch unhörbar in die Handlung hineinzusprechen scheint. Diese aber krümmt sich zwischen den Stichworten unsichtbarer Gewalten, von den trostlosen Assoziationen einer engen Welt getrieben, vorwärts bis zur Verzweiflung. Ist es ein Drama? Es ist — wie jenes Gespräch in der Nacht vor dem Wahlsieg — eine Sammlung von Phrasen, denen das Gesicht ihrer Sprecher zugewachsen ist und die dialektisch verbogene Beine bekommen haben. Es sind Zitate, die, durch eine freiwillige Wendung in den Jargon entlarvt, in Bewegung geraten und ein dramatisches Leben herstellen. Schon die äußere Anordnung einer fortlaufenden Kette des Dialogs zeigt, daß diese Gestalten den Ursprung aus ihrer Sprache nicht verleugnen wollen. Das scheinbar realistische und von lokalen Anlässen bezogene Detail ist nur um jener Naturwahrheit willen verwendet, die ein Symbol ist, und wird darum besser gewertet werden, wo Ort und Zeit die Anlässe entrückt haben. Den Anteil, den die Intimität des Dialekts wie der Stofflichkeit an der komischen Wirkung hat, verschmäht die Satire. Und das tut sie selbst in der Verwendung von Namen. Sie stützen keine polemische Absicht und sind nur dort den namenlosen Gestalten zugefügt, wo sie ein satirisches Element sind, so von Natur angewachsen, als ob die lebendigen sie als die Erfindung des Satirikers trügen. Hier waltet kein Zufall, sondern ein Schicksal. Alles fügt sich jener nachschöpferischen Ordnung, welche das Individuelle als typisch und das Vorhandene als Notwendigkeit begreifen läßt.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 360/361/362, XIV. Jahr
Wien, 7. November 1912.

*

Die Stimme des Herrn. Ein älterer Redakteur. Zifferer.

Beim Aufgehen des Vorhangs hört man die Stimme des Herrn aus dem Nebenzimmer: »Noch ein solcher Hereinfall und ich werf alle heraus!« Der Redakteur zuckt zusammen. Zifferer tritt auf. Er ist à quatre épingles gekleidet.

»Hören Sie Zifferer, Nogi hat Harakiri gemacht.« »Wieso?« »Nachdem der Mikado gestorben ist, das interessiert Sonntag, können Sie schreiben?« »Was heißt ob ich schreiben kann? Das geben Sie gut. Wenn Nogi in dem Augenblick, da der Geschützdonner den toten Mikado auf seiner letzten Fahrt grüßte, Harakiri gemacht hat, so wird in dem Augenblick, da Nogi Harakiri gemacht hat, Zifferer noch das Feuilleton machen können!« »Sie, das mit dem Geschützdonner ist ein Anfang.« »Was heißt Anfang? Ich hab doch sogar schon das Ende!« »?« »Ich wer’ schreiben, vielleicht war’s ein anderer.« »Sehr intressant, aber wozu?« »Für alle Fälle, vielleicht is es ein Aufsitzer vom Fackelkraus.« »Was fallt Ihnen ein, der traut sich doch nicht mehr wegen Stukart. Und außerdem haben wir doch schon die Details!« »Sie, die Details haben wir auch über den Grubenhund gehabt. Lassen Sie’s gut sein, es kann nichts schaden, ich schreib, vielleicht war’s ein anderer.« »Sie sind etwas ein Hypochonder. Aber sagen Sie — der Titel? Was für einen Titel geben Sie?« »Die Tat des Feldmarschalls Nogi.« »Intressant, und der Grundgedanke? Was wird der Grundgedanke sein?« »Der Grubenhund wird sein — was red ich, der Grundgedanke wird sein: ›hier gibt es keine Gewißheit, vielleicht war’s ein anderer, in undurchdringliches Dunkel bleibt die Tat gehüllt, abweisend, fremd, geheimnisvoll‹.« »Sie haben faktisch recht. Man sollt’s nicht für möglich halten. Haben Sie schon so etwas erlebt? Weil der Mikado stirbt, muß er auch sterben, geht sich hin und bringt sich um mit der Frau — überspannte Sachen! Schon einmal soll er die Idee gehabt haben, sich aufopfern um jeden Preis, wegen Port Arthur! Das hat mir schon nicht gefallen. Der Mikado hat es auch tatsächlich strikte abgelehnt. Man kann Patriot sein, warum nicht, aber so übertrieben is wieder nicht nötig. Zum Glück ein vereinzelter Fall.« »Ich werde mich auf das Soziale nicht einlassen und mehr das Menschliche betonen.« »Und dabei is es noch Pflanz!« »Wieso?« »Eigentlich war es nicht einmal ein orntliches Harakiri. Er hat sichs leicht gemacht, der Herr General!« »Wie soll ich das verstehn?« »Ein orntliches Harakiri gehört mit dem Bauch. Zwei Ritzer hat er sich beigebracht, nicht der Rede wert!« »Wieso is er dann tot?« »Wieso er dann tot is? Den Hals hat er sich abgeschnitten! Bequem. Treff ich auch.« »So generalisieren kann man schließlich doch nicht.« »So, also Sie glauben, daß das in Japan, wo sie heute schon Elektrizität haben, imponieren kann? Da irren Sie gewaltig! Bei der Botschaft ist man übrigens auch der Ansicht. Münz war dort und Akidzuki hat ihm gesagt, daß man in Japan das Beispiel des Generals Nogi keineswegs für nachahmenswert halte und eher der Überzeugung Ausdruck geben werde, daß eine solche Auffassung eines einzelnen im modernen Japan als überwundener Standpunkt einer vergangenen Epoche anzusehen sei.« »Goldene Worte.« »Aus purem Patriotismus! Das hat die Welt nicht gesehn! Das is rein, als ob man immer mehr hereinkommen möcht in das finsterste Mittelalter! Daran glaub ich natürlich nicht, und glauben Sie nicht, daß sie in Japan, heißt es, noch gelost haben, wer sterben soll nach dem Mikado, und daß ein Geriß war. Skandal genug, daß so etwas heutzutag überhaupt noch vorkommen kann, bei einem aufgeklärten Volk mit Telephon! Dieser Brauch ist uns fremd.« »Sie sprechen vom Telephon?« »Ich sprech vom Harakiri. Apropos, was sagen Sie, daß Mendl Singer geadelt is?« »Is er getauft?« »Ich glaub nein.« »Jedenfalls auch eine Ehre, die dem Stande widerfährt. Ausgerechnet zum Eucharistischen Kongreß, Kleinigkeit.« »Wilhelm Singer soll es ihm nicht gönnen.« »Ich war direkt paff. Is Siegfried Löwy schon getauft?« »Ich glaub ja.« »Sie, ob es nicht vielleicht ein Aufsitzer is vom Fackelkraus?« (Man hört die Stimme des Herrn aus dem Nebenzimmer: »Alle werf ich heraus!« Der Redakteur zuckt zusammen.) »Großer Gott, hören Sie nur wie er schreit! Was, meinen Sie, daß ein Aufsitzer is? Das mit Nogi?« »Nein, mit Mendl Singer!« »Was fällt Ihnen ein, eine seriöse Nachricht, wer denn soll geadelt werden wenn nicht er?« »Ich sag auch, aber —« »Solche Vorurteile existieren nicht mehr. Was wollen Sie haben, ein gefälliger Mensch, ein tüchtiger Mensch, und vor allem auch ein betamter Mensch. Noch einer von der alten Garde, aus den großen Tagen des Liberalismus. Ein Aufrechter, der noch Schmeykal gekannt hat! Die Zeiten haben Sie nicht gekannt, wo wir noch gerungen haben, aufgewachsen in den Ideen des Deutschtums. Er is auch nicht mehr der Heißsporn, der er früher war. Hat auch schon Wasser in die Schläuche gegossen. Aber dazumal? Was weiß man heute, was es geheißen hat — dazumal das Banner hochhalten! Und schließlich hat er seine Verdienste. Er is intim bei Fürstenberg. Man wird nicht Von ohne gar nix. Er hat seinem Kaiser gedient —« »Bei Port Arthur, das weiß man ja —« »Wieso? bei der Wehrvorlage!« »Ich denk, Sie meinen Nogi?« »Wer redt von Nogi? Ich red von Mendl Singer! Stoff für ein Feuilleton is er freilich nicht. Man gibt eine Notiz. Fertig. Von uns machen wir nicht viel Aufhebens. Unsereins rackert sich ab, und mit dem Tag is es vergessen. Ruhmlose Helden, die stumm bis in die sinkende Nacht hinein bei der Fahne bleiben. Wir, die wir für die andern arbeiten, was haben wir schließlich? Einen Tineff, die Unsterblichkeit eines Tages, wie Speidel so treffend gesagt hat. Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm. Neugierig bin ich wirklich, ob Sie sechs Spalten Nogi geben wem.« »Sie können sich verlassen.« »Damals hat noch jeder Mann auf seinem Posten stehen müssen, bei Nacht, gegen den Moloch, wenn es geheißen hat, das Kulturerbe zu wahren und zu mehren. Heute? Alles niederreißen, das verstehn sie. A la Fackel! Was er davon hat, fortwährend mit den Angriffen auf die Presse, möcht ich wissen. Schad, so ein talentierter Mensch — muß er sich grad auf das Gebiet verlegen! Was hätte aus dem werden können, wenn er sich nicht selbständig gemacht hätt! Chef könnt er heut sein! Wenn er mit sich hätte reden lassen! Ein gemachter Mann! Mit der Feder, intelligent und ein Jud!« »Sie überschätzen ihn sehr. Was kauf ich mir für die Feder, wenn die Gesinnung nichts wert is? Was rechnen Sie ihn überhaupt noch zum Stand? Er sagt doch selbst, daß er nur mehr ein Künstler is!« »Künstler! Weit gebracht! Das kommt von diesem Hang zur Eigenbredelei! Alle Welt is für Heine — er muß gegen Heine sein. Buch der Lieder, ihm gesagt! Der greßte Antisemit! Blast von sich, als hätt er geschrieben: ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Für den Moloch is er scheint es auch. Wenns nach ihm ging’, brenneten Scheiterhaufen am Ring! Ein aufgeklärter Mensch soll reaktionär sein! Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, hat der Weimaraner gesagt —« »Wer?« »Der Weimaraner, wissen Sie nicht, wer der Weimaraner is? Der hat es ihnen gegeben, den Dunkelmännern! Skandal, ein Komödiant soll einen Pfarrer lehren!« »Ja, wenn der Pfarrer ein Komödiant is!« »Natürlich nur in dem Fall; aber er hat es doch scharf gehabt auf sie. Verachte nur Vernunft und Wissenschaft! Ja, das können sie. Mein Sohn macht heut Rigorosum.« »Ihr Sohn macht heut Rigorosum?« »Es ist das erste.« »Es ist das erste?« »Und wenn er durchfallt, mach ich mir auch nix draus.« »Er wird aber nicht durchfallen. Sagen Sie, Sie sagen, daß man bei der japanischen Botschaft der Ansicht is, daß man in Japan die Tat des Generals Nogi nicht teilt. Wie wird man aber in Japan der Überzeugung Ausdruck geben, daß man mit der Auffassung des Generals Nogi nicht einverstanden is?« »Weiß ich? indem die andern Japaner am Leben bleiben schätz ich oder so ähnlich. Liegt mir stark auf. Ernster is jetzt, Sie machen das Feuilleton.« »Wenn ich Ihnen sag, daß ich schreib? Ich versicher Sie, Sie können darauf rechnen. So eine Pikanterie wer’ ich mir entgehn lassen! Aber wissen Sie was — selbstredend möcht ich Nogi nicht angreifen, insofern es, sagen Sie was Sie wollen, effektiv heroisch ist. Bitte, das müssen sogar Sie zugeben. Unnatürlich, können Sie sagen, das sag ich auch, aber intressant!« »Intressant — leugne ich nicht.« »Die Tat ist abweisend und geheimnisvoll. Er hat sich geopfert.« »Auf was die Leut für Ideen kommen, wenn sie nix zu tun haben!« »Glauben Sie, daß bei uns so etwas möglich wäre? Wenn zum Beispiel der dort (auf die Tür des Nebenzimmers weisend), wenn ihm in der Aufregung einmal gottbehüte und es passieret ihm etwas — würden Sie —« »Ich ginge zum Tagblatt! Und Sie?« »Ich möcht mir auch den Hals nicht abschneiden.« »Dieser Brauch ist uns fremd. Sie müssen Mendl Singer gratulieren. Ich wer’ ihm auch gratulieren. (Man hört die Stimme des Herrn aus dem Nebenzimmer: ›Alle werf ich heraus!‹ Der Redakteur zuckt zusammen.) Dieser Brauch ist uns., fremd ... Neugierig bin ich auf Ihr Feuilleton. Sie haben gewiß schon alles im Kopf.« »Nein, aber ich kann Ihnen alles sagen. Zuerst beschreib ich, wie die Japaner aussehn. Das japanische Lächeln, das Höflichkeit ist und Stolz zugleich, Schmerz und Freude, Lust und Qual, dieses Lächeln —« »Woher haben Sie die Information?« »Aus Taifun im Volkstheater.« »Aber wieso Lust und Qual? Lust versteh ich, aber wieso Qual —?« »Das is von Freud. Bißl Qual is immer dabei, wenn auch verdrängt.« »Also Freud und Qual? Wie kommt das zu dem?« »Also es handelt sich nämlich um den Lustgewinn, der je nachdem ein Komplex vorhanden ist, zu Gunsten oder zu Lasten — Sie müssen nämlich wissen, das Unbewußte —« »Ich versteh.« »Das glauben Sie, daß Sie verstehn, aber ich sag Ihnen, Sie verstehn nicht!« »Ich versteh nicht? Wieso versteh ich nicht?« »Aha, haben Sie Hemmungen?« »Nein!« »Sehn Sie, Sie haben Hemmungen, jetzt kommts heraus, lassen wir das. Ich wer’ Ihnen erklären. Wenn Nogi Harakiri gemacht hat, dürfen Sie ja nicht glauben, daß er nicht eigentlich etwas anderes hat machen wollen. Glauben Sie, wir wissen nicht, was der Dolch bedeutet?« »Sie schweifen vom Thema ab.« »Was fällt Ihnen dazu ein?« »Lassen Sie mich aus mit die Narrischkat —, ich versteh schon — mein Jung is auch schon verrückt damit. Sitzt sich den ganzen Tag im Kaffeehaus und deutet. Was ihr wollts, weiß ich! Ihr seids Idealisten! Nix weiter! Ihr wollts das Unbewußte bewußt machen, besonders, was das Bewußte betrifft — ich weiß schon. Das war ja an und für sich sehr verdienstvoll. Aber es geht nicht. Aus einem einfachen Grund. Merken Sie sich: es gibt nichts Unbewußtes! Es is nämlich schon bewußt. Alles is bewußt. Und außerdem, der Chef wills nicht haben! Er will nicht, daß gedeutet wird, er will nicht, daß geklärt wird, er will nur, daß geplodert wird. Die Theorie paßt nicht für das Blatt — was is mit dem Lächeln der Japaner?« »Paßt nicht für das Blatt und fürs Tagblatt ja? Warum, was Stekel trefft, treff ich auch!« »Von mir aus — aber was is mit dem Lächeln der Japaner?« »Dieses Lächeln also — Moment! — ich weiß schon — dieses Lächeln, das eine sanfte und doch festgezogene Schranke bedeutet, eine vornehme Abweisung —« »Hören Sie mir auf, die Tat is abweisend, das Lächeln is abweisend, hat Nogi Sie abgewiesen, wie er in Wien war?« »Wieso, ich hab gar nicht gewußt, daß er in Wien war! Sehn Sie, unbewußt is er da gewesen!« »Sie haben gar nicht gewußt, daß er in Wien war?« »Nein, aber auf eine gute Idee haben Sie mich gebracht. Ich wer’ also jetzt beschreiben, wie Nogi in Wien war! Viele mögen ihm in den Straßen Wiens begegnet sein, als er, von den Londoner Krönungsfeierlichkeiten heimkehrend, der Kaiserstadt seinen Besuch schenkte —« »Haben Sie ihn begegnet?« »Ich nicht, aber viele mögen.« »Was hat er angehabt?« »Die Uniform.« »Wie hat er ausgesehn?« »Klein, sehr klein. Unscheinbar. Er unterschied sich kaum von seinen Begleitern, aber die Hoheit zeichnete ihn aus.« »Welche Hoheit? Was hat er gekriegt?« »Aber ich mein’ doch nur die Hoheit, die irgendwie trotz seiner Bescheidenheit um den kleinen freundlichen Mann war.« »Intressant. Ich muß mir notieren, daß ich Emanuel von Singer —« »Richtig, Manuel von Portugal ist doch angekommen?« »Vielleicht war’s ein anderer! Sie sagen doch selbst von Nogi, hier gibt es keine Gewißheit?« »Aber Sie sagen doch, daß alles bewußt is?« »Selbstredend, aber kommt man hin ins Hotel, is es ein anderer! Hat einmal einer unserer Mitarbeiter Gelegenheit, mit einem zu sprechen, sagt er, er is es nicht! Man kann rein nicht mehr interviewen schicken! Neugierig bin ich, wie Sie Nogis Physiognomie erfaßt haben.« »Ein krauser, vom Alter gebleichter Bart umrahmte Kinn und Wange.« »Zum Sprechen. Was is mit dem Schnurrbart?« »Nach abwärts gebürstet, aber das brauch ich für Pavlik, wenn er nach Wien kommt.« »Pavlik kommt nicht, hör ich.« »Kommt er nicht, kommt ein anderer. Einer kommt.« »Gut, wenn Sie die Nuance aufheben für die ungarische Polizei, was sagen Sie statt dem für Nogi?« »Was soll ich sagen? Trotzig schob sich die Unterlippe vor!« »Das is echt japanisch. Aber wie ich Sie kenn, originell wie Sie sind à tout prix, sind Sie imstand und vergessen an die Schlitzaugen.« »Das glauben Sie. Aber ich sag Ihnen, wunderbar klug und lebendig blickten die kleinen schwarzen Augen hinter dem schmalen schiefen Spalt hervor.« »Sie, das is sympathisch, das müssen Sie genau so schreiben!« »Unterbrechen Sie mich nicht, das ganze Antlitz, die ganze Gestalt, das ganze Wesen des Generals schien aus diesen Augen zu leuchten, was sagen Sie dazu?« »Sie Zifferer, wenn Ihnen Saiten das nachmacht, will ich Münz heißen! Seine Plastik und Ihre Plastik, den Unterschied möcht ich Klavier spielen können.« »Hören Sie zu, wir sahen den Feldmarschall Nogi beim Sturm auf den berühmten 203-Meter-Hügel, wie ihm der Tod des jüngeren Sohnes gemeldet wird, nachdem kurz zuvor der ältere Sohn gefallen ist —« »Schad, daß er eigentlich nie geheiratet hat!« »Wer, Nogi?« »Nein, Mendl Singer!« »Warum?« (Sinnend:) »So geht der Adel wieder verloren.. schad!« »Kein Muskel des Antlitzes verrät die innere Bewegung, kühl und besonnen leuchten noch immer die kleinen Augen —« »Ss ..!« »Unterbrechen Sie mich nicht, starr und geisterhaft sitzt das höfliche Lächeln auf der trotzig vorgeschobenen Lippe.« »Glänzend!« »Wir sahen die kleinen mutigen japanischen Soldaten zu Tausenden —« »Das is der Moloch..!« »— zu Tausenden, sag ich, Gräben und Wälle füllen, mit ihren Leibern eine unaufhaltsam wachsende Mau —« »Er hat für die Vermehrung des Rekrutenkontingents gewirkt..!« »Nogi?« »Konträr, Singer!« »Hören Sie zu, aus nächster Nähe pfeifen, prasseln, krachen die Geschosse —« »So wahr ich da leb, ich bin sprachlos — Sie, Zifferer, ich glaub Sie müssen rein dabei gewesen sein, woher haben Sie das?« »Sie glauben, das is Information? Ich sag Ihnen, das is visionär! Direkt visionär, sag ich Ihnen! Warten Sie, wie ich noch Stössel beschreib —« »Der wird doch nicht genannt bei uns?« »Warum wird er nicht genannt bei uns?« »Der hat doch für die Fackel —« »Nicht so laut — aber ich red doch vom russischen General!« »Vielleicht ein Verwandter! Kann man wissen?« »Sie, das riskier ich vor Ihm! Um ihn her —« (Man hört die Stimme des Herrn aus dem Nebenzimmer: »Alle werf ich heraus! Klinenberger soll hereinkommen!« Der Redakteur zuckt zusammen.) »Großer Gott, er schreit nach Klinenberger — er will ihm diktieren —!« »Um ihn her ist ein Flimmern und Leuchten und Glitzern —« »Um Ihn? ich hab auch den Eindruck. Hören Sie nur wie er schreit!« »Aber ich red doch von Stössel!« »Woher wissen Sie?« »Ich sag ausdrücklich, wir kennen ein Bild —« »Haben Sie das Bild gesehn?« »Nein, ich hab gehört.« »Also gibt es so ein Bild?« »Ich hab gehört.« »Zifferer, Sie sind eine Akquisition für das Blatt! Wie Sie Port Arthur mitgemacht haben, das macht Ihnen niemand nach!« »Bitte, Schiller war auch nicht in der Schweiz, aber der Tellschuß is Bagatell neben meinem Kugelregen von Port Arthur, ich seh förmlich, wie sie die Fahne hochhalten und wie Nogi dasteht, neben dem zerschossenen Bollwerk, das höfliche Lächeln auf seinen Lippen.« »Sie sind mehr wie Auernheimer! Auernheimer würde sagen, daß Port Arthur wie eine Frau dalag und er hat sie erobert. Auernheimer is mehr amourös, bei Ihnen steht man mitten drin im Pulverdampf auf den Boulevards, ein Genuß, das mitzumachen, ein förmliches Stahlbad, wie da alles braust, man spürt den Pulsschlag! Auernheimer hat die weichere Linie —« »Warum hat Wertheimer schon so lang nichts gehabt bei uns?« »Wertheimer is versonnen. Wertheimer liebt seltene Dinge, Sphinxe aus Alabaster, wie sie Canaletto gemalt hat. Und außerdem hat er doch die Kanzlei. Trebitsch —« »Lassen Sie mich aus mit Trebitsch. Vieu jeu!« »Nein, ich wer’ Ihnen sagen, verwendbar is jeder in seiner Art. Wertheimer fängt Stimmungen ein, wenn er Zeit hat, Wertheimer is mehr für die stillen Gassen der Vorstadt, Trebitsch is gut für die großen Hotels. Für Psychologie sind wir wieder froh, daß wir Sie haben. Neugierig bin ich wirklich, wie Sie Stellung nehmen wem zur Tat des Nogi?!« »Zur Tat des Nogi sag ich, daß dieser moderne Stratege soll einem uralten japanischen Brauche gefolgt sein, der uns fremd ist —« »Gottlob!« »— und den wir nicht mit dem Verstände, kaum mit dem Herzen zu fassen vermögen. Es ist einfach ein Vorurteil.« »Sie haben das Blattgefühl, Sie sind eine Perle für das Blatt. Verhalten Sie sich aber mit Wilhelm Singer und gratulieren Sie Mendl!« »Ich werde an Taifun erinnern und sagen, daß es an die Sada Yakko gemahnt!« »Haben Sie die Sada Yakko gesehn?« »Bitte, die hab ich selbst gesehn mit eigenen Augen auf der Weltausstellung von Paris mit Staunen und Verwunderung. Sie stirbt genial! Sie hätten sehn solln, wie sie stirbt wie er stirbt, Kawakami, wie er sein Gesicht verzerrt. Man wird nachdenklich.« »Wieso?« »Über das Leben.« »Sie wollen sagen, das Leben geht weiter, Zifferer?« »Wenn auch nicht mit den Worten, aber ich will jedenfalls sagen, die Menschen wandeln auf so tausendfältigen Wegen durchs Leben, hier aber sahen wir einen Tod, der uns fremd blieb, den man nicht begriff!« »Schad, daß er nicht geheiratet hat!« »Kawakami?« »Nein, Mendl Singer. (Sinnend:) So geht der Adel wieder verloren!.. Was für einen Schluß machen Sie?« »Wie die Sada Yakko stirbt, lass ich die Stimmung ausklingen, indem ich alles zusammenfass! Sie sterben mit einem höflichen, aber abweisenden Lächeln, die Japaner. Die Sada Yakko nämlich hab ich effektiv gesehn, wie sie hinsinkt wie eine geknickte Blume mit dem Geishalächeln auf den Lippen.« »Nebbich. Aber das mit dem Lächeln — was is das alles — ich hab noch die Mona Lisa gesehn, da hätten Sie gesehn, was ein Lächeln is!« »Kenn ich!« »Aber warum erinnern Sie nicht auch an den Mikado, von Sullivan?« »Kenn ich nicht.« »Ist das ein Grund?« »Das nicht, aber es is zu bekannt.« »Was sagen Sie, Birinski is in Tokio angenommen! Der muß auch schon hübsch verdienen. Wann kommt von Ihnen etwas? Hören Sie, ein Talent wie Sie, mit Ihrem Elaan, ich würde mir das gar nicht überlegen. (Nachdenklich:) Warten Sie — da fallt mir ein — ob nicht doch am Ende — der Fall is so unwahrscheinlich — einer soll sich aufopfern, für nix und wieder nix, fürs Vaterland — jetzt furcht ich selbst — was glauben Sie — ob es nicht doch ein Aufsitzer is vom Fackelkraus?« »Das mit Mendl Singer meinen Sie?« »Aber nein, mit Nogi!« »Jetzt, wo ich schon das ganze Feuilleton hab, kommen Sie mit solchen Bedenken? Ich bin der Ansicht, da könnt man überhaupt nichts mehr bringen!« »Natürlich, recht haben Sie, man soll sich nicht einschüchtern lassen! Wenn wir schon hereinfallen — soll er sich ärgern, wenn er sieht, daß wir uns nicht haben abhalten lassen! Wo käme man hin bei so übertriebenem Mißtrauen? Keine Nommer könnt man herausbringen! Auf die besten Zuschriften müßt man rein verzichten! Soll er aufpassen!.. Gut is nur, daß er wenigstens nicht hören kann, was man in der Redaktion redt.« »Wer? Benedikt?« »Nein, Kraus, nicht genannt soll er wem!« »Er wird ja nicht genannt!« »Ich mein’ überhaupt. Aber ein wahres Glück, sag ich, daß er zum Beispiel nicht hören kann, wie wir zwei zusammen sprechen.« »Warum?« »Er möcht es sicher wörtlich karikiert wiedergeben!« »Malheur, furcht ich mich schon? Ärger is, er war imstand und liest es vor!« »Vor wem? Vor e leeren Saal?« »Es soll doch aber gesteckt voll sein?« »Sagt er! Eines lassen Sie sich gesagt sein, junger Freund, und das merken Sie sich: Eine Veranstaltung, über die nix gebracht wird, exestiert nicht! Und ein Mensch, was nicht genannt wird, is so gut wie nicht geboren oder is besser, man hackt ihm gleich den Kopf ab. Besser arm und krank, als dieses Schicksal! Sag ich Ihnen!« »Eigentlich is er zu bedauern.« »Hat er sich selbst eingebrockt. Warum? Weiß er sich keine besseren Themen wie uns? Sind wir auch schon wer? Grad auf das Gebiet muß er sich werfen? Der hat sich gründlich verrechnet! Da nützt kein Zurück mehr, man sieht ja, wie er jetzt schon einlenken möcht. Is auch schon zahm geworden. Gibts auch schon billiger. Ja, das hat er heute davon. Eine Großmacht läßt nicht mit sich spaßen. Nicht einmal ein Inserat wird gebracht! Der Hund bellt auf den Mond, die Karawane zieht weiter!« »Der Hund — ich bitt Sie, berühren Sie das nicht! Ich riskier das Feuilleton in Gottes Namen, aber erinnern Sie mich jetzt nicht an die Katastrophe von Mährisch-Ostrau!« »Gott Sie haben ja so recht! Aber man kennt sich schon nicht mehr aus. Man weiß schon nicht mehr, wo einem der Kopfsteht und auf wem man geben soll. Jenner macht sich lustig und der da schreit! Ich wünsch keinem Böses, aber von zwei Menschen wenn ich hören wer’ — (Halb zu sich: Ausstehn — —!) Hach — was hat man davon, das führt zu nichts ... Die Hauptsache ist, gesund und warme Fuß! Sie sind jung, lieber Freund, Sie haben Ihren Humor, Ihnen steht die Karriere offen. Halten Sie sich nicht länger — auf Gott, halberneun is und ich hab noch den Artikel gegen den Moloch zu schreiben! Aber sagen Sie, wenn er sich umgebracht hat —?« »Wer, Kraus?« »Leider nein! Bloß Nogi. Was glauben Sie also eigentlich, hat er sich umgebracht, und wenn er sich umgebracht hat, warum hat er sich umgebracht?« »Mich fragen Sie —?« »Ich mein’, was wird der Gruben — eh! der Hundgedanke — aber nein — also halten wir das fest, der Titel wird sein: Die Tat des Feldmarschalls Nogi, gut — und was wird der Grundgedanke sein, ich hab schon wieder vergessen.« »Der Grundgedanke wird sein, vielleicht war’s ein anderer und daß wir mit der Tat des Generals Nogi nichts anzufangen wissen. Ich fang also das Feuilleton an!« (Zifferer ab.)

Man hört die Stimme des Herrn aus dem Nebenzimmer: »Erdbeben in der Türkei? Ich will nichts mehr wissen! Alle werf ich heraus!« Der Redakteur zuckt zusammen. Der Vorhang fällt.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 357/358/359, XIV. Jahr
Wien, 5. Oktober 1912.