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Oktober, November 1912

Das ist der Krieg - c’est la guerre - das ist die Zeitung!

Der Himmel südlich von Stara Zagora ist blutrot vor Scham. Österreich ist auf dem Balkan durch Impressionisten vertreten. Nie sind größere Greuel verübt worden. Die Feuilletonfratze beschmiert sich mit Blut. Der Zierat der Nichtswürdigkeit verhöhnt unendlichen Menschenjammer. Österreich spielt eine Partie Sechsundsechzig. Die Türken verrichten ihr Abendgebet. Österreich hofft bei der großen Teilung die meisten Eindrücke, Stimmungen und Beobachtungen zu bekommen. Die Telegraphenämter sind erobert. Es finden Wortmassakers statt. Unbeschreibliches Elend dient elender Beschreibung. Die Gefangenschaft ist eine Gelegenheit. Der Sieg ein Interview. Eine zügellose Horde von Gewährsmännern überfällt die Verwundeten mit Poesie. Den Leichen werden Details abgenommen. Pest und Plastik gehen um. Auf bulgarischer Seite kämpfen Zifferer und Klein. Andere haben sich zu den Serben geschlagen, andere zum Feind. Sie verständigen sich durch Kriegsrufe. Hat der eine: Voina! Voina! gerufen, so sagt der andere: Jawasch! Jawasch! Darauf antwortet der im türkischen Hauptquartier: Kismet! Kismet! Klein sagt: Das ist der Krieg! Zifferer erwidert: C’est la guerre. Ich sage: Das ist die Zeitung! Und ich beweise es:

Sophia, 15. Oktober.

Die Entscheidung ist gefallen, sie lautet: Krieg! Alle Wünsche und Hoffnungen auf Frieden sind tot In Serbien sind die Militärtransporte zu Ende, so daß die Züge wieder verkehren werden. Damit ist dem peinlichen Zustande ein Ende bereitet, daß wir tagelang ohne Nachrichten, ohne Zeitungen aus der Heimat blieben ....

C’est la guerre. Wir warten jede Stunde darauf, abberufen zu werden. Die Quartiermacher sind bereits abgegangen.

Zustellung der Legitimationen an die Kriegskorrespondenten in Sophia.

(Telegramm unseres Spezialkorrespondenten.)

Sophia, 15. Oktober

Gestern erhielten die Kriegskorrespondenten ihre Legitimationen zugestellt. Es sind bis jetzt 55 Korrespondenten der größten europäischen sowie amerikanischen Blätter hier.

Die Ankunft der Kriegsgefangenen in Podgoritza.

(Telegramm unseres Spezialkorrespondenten.)

Podgoritza, 14. Oktober, 7 Uhr abends.

.... Die montenegrinischen Einwohner von Podgoritza stehen laut los vor ihren Häusern stets derselbe herbe Ernst .... Nur vor dem Hotel auf der Promenade herrscht regeres Leben, die beiden Attachés und einige Kriegskorrespondenten sind dort im Gespräch begriffen. Da kommen die Gefangenen heran .... Zu erst Offiziere zu Pferd ohne Säbel .... mit steinerner Ruhe reiten sie da her. Dahinter ein fesselndes Gemisch von Angehörigen des Ottomanischen Reiches .... Die Frauen haben die Schleier zurück geschlagen, eine junge Schönheit unter ihnen, die echt weiblich verschämt lächelt .... Was mag der gefangene türkische Offizier, der vorne reitet, empfinden, wenn er an seinen Harem denkt, der da hinten den Blicken der Gjaurs ausgesetzt ist ....

Vor der Abreise ins bulgarische Hauptquartier.

Nun also hat der Krieg doch begonnen .... Fremde fühlen sich in das Schicksal des Volkes verstrickt, dessen Gastrecht sie genießen, wollen irgendwie teilnehmen an den großen Ereignissen. Und es lockt die Gefahr .... Seltsam, geheimnisvoll sind die Bräuche des Krieges .... Und immer lauter tönt der Ruf, bis er die ganze Stadt erfüllt: »Voina, Voina! Krieg, Krieg!« Ein bulgarischer Kutscher, der eben das Manifest hoch oben auf seinem Bock liest, faltet umständlich das große Blatt zusammen, wie wir an ihn die Bitte richten, uns hinaus in ein Dorf zu fahren .... Sehr einfach ist die Königin gekleidet, wie es sich für einen so strengen Anlaß ziemt ... Aber es ist doch gerade in ihrer Einfachheit etwas, das sie absondert, das sie als Zaritza erkennen läßt. Sie hat das richtige Maß, die richtige Haltung, ganz von selbst bildet sich eine Gasse, wie sie nun niederkniet, um für das bulgarische Volk zu beten .... Und einer ist unter ihnen mit buschigen, zerzausten Brauen, der im weißen härenen Mantel sich ausnimmt wie ein Anachoret .... Und dann immer wieder dies eine Wort Herr, o Herr! wie auf den Grundakkord all der Glocken gestimmt, die durch die Stadt klingen: Herr, erlöse uns, o Herr! .... Voina! Voina! .... Und da geschieht es, daß ein kleines Kind, im Arm seiner Mutter hochgehalten, plötzlich zu weinen beginnt, mit einem dünnen, kleinen Stimmchen, so bitterlich und so ganz vom Herzen, wie nur Kinder zu weinen verstehen. Das geht einem seltsam nahe. Vom großen Kronleuchter in der Mitte der Kathedrale löst sich ein kleiner Kristall und springt zum steinernen Boden nieder ....

Paul Zifferer.

Auf der Fahrt ins bulgarische Hauptquartier.

Stara Zagora, 22. Oktober, 10 Uhr 30 Minuten vormittags.

Gestern um ¾11 Uhr verließ der Zug, der die Militärattachés und Kriegskorrespondenten in das Hauptlager von Stara Zagora brachte, Sophia .... Lachend preßten wir uns in den paar Abteilen zusammen, die man für uns reserviert hatte. Vergnügt fanden sich die verschiedenen Nationen zusammen und ließen sich, bunt durcheinander gemischt, im Speisewagen nieder, wo in drei Abteilungen ein Dejeuner serviert wurde. Minister Frangia und der bulgarische Gesandte in Paris, Stanciow, machten in liebenswürdiger Weise die Honneurs. Ich sprach mit ihnen später in ihrem Salonwagen .... Minister Frangia hatte ich bereits Gelegenheit, zu schildern. Herr Stanciow ist ein eleganter Mann, Typ Pariser Viveur .... Auf den Stationen sieht man nur kriegerische Gestalten, Stationschefs, Beamte, Arbeiter, alle sind in Uniform .... Man ist hier den kriegerischen Ereignissen näher als in der Hauptstadt, man ist aufgeregter und nervöser. In einer Station hinter Philippopel erzählt ein Stationsbeamter, daß sie am Tage, an dem das Königsmanifest erlassen wurde, von früh morgens bis spät abends Kanonendonner gehört haben .... Inzwischen ist die Nacht herein gebrochen und friedlich strahlt der Mond über den von ihren Bauern verlassenen Feldern. Plötzlich große Aufregung im ganzen Zuge. Über den Bergen, die im Süden die Hoch ebene begrenzen, leuchtet greller Feuerschein auf. Die Türken können dort nicht sein, es müssen also Komitatschis aus Macedonien sein, die ein von Türken bewohntes Dorf niederbrennen. Langsam verschwindet die wilde Fackel des Krieges am Horizont, die Aufregung legt sich und alle Welt widmet sich dem lukullischen Souper, das man im Speisewagen serviert. Gegen Mitternacht sind wir endlich in Stara Zagora. Hier harrt unser eine große Überraschung: Man hat wohl Quartiere für uns in der Stadt bestellt, aber keine Wagen, um uns hinzuschaffen. Die Bulgaren wollten uns in ihrer Aufmerksamkeit eine Probe von den Strapazen geben, die unser noch warten. Mais c’est la guerre. Anfänglich brummte man, aber schließlich schickte man sich ins Unabänderliche und installierte sich im Eisenbahnwagen, so gut es ging .... Ich habe die Gastfreundschaft des martialisch einherklirrenden Stationschefs in Anspruch genommen, um diesen Bericht schreiben zu können. Während ich diese letzten Zeilen schreibe, steigt langsam die Sonne empor, und meine ganze Hoffnung geht jetzt auf eine Tasse warmen Kaffees.

Ernst Klein.

Feuilleton.

Im Lager der Sieger von Kirkkilisse.

(Persönliche Eindrücke als Augenzeuge eines Gefechtes.)

(Telegraphisch eingetroffen.)

Endlich also beginnt wirklich das Abenteuer. Hinter mir liegt das Hauptquartier. Ich sitze allein auf dem Tender einer Lokomotive neben einem berußten Heizer, der in einem fremdartigen Gemenge von Bulgarisch und Türkisch auf mich einspricht und mir doch erst angenehm verständlich wird, wie er sein Mittagmahl mit mir teilt: eine Handvoll Nüsse und ein Stück Schafkäse. Irgendwo in einem Dorfe gesellt sich ein bulgarischer Soldat zu uns .... glänzend blicken die Augen durch große, runde Brillengläser .... in seinen Augen flackert es von einem großen, dämmerhaften Erleben, das alles andere klein und nebensächlich erscheinen läßt; seine Augen spiegeln schreckhaft geheimnisvoll die Mondsichel in den Weingärten von Kirkkilisse.

So tritt mir gleich zu Beginn der Krieg entgegen .... dahinter liegt ganz nahe, mit der Hand zu greifen, das Rhodopegebirge .... Dort oben, nur wenige Kilometer weit, wird gekämpft, ein kleiner Ausflug muß zur Gefechtslinie führen. Wer mag der Versuchung widerstehen?

Manchmal knackt es im Gebüsch, man bleibt einen Augenblick ab wartend stehen, dann vernimmt man fernen Hufschlag .... Und mit einem Male ist es einem, als hörte man irgendwoher, vom Wind zugetragen, einzelne Takte des kriegerischen Hymnus, der seit vielen hundert Jahren alle Gefechte der Bulgaren begleitet: Schumi Maritza .... hoch auf rauscht die Maritza vom strömenden Blut.

.... eine glühende Zunge streckt sich vor und daneben wieder eine .... bis in Hals und Schläfen fühlt man das Blut pochen .... Ganz flach liege ich auf meinem Hügel hingestreckt und spähe durch das Glas ins Weite .... und ganz ferne, wie ein Hauch .... Schumi Maritza — hoch aufschäumen die Wasser der Maritza von strömendem Blut .... Da ist einem jungen Menschen die Kugel durch und durch bei der Brust hinein und beim Rücken hinausgefahren. Zwei winzige rosene Tupfen bezeichnen die Stelle .... nur die Leichtverletzten werden hier im Lazarett behalten .... Freilich gibt’s auch in diesem Lazarett, wie merkwürdiger Weise in jedem Hospital, lustige und traurige Abteilungen, obzwar die Verletzungen der Leute aus dem lustigen Zimmer oft die schweren sind ....

Und wieder geht’s am Ufer der Maritza entlang. Ein wenig betäubt noch fühlt man sich, wie vor den Kopf geschlagen. Wenn man sich jetzt zum Strom niederbeugt, glaubt man wirklich, in seinen Wassern rotes Blut aufrauschen zu sehen, aber es ist nur die Sonne, die vollends unter dem Horizont verschwindet .... Immer lauter tönt es »Kirkkilisse!« Die Glocken läuten »Te deum laudamus!« Niemand aber gedenkt des kleinen Gefechtes oben im Rhodopegebirge und seiner namenlosen Helden.

Paul Zifferer.

Betrachtungen eines Kriegskorrespondenten.

(Von unserem Spezialkorrespondenten.)

Seit heute früh, da wir unseren Fuß in die Stadt setzten, haben wir uns alle, wie wir da sind, unaufhörlich geärgert. Man hatte uns, wie ich Ihnen vertrauensvoll und hocherfreut telegraphiert, gestern abends gesagt, Quartiere wären für uns besorgt. Darauf hatten wir uns zufrieden auf die erhitzten Eisenbahnpolster gelegt und ein wenig geschlafen. Als wir dann in der Früh mit unserem Gepäck in die Stadt wollten, stellte sich heraus, daß kein Mensch an unsere Unterbringung gedacht hat. Stellen Sie sich unsere Lage vor ....

Dann ging der Ärger los mit den Depeschen. Wir hatten, wenn auch keine Schlachtberichte, so doch unsere Eindrücke zu telegraphieren — wir hatten ja auf der langen Fahrt Zeit genug gehabt, Eindrücke zu sammeln. Und nun standen wir da und konnten sie nicht los werden. Für die Staats-, für die militärischen und für die journalistischen Depeschen gab es gestern nach Sophia nur einen einzigen Draht und nur einen einzigen alten, wackeligen Morse-Apparat. Ich ließ meine erste Depesche um 8 Uhr morgens los, als ich um 6 Uhr abends mit einer anderen Depesche an den Telegraphenschalter kam, saß ein Beamter in seinem Stuhle und studierte alle die schönen Impressionen meiner gestrigen Reise, die ich in 664 Worte zusammengepreßt hatte. Daß ich über diesen Anblick nicht sehr erbaut war, kann man sich gewiß leicht denken ....

Der Bulgare ist der Vorwärtsstrebende, der Sentimentslose. Der mit atemloser Energie nach allem greift, was ihm die Kultur des Abendlandes geben kann .... Und nichts spricht deutlicher für ihren Fortschritt als das Entgegenkommen, das sie den fremden Korrespondenten beweisen. Sie wissen ganz genau, daß wir die öffentliche Meinung Europas repräsentieren, daß Europa durch unsere Augen sieht ....

Der Türke dagegen! Er ist der Träumer geblieben, der er war; ist zwischen den Suren seines Korans hängen geblieben .... Was ist ihm Fortschritt, was Kultur! In der Dämmerung, die der Koran über sein Leben verbreitet, fühlt er sich wohl, und feindselig wendet er sich gegen das Neue, das ihn zwingen will, sein ganzes Denken, Fühlen und Handeln um und um zu kehren. Er will nichts davon wissen und verschanzt sich in seinen Moscheen gegen den Ansturm der modernen Zeit ....

Ernst Klein.

Bulgarisches Hauptquartier Stara Zagora, 22. Oktober, 7 Uhr abends.

Der Präsident der Sobranje, Danew, der im Hauptquartier als Vertreter der Regierung an der Seite des Königs den Krieg mitmacht, hatte die Liebenswürdigkeit, Ihren Korrespondenten zu empfangen und ihm folgende Details über die Kämpfe der letzten Tage zu machen .... »Das ist mein Sohn«, sagte der Präsident der Sobranje, »er studiert Jura in Leipzig und dient als einfacher Soldat. Er ist erst 18 Jahre alt und wäre erst mit 20 Jahren stellungspflichtig, aber er hielt es nicht mehr aus ....«

Ein Gespräch mit den Gefangenen.

Bulgarisches Hauptquartier Stara Zagora, 22. Oktober, 9 Uhr 16 Minuten abends.

Heute wurden die ersten Gefangenen, die bei der Besetzung von Kadiköi durch die Bulgaren gemacht wurden, nach Stara Zagora gebracht. Es waren ein Korporal und sieben Mann, arme Teufel, schlecht gekleidet und schlecht genährt ...

Ich fragte sie, warum sie sich hätten gefangennehmen lassen.

»Wir haben uns selbst gestellt, Herr, wir wollten unsere Seelen retten.« ...

»Habt ihr immer euren Sold bekommen?«, fragte ich einen alten, mindestens fünfzigjährigen Menschen ....

Beim Abschied drückte ich dem Unteroffizier vier Francs in die Hand, damit er sie mit den Gefährten teile. Ich habe selten so strahlende Gesichter gesehen.

Eindrücke in Stara Zagora.

23. Oktober.

.... General Fitschew ist ein mittelgroßer untersetzter Mann mit einem runden vollen Gesicht, dessen Haut etwas rosiges hat und durchsichtig zart scheint. Nur wenige weiße Fäden mischen sich in den dunklen Schnurrbart, und blitzschnell beweglich sind die kleinen Äuglein, laufen ruhelos hin und her, als wollten sie seiner eigenen Seßhaftigkeit widersprechen, als wollten sie zugleich nach außen und nach innen blicken .... Wenn der König sich im Hauptquartier aufhält, wohnt er in dem Hofsonderzug, der für ihn und seine Suite auf dem Bahnhof bereit steht. Auch vor diesem Zug wartet stets eine geheizte Lokomotive, zur Abfahrt gerüstet, dampfend, zischend, pfauchend, als könnte sie es nicht erwarten, gegen den Feind loszustürmen, ihn mit ihrer breiten, stählernen Brust zu zermalmen .... Ein Offizier tritt ein, verteilt Zigarettentabak unter die Gefangenen, dann Brot und Käse ... dann beginnen alle bedächtig zu essen, zwei Tage lang schon haben sie Hunger gelitten. Gleichwohl schlingen sie die Speisen nicht gierig hinunter, sondern brechen langsam, umständlich das Brot .... Ein ganz kleines Kätzchen schleicht sich zu dem jüngsten Gefangenen, schmiegt sich an ihn, will sich nicht mehr vertreiben lassen. Und der junge türkische Soldat gibt dem Kätzchen von seinem Käse und seinem Brot zu kosten, vielleicht .... um zu sehen, ob die Speise, die man ihm so freigebig reicht, nicht doch am Ende irgend eine Schädlichkeit enthält .... Das ist der Krieg.

Paul Zifferer.

Authentische Mitteilungen über die Situation auf dem türkisch-bulgarischen Kriegsschauplatz.

Bulgarisches Hauptquartier Stara Zagora.

24. Oktober.

Heute früh trafen hier 300 gefangene Türken mit zwei Offizieren ein ... die jedoch sehr ermüdet waren .... Die Offiziere wurden in das Militärkasino geführt, wo man sie sofort mit einem einfachen Frühstück bewirtete .... Man führte sie in den großen Speisesaal, setzte ihnen Likör und Käse vor, und sie ließen es sich gut schmecken. Das Wichtigste für den türkischen Soldaten, die Zigaretten, hatte man ihnen schon auf dem Bahnhofe überreicht. Den Hintergrund des Saales schmückt ein Bild, das die Schlacht bei Stara Zagora darstellt; bulgarische und türkische Soldaten ringen erbittert um eine bulgarische Fahne. Es ist kein großes Kunstwerk, ein einfacher Soldat hat es gemalt, aber es hat eine gewisse Plastik und Kraft. Heute fand es keine Bewunderer, weder Gastgeber noch Gäste streiften es mit einem einzigen Blick. Man trank friedlich Tee miteinander und plauderte über dies und das.

Durch die Liebenswürdigkeit zweier Herren von der Zensur, Dr. Radew und Dr. Balabanow, wurde es mir möglich, mit den bei den gefangenen türkischen Offizieren zu sprechen ....

»Wir waren«, erzählte der Hauptmann, »im ganzen drei Bataillone, etwa 800 Mann .... Wir haben uns tapfer geschlagen, aber das Ge schick war gegen uns. Kein Glück ist launischer als das des Krieges

.... Als ich dem Hauptmann sagte, daß ich sehr oft in der Türkei gewesen sei und mehrere gute Freunde unter den türkischen Offizieren habe, und daher weiß, daß sie eine solche würdige Behandlung verdienen, lächelte er resigniert und sagte: »Sie sehen uns jetzt ohne alles, ohne Waffen, ohne Wehr, nicht einmal Visitkarten haben wir bei uns, aber wenn Sie Freunde unter uns haben, so wissen Sie ja, wie der türkische Offizier aussieht, wie er kämpft.« Dann schüttelten wir uns die Hände und schieden mit dem feierlichen Selam der Mohammedaner. Ruhig und gelassen setzten sich die türkischen Offiziere wieder nieder und schlürften ihren Tee, wie wenn sie in ihrer Kaserne und nicht in der Offiziersmesse des siegreichen Feindes säßen. Allah hat es so gewollt. Kismet.

Ernst Klein.

Auf dem Wege nach Uesküb.

Serbisches Hauptquartier Vranja, 24. Oktober.

.... »À guerre comme à la guerre«, aber man sieht, daß ein wenig Menschlichkeit auch im Kriege blühen kann .... In Vranja selbst beginnt es, ein wenig fatal zu werden. Daß man zum Frühstück schwarzen Kaffee mit Weißbrot genießen muß, weil es weder Milch noch Eier oder Butter gibt, das läßt sich leicht ertragen. Auch wenn man auf viele andere Fragen nach Genußmitteln die stereotype Antwort: »Ne mam« bekommt, kann man sich trösten. Aber es gibt hier keine Zigaretten mehr Und das ist sehr, sehr schwer zu ertragen. Besonders die französischen Kollegen sind der Verzweiflung nahe, und wir sinnen nun auf Mittel und Wege, Bettstroh oder altes Zeitungspapier irgendwie rauchbar zu machen. Man sieht, so ein Krieg kann sogar aus der Perspektive des Hauptquartiers sehr unangenehm werden.

Bulgarisches Hauptquartier.

Stara Zagora, 24. Oktober.

Der König fuhr mit seinen Söhnen in einem offenen Automobil, dem ein zweites mit seinem Privatsekretär Weich folgte. Der König kam am Gebäude des Zensurbureaus vorbei, wo gerade sämtliche Kriegskorrespondenten auf die Ausgabe eines Bulletins warteten. Der König dankte für unseren Gruß in sehr freundlicher Weise. Als er sah, daß einige von uns ihre photographischen Apparate richteten, ließ er seinen Wagen halten. Generalissimus Sawow, der zufällig des Weges kam, trat heran und der König hatte ein längeres Gespräch mit ihm. Nach einer Viertelstunde verabschiedete er sich von Sawow, winkte den Korrespondenten freundlich zu und fuhr davon.

Türkisches Hauptquartier Sejdler, 24. Oktober.

5 Uhr abends .... Die Bulgaren stehen bereits in Lüle Burgas! ... Ich gestehe: auch mir, wie uns allen, wird etwas bänglich zu Mute.

Küstendil, 24. Oktober.

Die bulgarischen Artilleristen sollen sehr gut zielen. Bei Winitza schlugen ihre Geschosse direkt in die Mündungen der türkischen Geschütze ein ....

Vranja, 26. Oktober.

.... Was nützt es, wenn man sich immer wieder sagt: »C’est la guerre« .... Wir Kriegsberichterstatter sind leider weit weg vom Schuß und haben wenig, sehr wenig Aussicht, auch nur ein einzigesmal an die Gefechtslinie zu kommen und Pulverdampf um uns her aufsteigen zu sehen ....

Feuilleton.

Gefecht vor Adrianopel.

(Telegraphisch eingetroffen.)

Seit zwei Tagen nun schon kann ich mich an dem Schauspiele nicht sattsehen, wie in der Ferne aus dem silbernen Morgen die Festung Adrianopel auftaucht, mit ihren Wällen und Türmen als ein Schimmer am gewundenen Ufer der Maritza hingebreitet .... Früh am Tage umhüllen die flatternden Nebel, dann später Pulverdampf die Stadt, wie lichte Schleier das Antlitz einer schönen Frau .... man fühlt sich selbst mit geheimer grundloser Sehnsucht zu dieser fernen Stadt hingezogen, man will zu ihr hineilen, sie gleichsam selbst erobern, in Besitz nehmen.

Die Weckuhr, die mir ein bulgarischer Offizier geborgt hat, spielt das Nationallied »Schumi Maritza« .... ein Soldat singt im Traum .... Und plötzlich zucken am Horizont rote Lichter auf Wir wissen, die Scheinwerfer sind’s so weit es angehen will, schleicht man sich heran ....

Es ist etwas ganz Merkwürdiges um diesen Kampf von Menschen gegen eine Stadt. Auf der einen Seite erblickt man eine Armee, Soldaten, die vorrücken, sich bewegen, auf der an deren Seite steht etwas Unpersönliches, Festungsmauern, die sich als steinerne Brustwehr dem Feinde entgegenstrecken Raben .... Sind’s dieselben Raben, die im Park von Sophia so überlaut ihr Wesen trieben, als man die jungen Leute zu den Waffen rief? ... Raben .... hier und dort blüht die Herbstzeitlose und der Krieg geht durchs Land.

In den wenigen letzten Tagen hat man sich an die ungestüme Sprache der Geschütze, die das Herz anfangs lauter pochen ließ, vollständig gewöhnt. Man wacht des Morgens auf, wenn schon die Salven über das Feld hinfegen, und man schläft des Abends ein, während es noch knackt und prasselt. Ein Schaf hirt aus Duvanza kommt mit seiner Herde zu meinem Hügel her über .... Der Krieg ist für sie (die Schafe) vermutlich ein Naturereignis, mit dem man sich abfinden muß. Allmählich lernt man es auch, die Stimmen der einzelnen Geschütze auseinander zu halten .... Einen Ruck gibt es einem, wenn man zum erstenmal ein Geschoß explodieren sieht .... nach einer Weile indessen hat man sich auch an dieses erstaunliche Schauspiel gewöhnt, die Aufmerksamkeit wendet sich nun züngelnden Flammen zu, die rings in der Landschaft emporschnellen ....

Der Kundige mag von einem Hügel aus ein Gefecht überblicken, der menschliche Teil des Krieges indessen er schließt sich einem gerade dann am besten, wenn .... man sich zu den Kämpfenden gesellt, stundenlang in einer und derselben Stellung ausharrend, eines geheimnisvollen Schicksals gewärtig. In einem modernen Gefecht muß man freilich die Kämpfenden erst mit vieler Mühe suchen, Wachen und Vorposten weisen den Weg durchs Wasser, dann bergauf, berg ab, und es ist nun wieder sehr merkwürdig, die Armee, die man bisher in eine Schnur aufgerollt sah, nun gleichsam im Quer schnitt kennen zu lernen, indem man .... von dieser Wagenburg bis nahe zu den Schützenlinien vordringt .... und dazwischen ist’s einem, als hörte man ein leises Gurgeln .... durchs Glas kann man die wutverzerrten Gesichter erkennen. Ein bulgarischer Infanterist, klein und untersetzt, rennt einem baumlangen Türken das Bajonett in den Leib; man sieht, wie dieser die Arme ausbreitet und nach rückwärts umsinkt, Schaum vor dem Munde. Und dann ein seltsames Begegnen: ein Soldat, mit irgend einer Erdarbeit beschäftigt, streckt mir die Hand entgegen; sein Vater hat mir früher im Hauptquartier von Stara Zagora Unterstand gegeben, gerade als der junge Mensch zu den Fahnen gerufen wurde; nun soll ich ihn bei der Rückkehr von seinem Sohne grüßen .... mein Kutscher erweist sich als ein mürrischer Mann .... Auch er hat den Krieg vergessen. Oder will er auf eigene Faust Adrianopel erobern? ... nur einmal ist’s, als hörte man einen singenden Ton in der Luft und dann noch einmal .... Ohne ein Wort zu sprechen, wendet der Kutscher den Wagen .... Wenn man auf die Dampfwalze hinaufklettert, genießt man einen prächtigen Aus blick auf Adrianopel. Zum Greifen nahe liegt die Stadt jetzt da eine Kugel sitzt in seiner Stirne, er atmet nicht mehr .... Es kreischen die Raben in der Luft .... und im roten Widerschein steht hell und klar der Abendstern, der Stern von Bethlehem: Friede auf Erden.

Paul Zifferer.

Tarnow, 2. November.

.... hielt Oberrabbiner Schnur eine von Patriotismus durchdrungene Ansprache. Er sagte unter anderm: »Soldaten! Wir leben in einer sehr ernsten Zeit und trotz der allgemein gepriesenen Friedens liebe unseres Monarchen kann niemand voraussagen, was im Schöße der Zukunft schlummert .... Sollte aber die göttliche Waltung es an ders bestimmen, zieht mutig aus ....«

(Aus Montenegro.)

Ankunft der Kolonne des österreichischen Roten Kreuzes.

Rjeka, 25. Oktober.

.... Bei dem Anlasse wurde auch das dem Militärattaché zugeteilte Mitglied des Freiwilligen Automobilkorps, Alfred Grünhut, dem König vorgestellt.

Bulgarisches Hauptquartier Stara Zagora, 25. Oktober.

.... Die Bulgaren sind in Kirkkilisse hineingerannt, wie in ein Haus mit offenen Türen und haben der Welt wieder einmal bewiesen, daß alle Theorie grau ist.

.... Die Bulgaren haben sich auf den langen Diskurs mit dem Feuern gar nicht erst eingelassen. Sie haben das Gewehr beim Kolben gepackt, haben ihr Hurra gebrüllt und sind auf den Feind los. Wie viel Tote und Verwundete sie dabei auf ihrem Wege liegen ließen — das sagen sie allerdings nicht, aber item, sie haben die Theoretiker ad absurdum geführt. Jetzt aber kommt das Merkwürdigste. Sie bilden sich gar nichts darauf ein. Oder wenn sie es tun, so sagen sie es nicht. Ich telegraphiere Ihnen ja die offiziellen Bulletins — können Sie sich etwas Nüchterneres, Trockeneres vorstellen? ... Es kann also niemanden Wunder nehmen, daß so geartete Leute keine Reklame für sich in der Weltgeschichte machen .... Ich weiß nicht, wie es am Tage des Sieges in der Hauptstadt, in Sophia, aussah, aber das eine weiß ich: in Stara Zagora gibt es zwanzigtausend Bulgaren und achtzig ausländische Korrespondenten, und die zwanzigtausend Bulgaren zusammen waren nicht so aufgeregt als wir achtzig .... So eine Sensation wie der Fall von Kirkkilisse, und man kann sie nicht telegraphieren! ... Wie ich bereits telephonisch mit teilte, erschien der König gestern auf einmal mit seinem Automobil in der Stadt .... Und nun war er auf einmal da, mitten unter uns. Plauderte vor unseren Augen und vor unseren Kodaks über eine Viertelstunde mit dem Generalissimus, den der liebe Gott, um die Szene noch interessanter zu machen, gerade des Weges daher schickte, und als er beim Abfahren uns, die wir in dichten Haufen das Automobil umstanden, in der denkbar besten Laune zunickte, da wußten wir alle ganz bestimmt, daß Losengrad gefallen war ....

Endlich nach einer unendlich langen halben Stunde, erschien der Leiter des Zensurbureaus, Major Lefteherow; sein hübsches blondes Soldatengesicht strahlte, und in der Hand schwang er das offizielle Bulletin: »Losengrad tombé.« Das war alles, was er uns zurief .... Am nächsten Morgen fand die große Dankmesse statt, hochoffiziell, mit all dem äußeren Prunk und Pomp, der für solche Haupt- und Staatsaktionen gebührt .... der Metropolit zelebrierte die Messe, angetan mit seiner schweren Krone .... Stattlich sah der König aus in seiner graubraunen Felduniform, stattlich und stolz, und er blieb es sogar, wenn er sich herabbeugte, um die Bibel und des alten Metropoliten Hand zu küssen, die ihm das heilige Buch entgegenhielt. Keinen Zoll tiefer beugte er sich, als es nötig war .... Die armen alten Priester — sie sangen mit ihrer ganzen Inbrunst, mit ihrer ganzen Kunst — und der König stand da, stattlich und stolz ....

Ernst Klein.

Bulgarisches Hauptquartier Stara Zagora, 26. Oktober.

Ihr Korrespondent sprach heute mit zwei hochgestellten Persönlichkeiten, die das Vertrauen des Königs besitzen ....

Stanciow sagte: ».... wir Bulgaren machen nicht gern Reklame für uns .... Wir wissen noch keine Details über den Verlauf der Schlacht .... Selbst der König weiß noch nicht mehr. Und wenn wir mehr wissen, werden wir nichts sagen ....«

Sobranjepräsident Danew bemerkte:

»Ich habe Ihnen schon oft gesagt, wir Bulgaren sind nüchterne Leute, ebenso der König. Wir haben einen großen Sieg errungen, das genügt uns .... Wir wollen keinen Lärm machen.

Über die Einnahme von Kirkkilisse haben wir selbst noch keine detaillierten Berichte ....

Über die Bedeutung des Sieges vermag ich als Nichtmilitär nicht zu urteilen

Bulgarisches Hauptquartier Stara Zagora, 27. Oktober.

Es zirkulieren allerlei unkontrollierbare Gerüchte, so von heftigen Kämpfen im Tamgebiete ...

Tatsächlich war gestern der Himmel südlich von Stara Zagora zeitweise gerötet; von Zeit zu Zeit sah man ein Aufblitzen. Offizielle Erklärungen fehlen jedoch ....

Als der König an dem Restaurant vorbeikam, wo die Militärattaches und die Korrespondenten saßen, grüßte er freundlich hinein.

Vom neuen bulgarischen Hauptquartier.

Mustapha Pascha, 28. Oktober, 5 Uhr.

Heute früh um 7 Uhr fuhren wir von Stara Zagora ab und kamen um 1 Uhr in Mustapha Pascha an.

Je näher man dieser Stadt kommt, die jetzt auf bulgarisch Svilen heißt, desto mehr spürt man den heißen Atem des Krieges.

Mustapha Pascha, 2. November.

.... Als der König ausstieg, öffnete ein Soldat die Tür und überreichte ihm einen kleinen Blumenstrauß, den der König sichtlich erfreut entgegennahm. Nach der Messe bestieg der König, auf dessen Gesicht man die Freude über die Erfolge der bulgarischen Waffen bei Bunar Hissar lesen konnte, das Automobil und sprach mit dem kommandierenden General ....

Sophia, 26. Oktober.

Die Erkenntlichkeit für die gute Pflege wurde noch erhöht, als zu dort liegenden zwei bulgarischen Offizieren einige Frauen mit Blumen kamen, welche auch dem Major freundlich die Hand reichten. Im Hotel in Stara Zagora wohnen ein türkischer Hauptmann und ein Leutnant als Gefangene ohne Bewachung. Der Hoteleigentümer Ivan Abanosow sorgt für die Gefangenen aufs Beste.

Serbisches Hauptquartier Vranja, 26. Oktober.

.... Wer sich über den Mangel jeder Bademöglichkeit und über die Unvollkommenheit verschiedener anderer, sehr unentbehrlicher Örtlichkeiten beklagt, den sollte man durchaus nicht auf den Kriegszustand verweisen, weil es in Friedenszeiten in Vranja wahrscheinlich nicht viel besser ist.

Eindruck des Freitag-Artikels der »Neuen Freien Presse« im serbischen Hauptquartier.

(Telegramm der »Neuen Freien Presse«.)

Serbisches Hauptquartier Vranja, 28. Oktober.

Der Leitartikel im Morgenblatt der »Neuen Freien Presse« vom Freitag erregte im Hauptquartier großes Aufsehen; das Blatt ging bis nachts von Hand zu Hand.

Man konstatiert hier aus dem Artikel mit Freude, daß die »Neue Freie Presse« Serbien seine Erfolge gönnt ....

Zustimmende bulgarische Äußerungen zu den Artikeln der »Neuen Freien Presse«.

(Telegramm der »Neuen Freien Presse«.)

Sophia, 29. Oktober.

Die der Erhaltung des Friedens gewidmeten Leitartikel der »Neuen Freien Presse« wecken hier lauten Beifall.

Sämtliche Tagesblätter kommentieren anerkennend die Ausführungen der »Neuen Freien Presse«.

Ein gewesener Minister sagte heute: »Wir beweisen, daß wir vollwertig sind ....«

Die »Neue Freie Presse« und die Türkei.

In Gegenwart des ottomanischen Unterhändlers Fahreddin Bey und des Botschaftsrates Blacque Bey empfing heute der neue ottomanische Botschafter am Wiener Hofe und ehemalige Großvezier Hilmi Pascha einen Mitarbeiter unseres Blattes.

Hilmi Pascha begrüßt in dem Besuche den Vertreter der »Neuen Freien Presse« und sagt: »Die ›Neue Freie Presse‹ genießt seit langen Zeiten großes Ansehen im Orient, und wir wünschen dringend, daß sie auch in diesen für uns so ernsten Tagen mit ihren Sympathien zu uns stehe .... Ich möchte Sie auch daran erinnern, daß die ›Neue Freie Presse‹ seit undenklichen Zeiten, seit den Tagen Middath Paschas, uns wohlgesinnt war. Ich empfehle unsere Sache auch Ihrem bei uns im Orient viel gelesenen und hier so einflußreichen Blatte ....«

Der Halbmond unter Wolken.

Konstantinopel, 29. Oktober.

Über Stambul fegt der Herbststurm hin. Dunkle Regenwolken führt er herbei und reißt das letzte vergilbte Laub von den Bäumen der Serailgärten .... Das war die erste trübe Wolke, die über den Halbmond zog .... Der Halbmond verfinstert sich. Daran ist nicht mehr zu zweifeln .... Sie erwarten voll Vertrauen, daß die Mondsichel bald wieder scharf und hell am Himmel erscheint .... Wer auf die Stimmen achtet, die sich jetzt erheben, kann nichts anderes wünschen, als daß der Halbmond wieder unter den Wolken hervortauche .... Der Halbmond gießt sein Licht über die Lager und Bivouaks der türkischen Truppen ....

M. Becher.

Das Geheimnis des bulgarischen Erfolges.

Und da entsinne ich mich eines Abends nach der Schlacht bei Lüle Burgas, der Regen fiel nieder, bedrückend, grausam, unbarmherzig, in der Luft war ein entsetzlich peinigender Geruch von Fäulnis und Tod, ganz ferne flammten rußend gespenstig die Scheiterhaufen ....

Man mag mit diesen bulgarischen Soldaten tage- und wochenlang gemeinsam leben, mit ihnen sein Brot teilen, in demselben Graben verschanzt, von der gleichen Gefahr bedroht sein — man kommt ihnen nicht näher ....

Gleich am Tage der Kriegserklärung wurde ein macedonischer Bäcker erschossen, der willkürlich seine Preise erhöht hatte ....

In Philippopel war’s. Ich hatte mit einem Freunde beim englischen Konsul den Tee genommen .... und als wir auf dem Bahnhofe einen bekannten General, den Platzkommandanten von Philippopel antrafen, ließen wir uns gern von ihm und seinen Offizieren in einem Gespräche festhalten, das sich bis zum Abgang des Zuges hinzog. Da, im letzten Augenblick, als ich eben die Koffer aufnehmen wollte — der englische Konsul hatte sich empfohlen — tritt wie aus dem Boden emporgetaucht, ein kleines Männchen in bürgerlicher Kleidung auf mich zu, nennt mich beim Namen, sagt, er habe mir eine Botschaft aus dem Hauptquartier mitzuteilen .... da stehen zwei baumlange Soldaten vor mir, halten ihre Bajonettspitzen gegen meine Brust. Nun ist es mir stets als eine der größten Gefahren des Krieges erschienen, daß plötzlich viel tausend Menschen, die sonst im Waffengebrauche ganz unerfahren sind, Gewehre in die Hand bekommen .... man verlangt, ich solle die geheime Korrespondenz herausgeben, die ich verborgen halte. Und schußbereit warten die Soldaten .... Schnell überdenke ich, was man wohl Verdächtiges in meinem Gepäck finden könne, und es fällt mir eine kleine zerfetzte türkische Fahne ein mit Halbmond und Stern, die ich von einer Kanone gelöst und zum Andenken mit mir genommen: Wird sie mir nun Verderben bringen? .... Und nun muß ich wieder des armen macedonischen Bäckers gedenken und seiner verglasten Augen, als er, so schnell gerichtet, am Boden lag; sein Antlitz spiegelte eitel Gutmütigkeit .... Und immer noch stehen die beiden Soldaten vor mir, das Bajonett drohend gesenkt .... Am nächsten Morgen freilich gibt’s Entschuldigungen aller Art, von Übereifer wird gesprochen, von Mißverständnissen und dergleichen. Ich bin wieder frei, kann gehen, wohin es mir beliebt, man lädt mich zu allerlei kriegerischen Veranstaltungen ein ....

Paul Zifferer.

Die Hoffnung auf Erhaltung des Friedens.

Gespräch unseres Spezialkorrespondenten mit Dr. Danew, Präsident des bulgarischen Parlaments, in außerordentlicher Mission nach Budapest gesendet.

Sophia, 14. November.

Der Sobranjepräsident Dr. Danew hatte die Liebenswürdigkeit, mich nach Schluß des Ministerrats zu empfangen und mir folgendes von seiner Budapester Reise mitzuteilen:

».... Die ›Neue Freie Presse‹ ist das meist gelesene und geschätzte Blatt in Bulgarien ....«

Die Belagerung von Adrianopel.

(Von unserem Spezialkorrespondenten.)

Stara Zagora, 8. November.

Meine Odyssee von Mustapha Pascha nach Stara Zagora zurück, wo ich mich bei der Zensurbehörde melden mußte, habe ich Ihnen bereits telegraphisch mitgeteilt .... Man schickte den sündigen Korrespondenten einfach zurück. Ich gestehe es offen, ich entging dem Schicksal nur, weil mich der Name »Neue Freie Presse« deckte ....

Wie ich Ihnen bereits telegraphiert habe, soll es nach den ersten Kämpfen schon zu schrecklichen Szenen gekommen sein ....

Wenn die Ortsnamen nicht zu stimmen scheinen, so bitte ich zu berücksichtigen, daß die Türken die Dörfer und Städte teilweise ganz anders benennen als die Bulgaren ....

Von den bulgarischen Positionen sahen wir nicht viel, das heißt, der uns begleitende Offizier tat sein möglichstes, um uns nicht viel sehen zu lassen .... Die Bulgaren sind sehr geschickt darin, ihre Batterien so zu maskieren, daß sie von den Türken erst dann bemerkt werden, wenn ihre Granaten und Shrapnells bereits Lücken in ihre Reihen reißen ....

Sonst donnern die Geschütze hinüber, herüber — gerade an diesem Tage hielten sie alle den Mund. Es war, wie wenn Belagerer und Belagerte sich beide verabredet hätten, uns armen Korrespondenten nichts zu zeigen.

Mit den entsprechend langen Gesichtern ritten die meisten auch wieder heim. Nur die, die schon heimlicherweise »etwas gesehen«, erklärten sich hochbefriedigt von dem schönen Ausflug.

Ich war sogar begeistert.

Ernst Klein.

Die Heerführer Bulgariens.

(Von unserem Spezialkorrespondenten.)

Stara Zagora, 11. November.

Da ist vor allem Sawow .... Erist ein Mann von rück sichtsloser, eiserner Energie, die sich wenn’s nötig, bis zur Brutalität steigern kann. Um den geschriebenen Buchstaben, selbst wenn er im Gesetzbuch steht, hat sich Michael Sawow noch nie viel gekümmert .... ein Diktator kat’ exochen. Ein solcher Mann, der so rücksichtslos alles beiseite schiebt, was sich ihm in den Weg stellt, muß sich Feinde machen ....

Neben seinem Namen muß man sofort den Fitschews nennen, des Generalstabschefs der bulgarischen Armee .... an seinem Schreibtisch wurde die Niederlage der türkischen Heere vorher ausgerechnet .... Dabei ein liebenswürdiger Mensch, der stets ein Lächeln auf den Lippen hat .... Feiner, schlanker repräsentiert er sich als Sawow und weiß sofort für sich einzunehmen, wenn man ihm in die großen, geistvollen Augen blickt.

Von gewandten gesellschaftlichen Umgangsformen ist auch Ratko Dimitrijew, der Kommandant der dritten Armee, der Kirkkilisse erobert hat. Napoleontscheto nennen sie ihn im Heere .... Man sah in ihm einen ebenso tüchtigen Heerführer wie Sawow — und Napoleontscheto hat die in ihn gesetzten Erwartungen auch nicht getäuscht.

Generalleutnant Kutintschew .... ist ein Soldat, wie er im Buche steht ....

Die zweite Armee, die Adrianopel belagert, wird von Generalleutnant Iwanow befehligt .... Die Belagerung einer Stadt ist die richtige Aufgabe für ihn. Der Mann der Akkuratesse, der Ordnung ist er, und er war nicht wenig entsetzt, als ausgerechnet ihm die hundertzehn Kriegskorrespondenten auf den Hals geschickt wurden ....

Noch ungebrochener Widerstand der Türken.

(Telegramm unseres Spezialkorrespondenten.)

Constantza, 15. November.

Ich habe alle Stellungen der Tschaidaldschalinie abgeritten .... Beide Flanken sind durch Seen und Sümpfe sehr gut geschützt und unbezwinglich, wenn die türkischen Soldaten halbwegs ihre Pflicht tun ....

Von Massacres haben weder ich noch meine Kollegen bisher etwas gemerkt ....

Nach meiner Ansicht dürften die Türken wenigstens zwei Wochen widerstehen. Stambul ist ruhig.

Die türkische Armee auf dem Rückzug nach der Schlacht von Lüle Burgas.

(Telegramm unseres Spezialkorrespondenten.)

Türkisches Hauptquartier Corlu, 1. November.

.... Geschützfeuer scheint den türkischen Vormarsch zu bestätigen und hoffnungsvoll lagern sich die Truppen und die Korrespondenten um lodernde Lagerfeuer auf rasch requiriertes Heu zu frostiger, taufeuchter Nachtruhe.

Der Morgen bringt bittere Enttäuschung durch die offizielle Mitteilung, daß die türkischen Truppen trotz des Erfolges am Tage vorher während der Nacht den Rückzug antreten mußten, Lüle Burgas wieder von den Bulgaren genommen sei und deshalb auch wir nach Corlu zurückkehren müssen. Die Niederlage ist also nicht mehr zu verheimlichen ....

Es fehlt bei der Mannschaft nicht an Todesverachtung und Disziplin ....

Hoffen wir also ....

Wirklich Schwerverwundete liegen häufig gänzlich verlassen am Straßenrand und bitten flehentlich, in der Meinung, wir seien Ärzte: »Guter Doktor, nimm uns mit!« Halbverhungerte Soldaten, auch Unteroffiziere, betteln um ein Stück Brot oder Zigaretten, aber alles in bescheidener Demut ....

Erst mittags kam in das Bild des fluchtähnlichen Rückzuges eine neue Note ....

Einstweilen aber sitzen wir wieder hier in Corlu in milder Kriegsgefangenschaft, ohne die geringste Möglichkeit, über die Kriegslage telegraphisch zu berichten.

Als Augenzeuge des Kampfes vom 29. Oktober.

(Von unserem Spezialkorrespondenten im bulgarischen Hauptquartier.)

Mustapha Pascha, 31. Oktober.

.... Ich hatte das Glück, dem Kampfe beizuwohnen, allein ich kann Ihnen die Details erst heute geben, da es mir vorher verboten war, mit meinen Kenntnissen zu glänzen .... Seit vorgestern nachts laufe ich mit der fertigen Depesche in der Tasche herum .... Man zeigte mir einen kleinen Hügel und schwor hoch und teuer, daß man von dort Adrianopel sähe. Gehorsam wanderte ich in der angegebenen Richtung los .... natürlich im besten Glauben von der Welt, daß ich mich genau an die Weisungen des Zensurbureaus hielt .... aber nichts war davon zu sehen, daß hier Menschen einander zu töten gesucht. Einen alten türkischen Uniformrock fand ich, das war alles .... Ganz in der Ferne .... hörte ich Kanonendonner, in den sich, je näher ich kam, immer deutlicher das Rattern und Knattern der Maschinengewehre mischte. Nun warf ich die letzten Bedenken hinter mich. Bis jetzt hatte ich nur das Gesicht des Krieges gesehen, hatte aus immer größerer Nähe seinen heißen, sengenden Atem gespürt. Nun hörte ich zum erstenmal seine Stimme .... diese Stimme setzte sich aus Gewalt, Erhabenheit und Grausen zusammen, die eine Harmonie sondergleichen bilden: die Harmonie des Todes .... Leider darf man infolge der Diskretion, welche die bulgarische Zensur auferlegt, nicht sagen, woher und wohin sie marschierten. Aber das darf ich sagen, alle die Soldaten, die Offiziere, an denen ich vor beikam, gingen dorthin, wohin sie jene furchtbare Stimme rief .... Dachte keiner an seine Lieben, dachte jeder nur an Kampf .... Geschütze sah ich, große gewaltige Stücke — die Sänger des Todes .... Durch das niedrige Gebüsch zwänge ich mich durch, und hinaufhinauf — und dann stehe ich oben und sehe tief unten ein weites, herrliches, von Sonnenglanz und Sonnenglast erfülltes Panorama. Und unter dieser lachenden Sonne inmitten dieser gottgesegneten Landschaft brüllt die Schlacht. Auf der ganzen Linie tobt der Kampf .... Vom Kampfe selbst ist nichts zu erspähen .... Der Tag beginnt sich zu neigen, es ist Zeit, an die Heimkehr zu denken. Aber das Grausen der Erhabenheit hält den Zuschauer noch wider seinen Willen, bannt ihn regungslos auf denselben Fleck .... Der Abend kommt. Weit draußen die Berge färben sich mit violetten Tönen und in tiefdunklem Rot versinkt hinter ihnen die Sonne — eine Symphonie des Abendfriedens inmitten dieser Symphonie des Krieges .... Fiebernd, glühend laufe ich meinen Weg zurück, aber hinter mir ist noch immer das Donnern und Brüllen, das Tosen und Rasen des Kampfes. — Und plötzlich in der Luft ober mir ein Flügelschlagen — ein heiseres Krächzen — Raben ....

Ernst Klein.

Mit dem serbischen Hauptquartier nach Uesküb.

(Von unserem Spezialkorrespondenten im serbischen Hauptquartier.)

Eine Fahrt auf erobertem Boden.

.... Was man bei den türkischen Leichen gefunden hat, wurde hier aufgestapelt, um verbrannt zu werden. Wir stöbern in dem Haufen umher und machen Kriegsbeute. Stecken Mauser-Patronen ein, die zu Tausenden herumliegen, Briefe in türkischer Schrift, ein Kollege findet eine türkisch-deutsche Grammatik und ein Heftchen mit dazu gehörenden Notizen. Man hat das bei einem jungen Offizier gefunden. Ich selbst ergreife ein kleines Couvert mit türkischer Aufschrift. Und in ihm liegt ein Brief, die Photographie eines kleinen Knaben und eine braune Haarlocke. Ein namenloser Schmerz drängt mir fast die Tränen in die Augen, und ich überlasse dieses »Souvenir de la guerre« gerne einem englischen Kollegen, der stärkere Nerven hat.

In Feindesland.

.... Eine wichtige Frage in Feindesland ist die Einquartierung. Ein kleiner Raum muß gleich einem Dutzend Menschen Obdach bieten .... Da kommt nun die Erfindungskraft des einzelnen zur Geltung .... und am Ende bleibt es ja wirklich die Hauptsache, daß man durch ein Dach vor dem plötzlich niedergehenden Regen geschützt ist. Wer indessen nur ein wenig zu suchen versteht, findet bald herrliche Unterkunft; zwischen den Häusern der angesiedelten Bulgaren .... gibt es viele vereinsamte Türkenhäuser .... Auch Harems gibt es, mit vergitterten Luken, die noch jetzt ein Geheimnis zu behüten scheinen, dicht aneinander geschmiegt eine ganze Straße entlang. Befangen tritt man ein, immer wieder glaubt man, irgendwo hinter einem Holzpfeiler müsse eine Odaliske auftauchen; aber seidene Polster nur liegen hier und dort verstreut, zerrissen, verbrannt, zierliche türkische Büchelchen aus ihrem Einband gezerrt; verwundert hält man sie in der Hand: was wohl all die Frauen gelesen haben mögen, am Ende gar amouröse Novellen. Diese kleinen Büchelchen sehen gar nicht so aus, als ob sie Sprüche aus dem Koran enthielten .... In solch einem leeren Hause kann man sich prächtig einrichten, als wär’s ein Kastell; es träumt sich wunderbar in einem Harem, wenn man sich erst ordentlich in seine Decke eingewickelt hat und das zerschlissene Seidenkissen der fernen, unbekannten Herrin unter den Kopf schiebt ....

Paul Zifferer.

Fahrten im Süden.

.... Das Ganze — die beiden angeblichen Hirten, die beiden Mönche — ist eine albanesische Deputation, die sich nach Stambul rächen fährt. An wem? Und ob’s wahr ist? Ist mir gleich. Der Gedanke, daß die vier sich rächen fahren, ist wert, daß man ihn denke .... Und die Einsamen von Marathopolis haben wieder einmal ein Zeichen aus der großen Welt empfangen — die Jungen mögen uns mit glänzenden Augen nachblicken, die Mädchen in Wehmut und in Sehnsucht.

Roda Roda.

Bulgarisches Hauptquartier, 24. Oktober.

Dann werden die Gefangenen durch die Stadt geführt, nicht alle natürlich, bloß acht, es geht am kleinen, netten Hause der Zensur vorbei, dem Standquartiere der Korrespondenten, und so gibt eine vorsorgliche Kriegsverwaltung Gelegenheit zu einem Augenschein des Triumphes, der sich gut telegraphieren läßt. Die Türken sind für den Augenblick die wichtigsten Leute in der Stadt, sie werden in allen Sprachen interviewt, Dolmetsche bieten sich an, und die Gefangenen antworten recht sanft und zufrieden wie Leute, die ausgesorgt haben ....

Ludwig Bauer.

* * *

(Der tapfere Feuilletonist und die feigen Türken)

I.

.... Durch diese beiden Kolonnen heißt es Weg zu finden. Vorsichtig, damit nicht etwa ein Offizier uns bemerkt und zurückschickt. Man hat da wahrhaftig Herzklopfen. Wenn man etwa zur Gefahr nicht zugelassen würde —! Aber, die Armee ist mit sich beschäftigt, und so geht es vorwärts. An einem türkischen Brunnen trinkt man. Er könnte zwar vergiftet sein, aber der Durst ist stark und — Adrianopel noch mindestens 27 Kilometer weit ....

Der englische Kamerad zündet seine kleine Kriegspfeife an und singt einen drolligen, abgehackten Niggersong halblaut. Er ist immer fröhlich, wenn es einen Krieg gibt .... Oben krächzt es in der durchsonnten Luft: Schwärme von Raben und Dohlen ziehen zusammen — vielleicht wittern sie den Krieg ....

Dann geht es die sanften Höhen hinan über blühende Herbstzeitlosen. Achtlos zertritt man sie, stampft durch die verwilderten Äcker, deren Besitzer geflohen sind .... Blick auf den Kompaß: Direktion Adrianopel. Gut, das genügt. Übrigens, die Straße unten bleibt sicher, die verräterische Straße, die jetzt den neuen Herren gehört, demütig ihnen dient. Ruhig und gleichmäßig ziehen die Büffel auf ihr die Kanonen vorwärts .... Wir gehen oben weiter, hie und da trifft uns ein verwunderter Blick. Denn wie wir selbst alles sehen, sind auch wir immer sichtbar; hier gibt es keinen bergenden Wald .... all dies scheint unwirklich, und wirklich ist bloß der gute Sonntag, in den man mit einem braven Kameraden ein paar Stunden hineinmarschiert.

.... in der Ferne Dunst und Glast, aus dem es weiß hervorglänzt — die Minaretts von Adrianopel. Wir beobachten es ohne Überraschung und stellen fest, daß es auf der Welt keinen besseren Platz geben kann, um ein Picknick zu veranstalten .... wir bemerken, daß wir uns in einer Kanonade, vielleicht in einer Schlacht befinden. Genau weiß man so etwas als militärischer Laie nie — besonders wenn man vom Spaziergang hungrig ist und achtgeben muß, daß der kleine Suppentopf nicht übergeht. Immerhin, man wird neugierig, weil der Donner durchaus nicht aufhören will, und beginnt zu zählen. Bei hundert wird das endlich doch zu langweilig, und man späht, welche Wirkung mit dem Gepolter denn erzielt wurde .... So eine Schlacht mag großartig und blutig sein, gewiß ist, daß sie auf die Dauer den Zuschauer ermüdet; sie ist nicht fürs Publikum bestimmt. Also beschließen wir, ein bißchen Schach zu spielen. Endlich hört dabei der Kanonendonner auf, aber es stellt sich heraus, daß wir irren; wir haben uns bloß an ihn gewöhnt.

.... Der Hirte, ein schöner, struppiger Bursche, gafft interessiert auf uns; wir wollen ihn ein wenig auskundschaften, aber er hört nicht auf, uns auszufragen, will in aller Eile vollständig über England und Österreich informiert werden .... Doch da traben Pferde hufe zu uns, und auf einmal stehen wir vor zwei Offizieren, die sichtlich verblüfft sind, den Hügel schon okkupiert zu finden .... der Engländer bietet ihnen seinen wunderbaren Feldstecher an, und ich überreiche ihnen meine Zigarettenschachtel. Sie drohen liebenswürdig, aber sie rauchen begierig und sehen eifrig durch das Fernglas. Nennen uns die Namen der Moscheen von Adrianopel .... und er fügt in seinem drolligen Deutsch hinzu: »Bestellen Sie sich längstens für Mittwoch dort Zimmer!« Dann reiten sie fort, und es ist wieder die große Einsamkeit um uns — inmitten der Schlacht, die nicht auf hört ... In der Luft zerplatzen feurige Kugeln .... Das Unsympathische dabei ist nur, daß sie durchaus die Richtung zu unserem Hügel nehmen wollen; dadurch können wir sie ja ungemein genau besehen, aber wir legen wenig Wert darauf. »Ein toter Journalist kann keine Artikel schreiben«, sagt der Engländer, und so müssen wir denn, auf dem Bauche liegend, den Schnellsieder ungeputzt einpacken und das Schach zusammenlegen! Eine Figur ging dabei verloren: Kriegsopfer! Darüber kommt die Nacht sanft und gelinde; während wir den Hügel hinabrutschen, ist jeglicher Tumult in der Luft .... Man verliert doch die richtige akustische Unbefangenheit .... unwillkürlich geht man rascher, man weiß ja, es ist zwecklos, wenn die Kugel will, so trifft sie; dennoch sucht man sich zu beeilen, um nur dies sausende Zischen nicht mehr zu hören. Außerdem hat ja der Engländer wirklich recht, ein toter Journalist kann keine Artikel mehr schreiben ....

Indes sind wir plötzlich irgendwie irgendwohin gekommen und befinden uns plötzlich inmitten der bulgarischen Armee .... Die Soldaten haben reichlich zu essen und bieten uns an, bestaunen dabei unser Taschen-Eßbesteck, schwatzen und singen. Dann schläft das Lied in einer Gruppe ein, und sie lagern sich zum Schlafe. Breit, schwer und müde liegen sie da wie Gefallene auf der Erde. Hastig schreiben wir beim Feuer die Abenteuer des Tages nieder. Die Kanonen hören nicht auf zu dröhnen. »Es ist gut!« sagt der Engländer mit einer entlassenden Handbewegung — und seltsam, plötzlich hören sie auf, und jählings bricht beängstigend eine wie unnatürliche Stille herein ....

Ludwig Bauer.

II.

.... Oben aber sind die Zimmer der Kapitulierten; einige Worte an einen Dolmetsch, und schon erscheint der erste Türke .... niemals hatte ich eine derart unwiderstehliche Erklärung dessen vor mir, was der Ausdruck »verächtlich« sagen will. Sofort bemüht er sich, mir zu beteuern, wie zufrieden er sei, sich hier zu befinden. Alles ist scharmant, das Essen, die Betten, die Behandlung, Bulgarien, sogar mein Besuch. Eigentlich hatte ich mich geschämt, als ich die Treppe zu ihnen hinaufstieg, meine Neugierde schien mir unpassend, eine Demütigung von Besiegten, und ich dachte mir, wie schwer es Männern ankommen mag, selbst das Geheimnis ihrer Feigheit zu enthüllen, Männern, deren Beruf doch die Tapferkeit ist .... Und ich erwartete, Grimmige, Trotzige, Trauernde zu finden, ein hartnäckiges Schweigen würde mich begrüßen, mir die Unziemlichkeit meiner dreisten Neugier verweisen. Statt dessen empfing mich eine hurtige Ergebenheit, die auf Wunsch sofort alles auspackte, auch die eigene Schmach ....

Natürlich lasse ich Kaffee und Zigaretten herumreichen, und beginne zu fragen. Erstaunlich ist die sonderbare Beflissenheit, mit der mir geantwortet wird, nicht nur von dem einen Lächelnden, sondern von vielen .... Das Erschreckende dabei ist, daß jenes schmähliche, feige Lächeln sich auf allen Gesichtern breitmacht. Es war also nicht eine vereinzelte Verkommenheit, sondern die Geste, mit der ein ganzes herabgekommenes Edelvolk seine große Niederlage quittiert. Das soll nicht etwa Liebenswürdigkeit gegen einen Gast bedeuten, nein, so gebärdet sich die Kriecherei vor dem vermeintlichen Abgesandten des siegreichen Feindes. Vielleicht bin ich sein Spion, sicher sogar, denken sie wohl: ich denunziere sie also, wenn sie sich beklagen. Sie sprechen wie zufriedene Hotelgäste, nein, viel kriechender! .... Sicher, es mag schwer sein, als Besiegter die Würde zu wahren, doch man errötet für jene, daß sie der ihrigen so völlig vergessen konnten. Mühsam muß man sie erinnern, daß es einen Krieg gibt, in den sie gezogen, Gefechte, in denen sie gefangen wurden, und man würde ehrenwertere Männer in ihnen sehen, wichen sie der Antwort aus. Indes, ich komme ja als Abgesandter der Sieger zu ihnen, und so er zählen sie eifrig die Geschichte ihrer Kapitulationen. Einer von ihnen war sogar ein wenig am Beine verwundet, nichts Ernstliches, beruhigt er mich, er lag bloß vier Tage .... Nun, in dem kleinen Hotel der gefangenen Türken begriff ich, daß eine weiße Fahne nie fehlt, wo nur der genügende Mangel an Mut vorhanden ist .... Die Feigheit ist dann eben da, wie der Heroismus oder der Tod, man weiß nicht woher, warum ...

Nachher besuchte ich die gefangenen Soldaten, die zu vielen Hunderten in einer Kaserne einquartiert sind .... Wohl, hie und da sieht man in böse, wilde Gesichter, spürt man den Haß, der ohnmächtig knirscht. Einen Haß, der so stark ist, daß er sogar die Zigaretten des Siegers verschmäht. Aber das sind Vereinzelte, die Masse hat sich rasch abgefunden, nimmt das neue Schicksal fast gleichmütig hin .... Mann für Mann frage ich sie nach der Ursache ihrer Niederlagen; es stellt sich heraus, daß keiner hierüber auch nur nachgedacht hat .... Die Hauptsache ist, daß sie wieder auf ihren Boden, zu ihren Kindern kommen; ob Adrianopel fiel und ob die Bulgaren schon in Konstantinopel einzogen, danach fragt keiner. »Ich habe sechs Kinder und will sie wiedersehen«, sagt einer und gibt damit sein Resümee ....

Sie werden ein wenig von jenem Europa kennen lernen, das eben ihre Körper bezwang und dann auch ihre Seelen, ihre vergessenen Seelen, erobern wird ....

Wie ich weggehe, drängt sich unbeholfen ein Riese zu mir und bittet mich, man möge ihn freilassen, seine Frau sei krank und er habe Angst, seine Kinder nicht mehr wiederzusehen. Zar oder Sultan, was liegt ihm daran — aber die Frau, Kinder! ....

Ludwig Bauer.

(Was ist grauenvoller?)

Aus einem ausländischen Blatt

Ein Weg des Grauens.

Zu den düstersten Kapiteln dieses Balkankrieges gehört sicher die Flucht der türkischen Soldaten und Bevölkerung von Corlu nach Konstantinopel. Ein Augenzeuge, der den hundert Meilen langen Weg mit den Fliehenden zurückgelegt hat, gibt hievon folgende Schilderung: »Corlu glich einer Totenstadt, als die Fliehenden ostwärts durchzogen. Kein lebender Mensch befand sich noch in der Stadt und die wenigen Kranken und Schwachen, die zurückgeblieben waren, hatten ihre Fenster verbarrikadiert und gaben keinen Laut von sich. Rasch ritten wir die Straße nach Tscherkesköj entlang und bald hatten wir den großen Zug der flüchtenden Soldaten und Bauern eingeholt und überholt. Die ganze dreißig Meilen lange Straße nach Tscherkesköj war mit dem Zug der Fliehenden bedeckt. Die meisten Menschen wankten schweigend einher, viele Männer trugen ihre Flinten und Gewehre bei sich, andere hatten ein Bündel mit wertlosen Habseligkeiten, von denen sie sich nicht trennen wollten, auf dem Rücken. Man sah verwundete Soldaten, die sich blutüberströmt vom Schlachtfelde vierzig Meilen weit hergeschleppt hatten, um unterwegs zusammenzubrechen und zu sterben. Ich sah, wie ein Mann niederstürzte. Mit dem Aufgebot der letzten Kräfte zog er sich die Stiefel von den Füßen und reichte sie einem anderen, der barfuß einherging. Dann legte er sich mit dem Gesicht auf die nasse Erde und erwartete den Tod. Ich reichte einem Soldaten ein Stück Brot. Er schlang es herunter, rief ›Allah segne dich‹ und sagte, es sei dies die erste Nahrung seit fünf Tagen. Oft stolperte mein Pferd über Leichen, die halb vergraben im Straßenkot lagen. Wir übernachteten in unserem Zelt in Tscherkesköj, sahen wieder nichts als Elend, Jammer und Hunger und brachen früh morgens weiter nach Tschadaldscha und dann nach Konstantinopel auf. Und je näher wir der stolzen Stadt kamen, desto Grauenhafteres mußten wir erleben. Die Züge, die nun gegen Konstantinopel fuhren, konnten nicht einmal einen Bruchteil der Flüchtigen aufnehmen, obwohl sie mit Menschenmassen gefüllt waren, obwohl Männer, Frauen und Kinder auf den Dächern der Wagen lagen. Immer fürchterlicher wurde der Andrang auf der bergigen Straße, immer mehr Menschen fielen zusammen, immer grauenhafter klang das Wimmern und Stöhnen der Hungernden an unser Ohr. Wir sahen stolze türkische Frauen, deren Schleier in Fetzen gegangen waren und deren Kleider in Fetzen um den halbentblößten Leib hingen. Und wir sahen Kinder, kleine Kinder, die nicht mehr weinen konnten und die verlöschend in den Armen ihrer Mütter lagen. Es war, als wenn das ganze türkische Volk nach Asien flüchten wollte, und die Greuel längst vergangener barbarischer Zeiten kamen uns in Erinnerung.«

Von Spezialkorrespondenten

Die Poesie des Krieges.

Über die Ebene heult der Novembersturm .... Mitunter stockt der Zug. Eng und winkelig sind die Gassen Mustapha Paschas — echt türkisch, weil Allah allein einem von der einen Seite auf die andere ohne Beinbruch helfen kann .... Mitten drin aber, hoch zu Roß, klebt irgend ein unglückseliger Kriegs- korrespondent, der mit einem Dringendtele- gramm in der Tasche ins Zensurbureau will und erst recht nicht weiter kann .... Irgendwo heult ein Hund .... Ich höre die Wache, wie sie an meinem Fenster vorbeistapft. Ich bewohne nämlich ein Haus mit Fenstern, vor allem mit ganzen Fenstern, eines der schönsten und saubersten in ganz Mustapha Pascha .... Armer Spaniole! Du sitzest jetzt gewiß mit Frau und Kind und Gut in Adrianopel ... Und du ahnst sicher nicht, daß jetzt in deinem großen Staatszimmer ein gottloser, fremder Zeitungsschreiber sitzt und seine Pfeife dampft und deiner, du armer, vertriebener Flüchtling, mit wehmütiger Dankbarkeit gedenkt .... Wir waren unser zehn — sieben Italiener, ein Ungar, ein Rumäne und ich. Der Zufall hatte uns aneinander geworfen, hatte uns zu guten Kameraden gemacht. Jubelnd ergriffen wir Besitz von diesem wunderschönen Hause .... Und all abendlich, wenn die Arbeit des Tages getan, wenn jeder seine Depeschen abgeschickt, seine Berichte geschrieben hatte, versammelten wir uns um den kleinen, lustig glühenden Ofen .... Draußen klatschte der Regen gegen die Scheiben, heulte der Sturm durch die leeren Straßen. Wir aber saßen behaglich zusammen und sangen die »Lustige Witwe« und den »Walzer träum«! Man denke — Italiener mit Begeisterung österreichische Operetten singend! Dies Wunder hat einzig und allein der kleine, alte, vergessene Ofen bewirkt. Wenn ich wollte, welch′ tiefsinnige Bemerkungen über Ursache und Wirkung könnte ich daran knüpfen! Aber offen gestanden, ich bin gar nicht gestimmt zu tief- sinnigen Bemerkungen, denn die schöne Kameradschaft ist schon aus. Vorgestern hielt der hiesige Zensor strenge Musterung unter den hundert Korrespondenten und schickte den weitaus größeren Teil von ihnen zum Hauptquartier zurück. Nur die ganz großen Blätter durften hier bleiben, und so bin ich heute allein von dem lustigen Rat der Zehn übrig. Ganz allein hocke ich in dem schönen, sauberen Hause und komme mir eigentlich recht verlassen vor .... Und ich bin allein, ganz allein; ein kleines Kätzchen ist meine Gesellschaft. Kläglich miaute es vor der Tür, und als ich ihm öffnete, huschte es scheu herein. Ich gab ihm Brot und Milch und es hat gegessen und getrunken, hat sich fein säuberlich Schnauze und Pfoten abgeschleckt und liegt nun zusammengerollt unter dem Ofen und schnurrt. Und sein Schnurren trägt so einen ganz, ganz leisen Ton der Behaglichkeit in das nun so öde und verlassene Haus. Draußen aber strömt der Regen und heult der Sturm. Und von Adrianopel herüber dröhnen dumpf und schwer die bulgarischen Geschütze. Das ist doch Poesie. Wenn auch eine rauhe, wilde Poesie. Es ist eben die Poesie des Krieges.

Ernst Klein.

* * *

Türkisches Hauptquartier Sejdler, 24. Oktober.

.... Gegen 5 Uhr abends wird im Coupé der österreichischen, ungarischen und deutschen Korrespondenten bei zwei Flaschen ungarischen Sekts bereits wieder eine gemütlich-dreibündliche Partie Sechsundsechzig gedroschen. In der Abendsonne draußen verrichten die moslimischen Soldaten am Brunnen ihr Abendgebet mit den religiösen Waschungen ....

Allah, erlöse uns! Jehovah, wo sind deine Blitze! Gott, wo bist du!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 360/361/362, XIV. Jahr
Wien, 7. November 1912.