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Juli 1913

Eine Prostituierte ist ermordet worden

Journalisten führen den Leichnam zum Galgen. Nachrichter bestätigen das Todesurteil und vollstrecken es noch einmal für das peinliche Gericht der Moral. »A Hur war’s!« begründen die einen, »Gegenstand!« sagen die andern, aber alle halten das, was eine angestellt hat, bevor sie ermordet wurde, für den Tatbestand. Der Raubmörder kam und entkam, er blieb anonym wie die Sittenrichter; die Leiche hat man. Kein Fall, mit dem sich viel Ehre aufheben läßt. Daß das ethische Hochgefühl sich von so dürftigem Anlaß regen lassen muß, vermehrt nur die Schuld der Ermordeten. Aber hierzuland, wo bescheidene Verhältnisse herrschen, wo die Liebesheldinnen Zimmer vermieten müssen und in den Hotels keine Gräfinnen ermordet werden, muß man vorlieb nehmen.

Auch der Widerpart der sittlichen Autorität muß vorlieb nehmen. Sieht er, wie eine Prostituierte tot oder lebendig der Moral genügt und wie ihr der Fall ermöglicht, zum Bürgerkrieg gegen das Geschlecht zu hetzen, so muß er in jener die beleidigte Ehre der Natur beschirmen. Nicht ob der Fall des Problems würdig sei, hat er zu prüfen, wenn die Lüge prinzipiell wird. Nicht ob sie erotische Werte trifft, an denen Künstler sich entzünden, oder nur solche, an denen Bürger sich befriedigen können; ob sie eine Andacht oder nur ein Vergnügen stört. Nicht untersuchen darf er, ob die Institution — die schließlich genug leistet, wenn sie der Gesellschaft ihre brauchbarsten Mitglieder stellt und dem Staat seine besten Steuerzahler — Spielraum läßt für die Persönlichkeit. Nicht Qualität ist abzuschätzen, wenn jeglicher Fall dem Hasse dienlich ist, die Liebe zu ersticken. Der wählt sein Beispiel gleichwohl mit Bedacht. Er holt es von der Straße, weil überall sonst die Angelegenheiten der Wollust mit den Angelegenheiten der Gesellschaft so verfilzt sind, daß er, ohne anzustoßen, nicht sagen könnte, was er auf dem Herzen hat. Die sozial Geringste ist ihm eben recht. Nur dort, wo die Lüge die äußerste Freiheit mit dem äußersten Zwang gestraft hat, erfrecht sie sich der Rüge; nur unter dem Vorwand, etwas gegen die Prostitution zu sagen, wagt sie sich gegen die Natur. Darum muß jeder Anlaß, der den Kannibalen der Kultur genügt, dem Unmenschenfresser willkommen sein. Auch vermag die Prostitution schon als Extrem dessen, was die gute Gesellschaft verabscheut, zu einer Debatte zu helfen, in der man die Moral beim Wort nimmt. Beim Wort Prostitution, mit dem der männliche Geschlechtsneid eine Fähigkeit schmäht, die ihm versagt ist. Weil eine Handlung, die die Natur das andere Geschlecht ohne Verlust an Wert und Kraft vollziehen läßt, die Preisgabe der Männlichkeit bedeutet, weil hier innerhalb einer begrenzten Lust nichts ohne ethische Haftung geschieht und dort Freiheit herrscht, hat sich die Konvention, die nur ein Ausgleich der Sitte mit der Geilheit ist, zu einer schamlosen Begriffsvertauschung verstanden. Man glaubt zu »schwächen«, und man wird geschwächt. Der Moralbegriff, vom eifersüchtigen Bewußtsein des männlichen Lustminus bezogen, stellt die Frau, der die Schöpfung den Ichdefekt versüßt hat und in der jedes sittliche Minus lustbefangen ist, unter die sittliche Verantwortung, von der sie den Mann befreit. Der Bürger rächt sich an der Natur, die ihm etwas vorenthalten hat, durch Verachtung und nennt das, was ihn prostituieren würde, am Weibe Prostitution. Er schmäht und sagt »Geschöpf«. Er hat sich nach seiner Schöpfung selbständig gemacht, er steht auf eigenen Füßen. Er hat sich Instinkte angeschafft, die ihn überall dort sich abkehren lassen, wo er das Ebenbild Gottes wittert. Er selbst ist mehr, er ist die unbeglaubigte Kopie. Nimmt man dazu, daß auch Individuen, denen die geistig-sittliche Entschädigung für den Vorzug des Weibes nicht zuteil wurde und die innerhalb der physiologischen Grenzen wohl prostituierbar sind, nicht anders über das Weib denken, das doch immer im Einklang mit seinem Gebote bleibt, so kann man ermessen, aus welchem Labyrinth des Irrsinns und aus welchen Abgründen der Verworfenheit die sittenrichterliche Entscheidung hienieden bezogen wird. Verkündet von den Bütteln der Freiheit, von den Zuschreibern der öffentlichen Meinung, den Zuhältern jener Prostituierten, an der ein Mord zur gottgefälligen Handlung wurde. Von den Prostituierten des Geistes, denen ich in die Gelegenheit ihrer Terminologie folgen muß, um sie selbst zu treffen. Das Wort sei von den Freudenmädchen auf Geschöpfe abgewälzt, die öffentlich meinen, jedem fremden Wunsch zuliebe schreiben können und durch eine zweifelhafte Anmut oft noch unter den Strich gesunken sind. Denn während es bei den Frauen eine natürliche und nur durch die zivilisatorischen Mächte, durch Lüge und Hysterie verdorbene Fähigkeit des Geschlechts verfehlt, trifft es hier eben jenen Verrat, den die zerstörenden Kräfte der Zivilisation an der männlichen Natur begehen. Vollends wird sich die Bezeichnung dann empfehlen, wenn man es Journalisten, die zwei Wochen lang von Prostituierten sprechen, vom Gesicht ablesen kann, daß sie nur aus Anstand ein anderes Wort unterdrücken, und wenn man weiß, daß es ein hurischer Grundzug ist, das, was man selbst ist, der andern zum Vorwurf zu machen und kein ärgeres Schimpfwort zu kennen als den eigenen Beruf.

Der Raubmörder, dem also allgemein nachgetragen wird, daß er sich in schlechter Gesellschaft bewegt hat, soll dem Hotelstubenmädchen zugerufen haben: »Sie, das Frauenzimmer lassen Sie noch schlafen. Sie hat sich von innen abgesperrt. Ich komme zum Frühstück wieder!« Man weiß zwar nicht ganz sicher, ob er sich so ausgedrückt hat, aber man nimmt es gern an. Wie sollte sich denn ein Raubmörder über so eine ausdrücken? Das ›Extrablatt‹, dem die Raubmörder ihre Lebensart verdanken, behauptet zwar, er habe gewünscht, daß man »das Fräulein« schlafen lasse, aber es geht ihnen diesmal mit schlechtem Beispiel voran, indem es selbst auf den Markt schreit: »Ein Frauenzimmer erdrosselt aufgefunden«. Da wäre es denn wirklich kein Wunder, wenn so ein Raubmörder von einer Frau, die er im Hotelzimmer erdrosselt hat, in wegwerfendem Tone spräche. Nachdem er der Leiche den Schmuck geraubt hat, darf der Journalist noch die Sensation wegtragen, aber er tuts mit sichtlichem Widerstreben. Eine Zeitung, die im Gegensatz zur Mizzi Schmidt nicht zeitweise von einem Offizier, sondern ständig vom Minister des Äußern ausgehalten wird, ist mit voller Verachtung am Werke. Sie nennt den Prostituiertenmord »das scheußlichste aller Verbrechen«, aber natürlich nicht, weil dabei eine Prostituierte ermordet, sondern weil eine Prostituierte ermordet wird. Würde an einem Wucherer ein Verbrechen begangen, der Stand hätte keine Perlustrierung zu fürchten. Der Mord im Hotel zeigt tiefere Gefahr: Hütet euch vor den Prostituierten! Hier hat alles Perspektive, und in den Zeiten der Wahlprostitution, da sich herausstellt, daß ein liberaler Wähler fünf Gulden kostet, erscheint der Nachweis, daß Mädchen nicht teurer sind, erheblich. Denn das Geld, das vom Mörder geraubt wird, wurde von der Ermordeten »mit ihrer Schande erworben«. Solches Geld soll man nicht rauben, solche Besitzerin nicht morden. Sie ist »eine jener traurigen Erscheinungen des großstädtischen Nachtlebens« und »eines dieser vom Schicksal enterbten und von der menschlichen Gesellschaft geächteten Wesen«, die oft »von Ekel über ihr Gewerbe geschüttelt« sein mögen, kurzum, ein allgemeines Mädchen. Es ist bemerkenswert, daß die Allgemeine Zeitung, die freilich bei Nacht gesperrt ist und schon um 6 Uhr auf den Strich geht, von solchen Empfindungen völlig frei ist. Nie noch war sie, nie noch war aber auch eine ihrer Kolleginnen von Ekel geschüttelt, wenn sie sich für Geld jenen Cafétiers willfährig zeigten, die von den traurigen Erscheinungen des Nachtlebens bei Tag leben, die vom Schicksal Enterbten auswurzen und in den Geächteten ihre beste Stammkundschaft schätzen. Nicht einmal die ›Sonn- und Montagszeitung‹, die freilich die ermordete Mizzi Schmidt nicht zu den Wesen zählt, sondern bloß »eines jener Geschöpfe« nennt, »die man zur Nachtzeit in der Kärntnerstraße und ihrer Umgebung herumschwärmen sieht«, ist solcher Selbstbesinnung fähig. Und dabei unterscheidet sich die ›Sonn- und Montagszeitung‹ von den Prostituierten, die immer nur herumschwärmen, durch ihre größere Zielbewußtheit. Denn einer Prostituierten ist noch nie nachgewiesen worden, daß sie einen Gründungsschwindler, den sie schließlich dann doch erhört hat, ursprünglich kränken und sich dadurch teurer machen wollte, während in der ›Sonn- und Montagszeitung‹ einmal der Titel »Goldminenschwindel« über einer sympathischen Würdigung der Aktiengesellschaft »Fortuna« irrtümlich stehen geblieben ist. Der Unterschied dürfte im allgemeinen wohl darin zu suchen sein, daß Prostituierte für Geld Gunst erweisen, aber ohne Geld sich passiv verhalten, während Journalisten sich damit zugleich auch die Ungunst abkaufen lassen, die sie ohne Geld erweisen könnten. Daß es ein Unterschied zugunsten der leiblichen Prostitution ist, liegt auf der Hand, da die Gunst der öffentlichen Mädchen nur im Privatleben dessen wirkt, dem sie erwiesen wird, und zumeist eine Wohltat für den Empfänger bleibt, während die Gunst der öffentlichen Herren eine allgemeine Angelegenheit ist und die Wohltat für den Empfänger immer zugleich auch eine Gefahr für das Publikum bedeutet. Man könnte einwenden, daß auch im andern Fall die private Wohltat zu einer öffentlichen Gefahr, zwar nicht zu einer wirtschaftlichen, jedoch zu einer sanitären werden kann. Aber dieser Einwand wäre darum unberechtigt, weil die Verbreitung einer solchen Gefahr fast nie wissentlich erfolgt und vor allem nicht durch die Prostitution, sondern durch den Geschlechtsverkehr bewirkt wird, während der Journalismus nicht nur durch die Tätigkeit als solche, sondern auch durch die Käuflichkeit Schaden stiftet. Bedenkt man dazu, daß die Korruption sich zumeist in der Unterlassung des Schreibens betätigt, während die Prostitution nur um der Ausübung willen, nie aber um der Enthaltung willen getadelt wird, und daß anderseits die Prostituierten von Fall zu Fall nur immer einem einzigen Kapitalisten zu willen sein können, während die Journalisten gleich ganze Aktiengesellschaften auf einmal befriedigen, so kann kein Zweifel bestehen, welchem Betrieb vom strengsten sittlichen Standpunkt der Vorzug zu geben wäre. Darum ist der Hochmut gegen die Prostitution, zumal bei Redakteuren, die gewerbsmäßig viel mit Bankdirektoren verkehren, vorweg als durchsichtiges Manöver abzuweisen. Die ›Zeit‹, eine Solide, die gleich im Anfang ihrer Laufbahn zu einem Kohlenbaron aufs Zimmer ging und von da an unter meiner sittenpolizeilichen Kontrolle stand, schreibt einen witzigen Bericht über das Begräbnis der Marie Schmidt, die »sozusagen ›im Dienst‹« gestorben sei und der darum »die Ehrlosen, die Verfemten«, »diese Dinger«, »wie eine stille Organisation der Schande«, das Geleite gegeben hätten. Es ist ja unbestreitbar, daß Korpsgeist und das Gefühl der Kameradschaft bei der Prostitution stärker entwickelt sind als bei der Korruption. Ein Freudenmädchen gönnt der andern neidloser eine Würzen, als eine Zeitung der andern auch nur die Annonce eines Freudenmädchens. So eine freut sich nicht, wenn die Kollegin »geblitzt« wird, wohl aber so eine, wenn der Kollegin ein Grubenhund widerfährt. Eine Solidarität der Zeitungen gibt sich nur vor der Gemeinheit, die eine der ihren begeht, zu erkennen, nicht gegenüber dem Unglück, das einer von ihnen zugestoßen ist. Wenn dereinst die ›Zeit‹ eingeht, so wird die Trauer der Kollegenschaft sich mit den Kundgebungen zum Fall der Marie Schmidt auch nicht annähernd vergleichen können. Denn während hier, wie die ›Zeit‹ höhnt, »die ganze Zunft von der Möglichkeit ähnlichen Schicksals bedrückt ist«, wäre sie im Fall der ›Zeit‹ nur eine Schmutzkonkurrentin los, und auch von einer Teilnahme des Publikums wäre kaum etwas zu bemerken. Und allzu stürmisch dürfte selbst die Wehklage der Angehörigen eines Etablissements nicht ausarten, aus dem lange vor dem Fall Riehl herzzerreißende Notschreie über Ausbeutung in die Öffentlichkeit gedrungen sind. Man sieht, Zeitungen tun in keinem Falle gut, sich irgendwie in die Vergleichsnähe eines Berufs zu bringen, der es in allen Belangen mit ihnen aufnehmen kann. Die traurige Verwahrlosung im Journalbetrieb, das glänzende Elend verlorener Talente, die in der Redaktion untergehen, hat in der andern Sphäre kaum ihresgleichen. Dagegen muß zugegeben werden, daß die Nutznießer beider Geschäfte, die Bordellwirte der öffentlichen Meinung und die der öffentlichen Liebe, die gleichen Chancen haben, und vor allem dort, wo sich die Konkurrenz am gleichen Material betätigt. Denn man darf nicht glauben, daß die Zeitungsherausgeber bloß die Talente ausbeuten, die sich der Journalistik ergeben; sie leben auch von solchen, welche sich durch ihre Vermittlung eben jener Prostitution ergeben, über die sich die Zeitung moralisch entrüstet. Der Liebesmarkt ist zwar nicht die ausschließliche, aber eine gewiß einträgliche Domäne der verlegerischen Tätigkeit, und es ist hier wie dort: zur Ausbeutung durch hohe Annoncenpreise, die weit mehr als die Hälfte des erzielbaren Liebesgewinns ausmachen, kommt die Mißhandlung durch die redaktionelle Moral, deren Zuchtrute es mit den Hausmitteln der Madame Riehl schon aufnehmen kann. Die Zeitungen hassen sonst das Leben nur, soweit es sich der Insertion nicht fügt. Hier aber herrscht dieselbe sittliche Entrüstung, welche die Bordellwirtinnen gegen ihre Opfer aufbringen, ein Hochmut, der so tut, als ob er sich nur hinter seinem Rücken bereicherte, seinen gut entwickelten Inseratenteil auch nicht im Spiegel sehen könnte, und der die Erfüllung aller sadistischen und masochistischen Verheißungen, die da geboten werden, glatt perhorresziert. Und dies, wiewohl die Zeitungsleute das Handwerk doch ohne die Gefahr treiben, die den Kupplerinnen droht. Der Herausgeber und der verantwortliche Redakteur, die mit ihren Namen dicht unter dem Angebot der energischen Dame, einen fügsamen Lustgreis auf die Promenade zu führen, eine gewisse Garantie zu geben scheinen, daß es auch gehörig geschehen werde, verleugnen auf einmal alles, sie stecken hinten die Provision ein, um vorne zu behaupten, der Gewinn sei ein Schandlohn und da täten sie nicht mit. Eine empfiehlt ihre Spezialität als »Miß Howart« unter »Birch 25«, eine andere sucht einen »vornehmen Faun«. Man hilft beim Vertrag, findet ihn aber unsittlich. Und man treibt das Handwerk nicht nur ohne die kriminelle Gefahr, die für die Kupplerinnen besteht, sondern auch mit der ökonomischen Sicherheit, die den Prostituierten fehlt. Denn nach österreichischem Gesetz kann zwar die Inserentin, die ihren Körper vermietet hat, den Gewinn nicht einklagen, wohl aber der Verleger die Provision. Sie dürfte ihm den Anteil an einem Geschäft nicht vorenthalten, um das sie selbst betrogen wurde. Die Sorte kann nicht geblitzt werden! Vorn halten sie die Ideale hoch, hinten die Preise; vorn rechnen sie mit der Prostitution ab, hinten mit den Prostituierten. Rauher sind freilich die, die weniger Annoncen haben. Das ›Extrablatt‹, das seinen Raubmördern die Glacehandschuhe verübelt, die sie nach der Erdrosselung von Frauenzimmern anlegen, macht mit jenen Prostituierten, die noch nicht einmal Ermordete, sondern nur Leidtragende sind, kurzen Prozeß: »Hart und unerbittlich leuchtete die Mittagssonne hinein in diese Gesichter.« Aber sie dürfte auch den Gesichtern der ›Extrablatt‹-Redakteure nicht gerade schmeicheln, sie werden sich zu rächen wissen und wenn es der Sonne vollends gelingen sollte, das Geheimnis dieses Mordes an den Tag zu bringen, so werden sie sagen, es sei der Polizei gelungen. Die Mittagssonne ist übrigens fast so streng mit den Prostituierten wie die um dieselbe Zeit erscheinende ›Mittagszeitung‹, die der Polizei nicht gegen die Mörder, sondern gegen die Prostituierten hilft. Wenn sie ermordet werden, haben sie es sich selber zuzuschreiben, aber sie sollen nicht in der Kärntnerstraße vor den Geschäften stehen bleiben! Die Mittagszeitung wird aber doch nicht so weit gehen zu behaupten, daß nur die Kärntnerstraßenmädchen, über deren Vermehrung sie sich beschwert, einem für bares Geld etwas zuliebe tun? Gewiß ist die Kärntnerstraße eine »Dirnenstraße« geworden, aber man kann doch nicht gut übersehen, daß es mit andern Gegenden der Innern Stadt nicht viel besser bestellt ist und daß beispielsweise in der Schulerstraße sich eine Administration neben die andere drängt, so daß sie bald nur mehr als Zeitungsstraße gelten wird. Die Mittagszeitung stimmt gegen den Gassenstrich für Bordelle, in denen Drangsalierung und Ausbeutung durch eine stärkere polizeiliche Kontrolle zu verhindern wäre. Aber wer hat die Leute, die in der »Elbemühl« arbeiten, so fühllos gegen verwandtes Schicksal gemacht? »Was menschlich ist, ist eben menschlich und darf auch ausgesprochen werden«, sagen sie, um ihre Unmenschlichkeit zu entschuldigen. Was hat jene, die sich durch Geistesschande mehr Adjektiva zugelegt haben, als alle Freudenmädchen Brillanten tragen, und für die ein Mord noch Schmucknotizen abwirft, was hat die Nachdenklichen so gewalttätig gemacht, daß sie sich vom Ende einer Prostituierten auch den Ruin aller andern erhoffen? Aber nicht minder peinlich ist die Couleur des Tout comprendre, die etwa den Tonfall hat: »Da mag es denn wohl geschehen, daß manche strauchelt, manche fällt.« Das ›Neue Wiener Tagblatt‹, welches den Mantel der christlichen Nächstenliebe vom Rothberger bezogen hat, scheint zu verzeihen. Es erzählt, ein Wiener habe vor dem Plakat, das die polizeiliche Belohnung für die Ergreifung des Täters verlautbart, ausgerufen: »Ganz recht is ihr g’scheg’n!« Vor diesem Wiener, der vom Schicksal offenbar zum Obmann der Schwurgerichtsverhandlung gegen den Mörder ausersehen ist, plaidiert das Tagblatt, menschlich wie es ist, auf mildernde Umstände für die Ermordete. Die Schandtaten, die sie vor ihrer Ermordung begangen hat, werden ja nicht geleugnet, jener Wiener wird nicht aufgefordert, unterzugehen, aber das Neue Wiener Tagblatt spricht sich die Fähigkeit zu, »über die Dinge dieser Welt und ihre tieferen Ursachen nachzudenken und sich von Vorurteilen freizumachen«, und meint, man könne »beim Fall dieses ermordeten Mädchens leicht auf Probleme stoßen, die allerernstester Erwägung wert sind«. Eben deshalb muß es jedoch verzichten. »Hier ist nicht die Stelle«, meint es bescheiden, »an der brennende soziale Fragen, und an eine solche rührt das Schicksal der Schmidt-Mizzi, ihrer Lösung entgegengebracht werden können«. Und nichts wäre wahrer. Denn hier ist nur die Stelle, von der der Ruhm des gigantischen Kaffeesieders, der immer erst ab zwei Uhr nachts die Schmidt-Mizzis hineinläßt, in die Welt getragen wird. Hier ist vor allem die Stelle, wo einem freizügigen Gewerbe die Kasernierung der Prostitution im Inseratenteil vorgezogen wird. Hier ist die Stelle, wo man sterblich ist, aber auch ehrlich genug, einzusehen, daß man nicht wie die andern Zeitungen »Haltet die Prostituierte!« rufen darf. Denn man wünscht nichts sehnlicher, als daß die Prostituierten »Haltet das Tagblatt!« rufen. Man ist interessiert, ohne gerade dem Neid des ›Neuen Wiener Journals‹ zu verfallen, das der Mizzi Schmidt ihre Einkünfte vorrechnet, wie einer, die bis zu ihrer Ermordung ausgesorgt hat. Man ist objektiv, ohne die vornehme Zurückhaltung der ›Neuen Freien Presse‹ mitzumachen, die sich für eine »Mondaine« hält, nicht von der Straße lebt, sondern mit der haute finance verkehrt, eine, die mehr verdient als sie verdient, une dame sévère et impérieuse, die dem Staat imponiert, von mir aber ihre Kopfstücke kriegt. Was freilich das ›Deutsche Volksblatt‹ anlangt, so steht die Sache wesentlich anders. Es ist deutsch-christlich und infolgedessen von Natur leicht geneigt, gegen das Laster intolerant zu sein. Ernst kann das ›Deutsche Volksblatt‹ den Fall einer erdrosselten Prostituierten jedenfalls nicht nehmen: es lacht nicht gerade, aber es hat genug feine Ironie zur Verfügung, um sie in solchem Fall zu verwenden. »Das Opfer«, schreibt es, »ist eines jener ›Dämchen‹, die des Nachts die Kärntnerstraße auf und ab promenieren, um Herrenbekanntschaften zu machen ...« Man dürfte nicht fehl gehen, wenn man behauptet, daß hier die Seele eines schlecht gepflegten Vollbartes spricht, in dem noch beim Anblick einer Toten Raum für ein dreckiges Lächeln bleibt. Jene Seele, die sich auf Nächstenliebe versteht und die auf der Leitmeritzer Geschwornenbank heiter wurde, als man ihr zumutete, die Menscher gegen die Mörder zu schützen. Jene treudeutsche Seele, die auf einem arschen Bewußtsein sitzt und wenn sie selber einmal ein Verlangen hat, ein Verlangen, das nur Ziel, nicht Richtung kennt, ein Verlangen, das nur sie zum Tier macht und nicht das Objekt, und wenn sie es befriedigt hat und wenn sie selbst einen Augenblick der Ekstase in ihrer Erinnerung bewahrte, dennoch unfehlbar für das Erlebnis das Wort »benützen« benützen wird. Eine Redaktion, der noch nie einer, der sie benützte, einen Augenblick der Ekstase verdankt hat, die kaum die Notdurft ordentlich befriedigt, eine Schriftleitung ohne Wasserspülung, ja die muß so fühlen und sprechen. Sie hat ja, schon ehe ein Mörder ihr recht gab, sich über die Prostituierten entrüstet und sie »die am tiefsten gesunkensten Geschlechtsgenossinnen« genannt. Was nur so eine für Wäsche am Leichnam hat! Die Leut’ leben! Aber dort, wo das Leben nur ein Lebenswandel war und wo der Tod nur ein Vorleben abschließt, soll man sich gar nicht echauffieren. Lass’ mr das Frauenzimmer schlafen! Sie hat sich selbst abgesperrt. Wir kommen zum Frühstück wieder.

Wie steht’s Herr Nachbar mit der Sinnenlust? Wir wollen uns nichts vormachen. Die Statuten des Vereines Menschheit, wonach das am meisten verachtet werden muß, was man am meisten begehrt, hat die Natur nicht genehmigt. Wie? Das einzige Bedürfnis, dessen Erfüllung nicht wie Essen, Verdauung und Schlaf nur der Gewohnheit schmeckt, sondern der immer festlichen Stunde, dankt jenen nicht, die sich ihm opfern, sondern schmäht sie? Wie, eine Welt, die für Geld alles tut und nur für Geld und auch was sie nicht kann und auch das Schlechte, verpönt den Tausch von Geld und jener Gabe, durch die das Weib erst die ihm zukommende Sittlichkeit beweist? Ich weiß nicht, wie das zugeht. Aber das weiß ich, daß die ärmlichste Masseuse, deren Geld der Zeitungsverleger nicht verachtet, die letzte Handlangerin der Lust, und bliebe ihr Gesicht im Dunkel und wäre sie mißgestaltet, und kehrst du ihr den Rücken — nur dafür, daß sie ihn betasten kann, deinem Glück und Geist näher steht als die Leistung sämtlicher Journale, Kollegien und sonstigen Einrichtungen im Staat, die Wohltat und Fortschritt dir besorgen und deren Dasein schon, nicht deren Leistung, dich aufhält und betrügt, verarmt und schwächt. Kitzeln der Haut dient dem Geist besser als eure Bildung — bei der Ehre der Natur! Ihr alle aber lügt ja nur und peitscht für eure Lüge die, deren Leib noch wenigstens die Wahrheit sagt. Der Geist wehrt sich nicht gegen den Sinnengenuß und erliegt ihm nicht; er weiß und bewahrt den Zusammenhang alles Elementaren. Aber alle Mittelmäßigkeit wehrt sich gegen Geist und Natur, alle bärtige Bildung, die über dem Leben hängt, schwarz wie ein Haarsack, wie die Sonne beim Weltuntergang.

Nehmt euch in Acht vor euch! Es ist ja alles Lüge, was ihr treibt; wahr seid ihr nur im Bett! Weil aber eure Wahrheit euern Weibern nicht genügt, so lügt ihr. Ihr lügt, ihr speit sie an, ihr treibt sie auf die Straße, damit ihr vor ihnen die gute Stube voraushabt, in der eure Ehrbaren modern. Denn auch ihnen, den einmal nur fürs Leben Prostituierten, den euch allein und stets nur einmal Prostituierten, genügt die Ehre nicht. Sie möchten auf die Straße und ihr macht aus Wut die draußen nur noch schlechter. Ihr seid zu feig, die draußen und die drin gleich auf der Stelle zu ermorden. Mir wollt ihr eure Ehre vormachen? Eure Stimmen kenne ich, eure Kehlköpfe habe ich nachts auf meinem Schreibtisch und droßle sie, weil sie den einzigen Wohllaut, den Gott erschaffen hat, erdrosselt haben. Seit euch im Hals der Adamsapfel steckt, schiebt ihr es auf das Weib. Nun lügt weiter! Lacht, Kehlköpfe krächzt, Kahlköpfe quiekt, gröhlt, flucht, Kohlköpfe! Weiter! Erkennt, daß nur die Weiber nackend sind, schämt euch für sie und nicht für euch! Glaubt weiter, ein Kondukt von Prostituierten sei weniger wert die Ehre zu erweisen, die ihr die letzte nennt und die die erste ist, die Menschlichkeit, seit der Geburt entstellt zur Bürgerfratze, seidem sie lebt der Menschlichkeit erweist. Glaubt, daß ein Zeitungs- und Regierungsrat, der auf den Tod von reichen Juden lauert, um von den Partezetteln Zins zu nehmen, Gott mehr gefällt als eine arme Hure, die nichts ihm zu verdienen gab, als sie gestorben war.

Das Opfer der bestialischen Tat ist eines jener Mädchen, die ihren Leib auf der Straße feilbieten, eine jener traurigen Erscheinungen des großstädtischen Nachtlebens, denen die Straße ihren Erwerb bietet .... Diese vom Schicksal enterbten und von der menschlichen Gesellschaft geächteten Wesen sind derartigen Gefahren mehr als andere ausgesetzt. Ihr Gewerbe bringt es mit sich, daß sie sich mit fremden Männern einlassen müssen, ohne lang nach dem Woher und Wohin zu fragen .... Manch eine, die auf irgendeine Weise auf diesen traurigen Weg geraten ist .. mag von Ekel über ihr Gewerbe geschüttelt sein und muß doch freundlich lächeln, und auf der Bahn des Lasters weiterschreiten, weil ihr die Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft versagt ist .... Das Geld, das sie mit ihrer Schande erworben hatte, trieb einen Mann zu dem furchtbaren Verbrechen, dem scheußlichsten aller Verbrechen, dem Prostituiertenmord.

Marie Schmidt war, wie uns mitgeteilt wird, bei aller Sparsamkeit gern wohltätig und unterstützte häufig in Not geratene Freundinnen. Dabei trachtete sie zu vermeiden, daß die Beschenkten erfuhren, wer die Spenderin war.
Als Marie Schmidt vor einem Jahre erfuhr, daß eine ihrer Freundinnen in Not geraten und der Unterstandslosigkeit preisgegeben war, lud sie die Freundin ein, bei ihr zu wohnen und zu essen. Um bei der Freundin aber nicht das drückende Gefühl des erhaltenen Almosens aufkommen zu lassen, kleidete sie die Einladung in die Form, daß sie die Freundin als Gesellschafterin engagierte, da sie sich allein in ihrer Wohnung langweile. Tatsächlich behielt sie damals ihre notleidende Freundin einige Wochen bei sich.

Wie ist es möglich denn, daß Druckerschwärze nicht mit der Meinung selbst die Farbe wechselt und den Benutzern zeigt, wie man errötet? Wie ist es möglich nur, daß Jud und Christ sich immer so in den Vokabeln irren, nicht dort die Schmach zu finden, wo sie stehn, und immer dort nur, wo ihr letzter Auswurf die letzte Spur von Menschentum begräbt! Man zuckt die Achseln. Jeder Meinungsschlampen, der auf sich hält, muß da die Achseln zucken.

Denn wenn sich die Wesen und die Geschöpfe, diese Dinger, die in den Redaktionen sitzen, vor der Leiche eines Freudenmädchens nicht Mut machten — bei Gott, sie würden vielleicht eines Tags von Ekel geschüttelt, vom Schicksal enterbt und dann auch endlich von der menschlichen Gesellschaft geächtet werden!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 378/379/380, XV. Jahr
Wien, 16. Juli 1913.