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Oktober 1913

Der Löwenkopf

oder

Die Gefahren der Technik

Eine ernste Nachricht, die eine Zeitung bringt, ohne daß sie einen Witz dazu macht, und keine andere Redaktion, die es liest, macht einen Witz dazu:

[Die schweren Autobusse eine Gefahr für die Gebäude.] Wir haben schon wiederholt daraufhingewiesen, daß die durch das Gewicht der Autobusse hervorgerufene Erschütterung des Bodens nicht ohne Einfluß auf Bauten bleibt, die sich in den Straßenzügen befinden, in denen die Autobusse verkehren .... Nun hatte sich die Bezirksvertretung Leopoldstadt vorgestern mit einem Antrage zu befassen, dessen Veranlassung beweist, daß unsere Forderung, es müsse bei der bevorstehenden Automobilisierung des Stellwagenverkehres vor allem das Gewicht der Wagen in Berücksichtigung gezogen werden, vollkommen berechtigt ist. Es haben sich nämlich mehrere Hausbesitzer der Praterstraße wiederholt beschwert, daß durch den Verkehr der ungemein schweren Autobustypen die Erschütterung der Häuser derart heftig sei, daß sich dadurch die Verzierungen an den Häusern lockern und leicht ein Unglück herbeiführen können. Um dieser Gefahr zu begegnen, soll die Praterstraße asphaltiert werden. — Außer der Bezirksvertretung Leopoldstadt haben sich ja auch schon andere Gemeindefunktionäre mit dieser Frage beschäftigen müssen, und man sieht, daß es gut sein wird, wenn bei der kommenden Automobilisierung die leichten Typen bevorzugt werden ....

Man hat keine Ahnung, von welchen Gefahren man stündlich bedroht ist. Wie leicht können sich die Ornamente lockern, wenn man gerade vorübergeht, und das Unglück ist geschehen. Ehedem war von den Ziegelsteinen das Ärgste zu befürchten, wiewohl sie viel fester saßen als die Ornamente. Aber wenn ein Ziegelstein an einem Kopf kaputt geht, so ist das weiter kein Malheur, während durch die Vernichtung eines Ornaments unabsehbares Unglück herbeigeführt werden kann. Die schweren Autobusse sind eine Gefahr für die Gebäude, an denen die Menschen vorbeigehen. Gewiß wird vielfach nicht nur an die Erhaltung der Ornamente, sondern auch an die Sicherheit der Passanten gedacht, wenn man den heutigen Zustand unhaltbar findet. Ein frivoler Mensch würde sogar den Vorschlag machen, die Ornamente abzuschaffen und Gott zu danken, daß die Autobusse uns die Trennung erleichtern, und diese Trennung lieber freiwillig vorzunehmen als sie von der Erschütterung durch die Autobusse herbeiführen zu lassen. Ja, man könnte geradezu sagen, die Gefahren der Technik seien ein wahres Glück und die Erfindung der Autobusse sei ein Fingerzeig der Vorsehung, denn die Elemente hassen das Gebild der Menschenhand. Man könnte dankbar erkennen, daß die technische Entwicklung doch die eine geistige Entschädigung mit sich bringe, daß sie die Ornamente gefährdet! In dieser großstädtischen Zeit aber findet sich keine Bezirksvertretung, die den Konflikt zwischen der Technik und der Ästhetik zugunsten der ersteren entscheidet. Denn jede hat ein Gemüt für die Ornamente und schafft lieber die bösen Autobusse ab, die soviel brum brum machen, daß die lieben Ornamente nicht schlafen können, sondern erschrecken und, bumstinazi, unten liegen. Ein frivoler Mensch würde den Vorschlag machen, durch sämtliche Straßen Wiens in derselben Stunde Autobusse zu jagen, damit der Fassadenschande ein jähes Ende bereitet werde, auf die Gefahr hin, daß ein paar Schock Verfasser von Zuschriften über »Die Berge, die Eltern und die Gefahren« unter Ornamenten begraben würden und noch etliche andere unnütze oder verkehrshinderliche Existenzen dazu, und in der Hoffnung, daß vor allem die Verfertiger der Ornamente darunter wären, wobei jeder womöglich den Vorzug hätte, seine eigene Pletschen auf sein eigenes Dach zu bekommen. Als der Erbauer des Michaeierhauses, dieser leibhaftige Autobus, der mit der Schönheit tabula rasa macht, von den Bezirksvertretern verfolgt wurde, hätte er ihnen einfach einen Lohengrin und eine Leda mit je einem Schwan hinpappen müssen, damit die Seele eine Ruh hat, und dann einen tüchtigen Motor arbeiten lassen sollen, um darzutun, daß die mythologischen Persönlichkeiten mit Pferdekräften doch noch schneller fortkommen. Ich wohnte einmal in einem Hause auf der Dominikanerbastei, neuer Teil: da betete ich täglich, es möge endlich ein Autobus durchrasen, mich würde er nicht stören, denn ich wohnte in einem Zimmer mit Aussicht auf eine herrliche Feuerwand, auf die nichts gemalt war, so daß der Teufel noch Platz hatte, aber die Aeskulapschlangen, Gorgonenhäupter und sonstigen Utensilien, die auf der Fassade aufgeklebt waren, verdrossen mich. Es war schwer, nachhause zu gehen. Zumal wegen der immer auftauchenden Sorge, was nur der Herr Wassertrilling, der Bauherr des Hauses, mit der Mythologie habe. Eines Tages, ich saß geborgen vor meiner Feuermauer — riß es an der Klingel. Ich glaubte, es sei ein Leser, der mir einen Übelstand mitteilen wolle, es war aber ein Mann, der ganz echauffiert mir zurief: »Schaun S’ zum Fenster außi!« Ich erwiderte, daß es in meinem Hof gottseidank nichts zu sehen gebe, worauf er unwillig versetzte: »Was, Sie wohnen gar nicht auf die Straßen?« Ich: »Nein, was ist denn geschehn?« Er: »Die Parteien, die was auf die Straßen wohnen, sollen außischaun!« »Ja, warum denn?« »’s Haus wird photographiert!« Ich gab der Tür einen so heftigen Wurf, daß ich einen Augenblick hoffte, die Aeskulapschlangen hätten sich von innen gelockert, das Haus werde nun kein freundliches Gesicht mehr machen und der Photograph erklären, unter solchen Umständen könne er nicht weiter arbeiten. Ich erfuhr aber leider, daß nichts passiert war, und ich ersah, daß es Menschen gibt, die sich zum Fenster hinausbeugen, wenn solch ein Haus photographiert wird, und die den Ehrgeiz haben, anstatt ihren Ursprung zu verleugnen, auf solche Platte zu kommen. Und kein Autobus fuhr durch! Das Haus, wiewohl ein neues Haus, steht noch heute, es ist eine Sehenswürdigkeit und vom Franz Josefskai bequem zu erreichen. Das Publikum, welches sich dort tummelt und das sichere Gefühl hat, daß dieses Haus das schönste auf der ehrwürdigen Dominikanerbastei ist, sitzt an Wochentagen im Café Silier und geht gern Samstag abends ins Café Imperial, des Staunens voll über die Pracht, die daselbst heute zu schauen ist. Als das freundliche alte Café von einem jungen Meister erneuert werden sollte und man lange nichts sah, da sah man zwar noch nicht die Klaue des Löwen, aber ein Löwenkopf hing doch schon an der Fassade und hielt einen Ring im Maul. Er hat einen Zweck, dachte ich mir. Er wird der künftigen Beleuchtung dienen. Geduld, dachte ich, zum Beleuchten einer finstern Gegend gehört vor allem ein Löwenkopf. Den hat man und dann wird man sich schon durchfretten. Vom Bauernschreck hat man auch nicht mehr und er erfüllt doch seinen Zweck. Genug, der Löwenkopf war da und er blieb durch Monate, als alles noch im Finstern lag. Schon aber kamen die entzückten Besucher aus der Leopoldstadt, wo sie für die Ornamente zittern, die vor den Autobussen zittern, und bewunderten den Löwenkopf. Ein Dorfschulbub wird bekanntlich gefragt, wie man eine Planke mache. Er weiß Bescheid, und wenn das Gestell so weit sei, schreibe er noch schnell Lekmimoasch drauf und die Planke sei fertig. Die entzückten Besucher des Café Imperial aber waren schon zufrieden, weil es drauf stand, noch ehe das Gestell so weit war. Die Planke ist auch heute mehr schön als brauchbar, aber die Wucherer haben einen so ausgeprägten Schönheitssinn, daß ihnen Löwenköpfe, Gottheiten oder Spargelbunde, die Licht geben, weiß Gott lieber sind, als eine bequeme Sitzgelegenheit. Den Schmutz der Gasse haben sie zuhause und selbst der ist von Hoffmann. Je schöner aber die Welt wird, desto mehr Wucherer ziehen in sie ein und bewundern die Arabesken. Es ist keine kleine Angelegenheit, daß einem der letzte Lebenswinkel austapeziert wird und die Verschönerung der Wände die Verschlechterung der Betrachter zur Folge hat. Die Welt der Autobusse ist nicht die, die man mit der Seele sucht. Aber man muß in ihr leben, um eine bessere zu finden, und eine schlechtere wird einem so zur Qual, daß man wünscht, ein Autobus möge nicht nur an einem renovierten Kaffeehaus vorbei, sondern auch durch seine Pracht hindurchfegen und alle Ornamente, die dort an den Wänden sitzen, und alle Barte, die dort an den Ohren kleben, glatt mitnehmen. Denn allerorten drängen sich jetzt die Löwenköpfe, die Wände haben Ohren und es tauchen Menschen auf, die den Bauch wie einen Erker tragen und die Nase wie einen Risalit, und deren Hängebart sich im nächsten Augenblick, wenn die Arbeiten weiter fortgeschritten sind, als Beleuchtungskörper oder als Briefbeschwerer oder als Bettvorleger entpuppen kann. Es muß etwas zu bedeuten haben, denn das Ding an sich kann es unmöglich sein. Wer würde denn mit so etwas im Gesicht herumgehen und es noch offerieren, wenn nicht was dahinter wäre? Aber man wartet vergebens, es wird nichts draus, es entwickelt sich nicht. Nun, praktisch ist so ein Vollbart nicht, »aber scheen is«, sagt meine Bedienerin in solchen Fällen. Da ist ein Sprachlehrer, dessen Bild herumgetragen wird, Dienstmänner haben es auf dem Rücken, wo man jetzt hinkommt, sieht man diese Arabeske, selbst auf Zündsteinen, die sonst nur der Unterstützung des gefährdeten Deutschtums in der Ostmark dienen, taucht sie auf. Schön und stattlich, das ist der Eindruck. Man sieht es gern. Aber ein rasiertes Gesicht hat auch seine Vorzüge, man kommt auf der Straße schneller daran vorbei, und wenn ich französischen Unterricht zu nehmen hätte, wegen des Fortkommens, würde ich geradezu darauf bestehen. Der Friseur am Lido, ein Idealist, der zwischen den Kapannen umherirrt und dessen Lebenslüge darin besteht, daß man nur von »manicure, pedicure!« leben könne, verlangte drei Kronen für das Rasieren. Ich bot ihm dreihundert für den Bart des Bahr, der mir schon lange im Wege sei. Weiß der liebe Gott, ich mag solche Barben nicht! Man verstehe mich recht. Der Löwe ist ein Löwe, er hat nicht nur einen Löwenkopf, sondern auch ein Löwenherz und man bleibt nicht stehen und sagt: Gut frisiert, Löwe! Ich weiß, wo die Manneszier den Mann beweist, und ich möchte mir um keinen Preis Tolstoi, den König Lear oder den Moses des Michelangelo rasiert wünschen. Aber wenn ein Wels aus Linz in der Adria vorkommt und sich in diesem Zustand gar photographieren läßt, sind physiognomische Beschwerden erlaubt. So möchte ich beim Barte des Propheten schwören, daß der des Bahr keine organische Notwendigkeit ist, sondern nur ein feuilletonistischer Behelf, ein Adjektiv, eine Phrase. Es muß nicht sein. Oder vielmehr: es muß sein, denn schon der gestutzte Schnurrbart verrät, wie dieses Gesicht aussähe, wenn es rasiert und nicht phrasiert wäre. Die Augen sind schön, sie leuchten wie Rubine, aber man trägt nicht Rubine in einer Kartoffel. Ich möchte behaupten: gerade jene Gesichter, die des Vollbartes nicht wert sind, brauchen ihn. Es ist ein Dilemma. Köpfe gibt es, die dem Friseur nicht entsagen können, weil sie vom Raseur entlarvt würden. Der Historiker Friedjung hat einen Voll- und Ganzbart. Man stelle sich vor, er hätte ihn nicht. Der Dichter Beer-Hofmann muß wie ein Hohepriester aussehen; sonst wär’s gefehlt, denn er sähe am Ende wie der Dichter Beer-Hofmann aus. Der Denker Bahr muß wie der liebe Gott aussehen; man stelle sich vor, wie er sonst aussehen würde! Und die Ähnlichkeit ist so zwingend, daß man sich, wenn man nur einmal am Lido geweilt hat, den lieben Gott künftig als Kapannenbewohner vorstellt, der binnen einer Stunde in vier verschiedenen Bademänteln an den Gläubigen vorüberwallt, in einem roten, in einem gelben, in einem blauen und in einem schwarzweißen, welcher der schönste ist, immer wechselnd, zieht an, zieht aus, zieht an, zieht aus, als ob der liebe Gott der Rothschild selber wäre. Ich habe Wunder über Wunder in diesem Sommer geschaut. Richard Wagner liebte Sammet und Seide. Aber er brauchte nur zum Schaffen, was die Wiener Meister zum Baden brauchen. Und Schiller hat die faulen Äpfel nicht aufgegessen. Wunder über Wunder habe ich gesehn an jenem Strand. Quallen, die im Kaffeehaus arg darniederliegen, aber hier zu leuchten begannen, wenn jenes Gottes Sonne sie beschien. Und alle Farben spielten, wenn ich in die Nähe kam. Tintenfische trugen Rezensionsexemplare in die Kapanne Nr. 20, liebe Schnecken, die im Winter plaudern, wanden sich vor mir, wenns niemand sah. Und die ganze Fauna stand habtacht, wenn ihrer aller S. Fischer auftauchte. Der Bartsch fehlte mir in dem Aquarium. Aber wenn es Menschen waren, waren es Hohepriester. Nichts als Hohepriester sah ich, die bald nach dem Wetter auslugten und bald nach den Tantiemen. Sie wandelten nicht nur, sie badeten gern, denn wo sie hintraten, war das Meer seicht. Meine Anwesenheit störte sie nicht in den Geschäften, wenngleich sie unruhiger waren, als es Hohepriestern ansteht. Die Sonne war verhängt von farbigen Draperien und sie selbst schienen dahinter Schutz zu suchen. Aber solche Mimikry, dachte ich, macht nicht unkenntlich und schützt nicht vor Verfolgung, sondern im Gegenteil. Ich bin noch nüchtern genug, um einen Hohepriester von einem Librettisten unterscheiden zu können. Ich trau mir’s zu. Ich weiß schon, wer die sind. Ihre Hülle verrät sie und über ihre Krücke straucheln sie. So leben sie. Wenn sie sterben, werden sie einem Hervorruf Folge leisten. Daß sie fünfzig Jahre alt werden, glaubt man ihnen zur Not; den Tod nicht, und nicht einmal wenn sie ihn erleben sollten, statt ihn bei S. Fischer erscheinen zu lassen. Es sind die Künstler, von denen, so wie sie da in ihrer Formen Fülle schreiten, das »Künstler-Beinfleisch« kommt, das jetzt in einem neuwienerischen Beisl angepriesen wird, und es ist jene Boheme, die das beliebte »Bohème-Gullasch« liefert. Der Bürger hat Geschmack, die Kunst schmeckt schon fast so gut wie Beinfleisch, und seitdem Gedichte vomiert werden, ist das Essen ein Gedicht. Die Landschaft ist malerisch, die Maler sind malerisch, alles ist malerisch, nur nicht das Malen. Alles ist wie wenn; es ist, wie wenn es wäre. Du liebe Zeit, verlange ich einen Scheiterhaufen, bringt man mir eine Mehlspeise. Wie gut wirs haben, sehen wir die Schönheit alter Formen so dem Zweck gepaart! Ich lebe nun fern den Dominikanern und wohne in einem Hause, das ein Scheiterhaufen mit Schlagobers ist, der ein Gedicht ist. Nein, eine Symphonie von Bäuchen und Nasen, und hat es gleich keine Aeskulapschlangen, die immer ein apartes Tragen sind, so meint es doch alles, was es sagt, anders und sagt es allegorisch. Wie reich ist die Welt und wie überbietet sie das Maß der Schöpfung! Wo das Auge sich umtut, findet es Schönheit. Nur in den Seelen macht die Technik Fortschritte. Der Mensch ist außer sich geraten. Kein Wort lebt, keine Farbe — denn alles ist sowieso laut und bunt. Künstler heißen die, die man sofort erkennt, und die noch wenn sie nackt sind, auffallend gekleidet gehen. Jede Gebärde eine Arabeske, jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen würde. Doch mich täuscht die Fassade nicht! Ich weiß, wie viel Kunst dem Leben und Leben der Kunst abgezapft werden mußte, um dies Kinderspiel zwischen Kunst und Leben zu ermöglichen. Löwenköpfe und die Herzen von Katzen! Der Autobus ist kein Ziel, aber eine Rettung. Ich kann tabula rasa machen. Ich fege die Straßen, ich lockere die Barte, ich rasiere die Ornamente!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 384/385, XV. Jahr
Wien, 13. Oktober 1913.