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März 1912

Recht und Pflicht, mich totzuschweigen

Erlebnisse

Und man glaube mir, daß die Bitte um Totschweigen ihren Grund in Erlebnissen hat und daß die Erschütterung stark sein muß, welche den, der so gern von sich spricht, zu dem Wunsch treibt, daß es die andern wenigstens unterlassen mögen. Weiß man denn, wie ich lebe? Da irrt in zweistündigem Schlaf ein Komma durch den Weltraum und droht die Erde zu zerschellen: aber der Postbote pocht an die Tür und bringt den Ausschnitt aus der Allgemeinen Sportzeitung, die nicht für Pferde geschrieben ist, sondern nur für Pferdehändler und darum sich zur Erfassung künstlerischer Dinge nicht eignet. Und dennoch ist es die erste Zeitung, die über Pro domo et mundo geschrieben hat: »Eine prickelnde Lektüre«, sagt sie. Und über den »Provinzonkel« sagt sie gleich darauf: »Ein ungewöhnlich witziges Buch.« Dadurch, daß ich, was mir die Post bringt, in das Fach des Traumes zurückstecke und nach jedem Briefe mich für eine Stunde noch auf ein Postskriptum des Schlafes einlasse, kann mir nichts geschehen und ich erwache, als wäre nichts geschehen. Sonst wäre der Wunsch in mir zu stark, fortzueilen und einem, der mich prickelnd findet, jedes Barthaar einzeln auszurupfen. Ich überschlafe den Entschluß, und erinnere mich nachher nur dunkel, daß ich am Abend zuvor Sodawasser getrunken und dann unruhig geträumt habe ... Dieses war die erste Rezension. Einen Tag später wollte es der Himmel, daß mir eine Stimme aus Breslau zurief, das Buch sei »nachdenklich und amüsant zu lesen«. Und zum Schlüsse krümmte sich ein zitierter Satz, den ich nicht wieder erkannte. Im Buch war er ein Flammenblitz. Neben meinem Bett aber lag eine Blindschleiche. »Dieses Aphorisma soll geistreich sein. Wir möchten es anders nennen«, rief Breslau. Aus Überzeugung stimme ich zu. Über Oderberg verändert sich manches. Aber selbst wenn ich eine Stufe ausbräche, um zu sagen, wie gut eine Treppe sei, wäre die Stufe kein Beweis und die Treppe in Gefahr. Ich konnte weiter schlafen, denn ich dachte in Frieden an einen Verleger, dem ich immer den Waschzettel hatte ausreden wollen und der gesagt hatte, er sei notwendig. So ist es; aber man muß ihn den Hunden vorbinden, daß sie ihn anbehalten und nicht mehr beißen können noch auch bellen. Ein Buch darf, wenns denn schon darauf ankommt, es ins Publikum zu bringen, überhaupt nur durch ein vorgeschriebenes Urteil empfohlen und bei Strafe der Entziehung weiterer Rezensionsexemplare muß der Redaktion verboten werden, sich einer selbständigen Ansicht zu bedienen. Die Rezensionsexemplare sollen vor der Lektüre verkauft werden. Ich bin ein Fanatiker des Waschzettels ... Dieses war die zweite Rezension. Aber das Ärgste war noch nicht geschehen. Oft hatte ich mir gedacht: was werde ich tun, wenn eines Tages eine Rezension erscheint, in der so nebenbei gesagt wird, »Pro domo et mundo« — das heiße auf deutsch »Für Haus und Welt«? Denn domus heißt ja Haus und mundus heißt doch Welt. Ich habe schon so viel Ungunst von der Welt erfahren, ich würde, glaubte ich, auch das hinnehmen, aber ich würde dann jenen Verleger bitten, nicht nur den Zeitschriften, die ich ihm ausdrücklich bezeichnet habe, sondern überhaupt allen besseren Journalen das Exemplar zu entziehen. Denn den Waschzettel drucken doch nur die kleinen Provinzblätter, aber so ein Kerl, der in einer Hauptstadt wohnt, glaubt zu einer selbständigen Ansicht verpflichtet zu sein. Am dritten Tag also pochte der Postbote an die Tür und brachte mir die ›Post‹, die in Berlin erscheint und national ist. Ei, da steht ja ein Feuilleton und darüber — »Für Haus und Welt«! Ich wünschte mich über Land und Meer. Die erste Zeile lautete

Karl Kraus sagt die Sache natürlich lateinisch. »Pro domo et mundo« betitelt er eine Kurzgedankensammlung, die er im Verlag Albert Langen (München) in einem Bande von 178 Seiten (2,50 M.) erscheinen ließ.

Das kommt von dieser Fremdwörtersucht. Man sucht eine Erklärung:

— — — Es scheint, als ob auch für Kraus etwas heilig wäre. Vor Stillreligiösem, vor irgendeiner Ordnung, die er nirgends vorfindet, scheint er Achtung zu haben. Und das gab ihm vielleicht den Titel des Werkes. Aber man kann das nur fühlen, nicht finden.

tu.

Diese Trompete wird mich nicht mehr loslassen. Von Schlaf keine Rede mehr. Man kann das nur fühlen, nicht finden. Der Kerl zitiert meine Kurzgedanken zu 2,50 und erläutert sie stillreligiös, tu. Der Kerl ist ein Beiwagenredakteur, tu. Ich will nichts mehr hören.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 345/346, XIII. Jahr
Wien, 31. März 1912.