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Warnung vor der Unsterblichkeit

(Zu einer Peter Altenberg-Vorlesung)

Mai 1913

Es ist unmöglich, einen um die Unsterblichkeit zu bringen. Denn dort, wo es gelingt, war sie ohnedies nicht zu haben. Es müssen aber auch solche Fälle betrachtet werden, welche sich die Unsterblichkeit, die ihnen nicht erreichbar ist, nicht entreißen lassen wollen. Solche gibt es. Sie stehen zwischen den Großen und den Kleinen und sind vermöge des Scheins, auf den ihr Dasein gerichtet ist, leicht imstande, die Zeitgenossenschaft zu täuschen und sich eine Würdigkeit beizulegen, auf die die ehrlichen Handlanger des Tages freiwillig verzichten. Wenn es einmal gelungen sein wird, dem Publikum beizubringen, daß die Kunst nicht das Geringste mit den Bedürfnissen der Unterhaltung und Belehrung zu schaffen habe, so wird man es auch nicht mehr dafür tadeln dürfen, daß es die Handlanger für die Unbilden der Nachwelt so reich entschädigt. Was sollte denn ein deutscher Prosaist mit einem jüdischen Agenten zu schaffen haben, und warum sollte dieser hienieden nicht besser aufgehoben sein als jener? Daß nützliche Autoren, Erzähler und Plauderer, deren Beruf zufällig etwas mit der Verwendung des Alphabets zu tun hat, sich selbst so hoch einschätzen wie ein schlecht beratenes Publikum es tut, darf auf keinen Fall geglaubt werden. Aber das Wohlleben ist ihnen mit Rücksicht darauf zu gönnen, daß die Nachwelt keine Villen und Automobile zu vergeben hat. Gefährlicher sind jene, denen die finanzielle Entschädigung nicht genügt und deren Miene die Zuversicht ausdrückt, daß ihr Wirken mit ihrer Leiblichkeit noch nicht beschlossen sein werde. Weiß der Himmel, woher sie ihren Anspruch ableiten, da sie ihn doch vom Himmel nicht ableiten können. Aber vielleicht waren sie die ersten, die von Gnaden einer literarischen Mode lebten, die ersten, die auf einem sogenannten Niveau standen, und in schlechten Zeiten werden solche immer mit den Modellen und den Originalen verwechselt. Das Nachleben dieser Talente ist der Irrtum einer, wenn’s hoch kommt, zweier Generationen, und wenn man näher hinhorcht, so ist es immer nur eine Überlieferung, nie ein Erlebnis, was sie mit den Späteren verbindet. Mit Heine wird eine Welt, der es gelingt, sich von der liberalen Maul- und Klauenseuche zu befreien, umso schonungsloser verfahren, je länger man seinen Geist hat anstehen lassen. Umso weniger wird es dann aber den Geistern derer, die heute noch vor Theatervorhängen erscheinen, gelingen können, die Welt an eine Verpflichtung ihnen gegenüber zu erinnern. Die Vorstellung, daß man nach fünfzig Jahren die Namen der Herren Hofmannsthal und Schnitzler mit Ehrfurcht nennen sollte, hat an und für sich etwas, was den Respekt schon heute bedeutend herabsetzt. Zum Lachkrampf aber steigert sie sich, wenn man bedenkt, daß die Unsterblichkeit nicht nur Register, sondern auch Inhalt hat. Denn man kann sich zwar recht wohl vorstellen, daß die Entwicklung menschlicher Dinge in einem bestimmten Stadium den Namen Peter Altenberg führt und daß ohne dieses Glied alles Folgende undenkbar wäre. Aber das Dasein der Herren Hofmannsthal und Schnitzler mit irgendetwas metaphysisch zu verbinden, stelle ich mir als eine anstrengende Aufgabe vor. Es ist dem Genius eigentümlich, daß man ihn spürt, ohne von ihm zu wissen. Das Wissen tritt hinzu und kann nie die Dimension des Wirkens ausfüllen. Bei den Werken des sterblichen Geistes ist es umgekehrt: man weiß immer mehr von ihm als man spürt. Und es wäre technisch denkbar, den Herren Schnitzler und Hofmannsthal die Unsterblichkeit zu sichern, indem man auch die kommenden Zeitungsgeschlechter verpflichtet, täglich eine Notiz über den »Professor Bernhardi« oder über »Jedermann« zu drucken und zu lesen. Es ist aber sehr wichtig, auf solche Unsterbliche acht zu haben, um sie beizeiten vor Enttäuschungen zu bewahren und auf jenes Gebiet lukrativer Erfolge zu verweisen, wo sich anspruchslosere Verdiener vor der Welt gütlich tun, gehalten von einer Zeitgenossenschaft mit beschränkter Haftung. Mit den metaphysischen Verbindungen spießt es sich, und wenn Herr Wassermann den Versuch macht, noch den Librettisten Hofmannsthal für die Ewigkeit zu retten, so sehe er zu, daß man den Künstler Wassermann nicht für den Tag reklamiere. Und nichts scheint mir übler angebracht als die Einrede jener Relativkritiker, die mir sagen, Schnitzler sei doch immerhin. Dieses Immerhin ist eben jener gefährliche Schein, der die Enthüllungen um wohlgezählte zwanzig Jahre verzögert. Warum sollen wir Zeit verlieren? Warum sollen wir es nicht heute schon so gut haben wie die Geschlechter, die, um den Unterschied zwischen einem Anatol und einem Auernheimer befragt, sich auf ernstere Probleme berufen dürften. Wer nicht an Überlieferungen klebt, kann sich schon jetzt den Genuß dieses Standpunktes verschaffen. Selbst solche, die nicht mit mir der Ansicht sind, daß der Roman das Versteck jener ist, die nichts zu sagen haben, und darum die Ausflucht jener, die alles sagen müssen. Selbst solche, die wirklich nicht glauben wollen, daß ein Satz von Peter Altenberg eben darum einen Wiener Roman aufwiegt, weil es eben nur ein Satz ist. Man folge meinem Beispiel und lese eine Schnitzler’sche »Fortsetzung« im Aprilheft der Berliner ›Rundschau‹. Ich zwar weiß vorher, daß alles Werk, das in Fortsetzungen erscheint, nichts außer diesem Modus mit der göttlichen Schöpfung gemein hat, und ich gehe mit gutem Mißtrauen Novellen aus dem Wege, welche schon im Titel — »Frau Beate und ihr Sohn« — jene Anhörungsfähigkeit verraten, die mir das Romanschreiben als eine Sache der Entschließung verdächtig macht. Aber gerade ich, der Vorurteile lieber schluckt als Austern, bin oft von Reue über mein enthaltsames Schlemmerdasein ergriffen, und ergreife dann einen Roman. Wissend, daß man überall anfangen kann, ohne etwas zu verlieren oder zu gewinnen, beginne ich in der Mitte, und das Ergebnis ist immer, daß ich mir über meine Reue Vorwürfe mache. Und mir sage: Was nützt es, in Gegenwart einer Zeit zu sprechen, der diese Dinge eingehen! Und mich frage: ob denn ein Krieg grausamer ist als eine Duldsamkeit, die die Gehirne mit solchem Kleister verkleben läßt und eine Industrie fördert, die es besorgt. Gewiß, Schnitzler ist immerhin. Aber was sind dann die Andern, wenn er die Frau Beate, nachdem er auf zehn Seiten beglaubigt hat, daß etwas in ihr vorgehe, auf die folgende Art zu folgendem Resultat gelangen läßt:

Mitternacht mußte vorüber sein. Sie war müde und überwach zugleich. Was tun? Was half alles Überlegen, alles Erinnern, alles Träumen, was alles Fürchten und Hoffen? Hoffen? Wo gab es noch eine Hoffnung für sie? Wieder trat sie zum Fenster hin und verschloß sorgfältig die Läden. Auch von hier aus schimmerts in die Nacht hinaus, in meine Nacht, dachte sie flüchtig. Sie versperrte die Türe, die auf den Gang führte, dann nach alter vorsichtiger Gewohnheit öffnete sie die Türe zu dem kleinen Salon, um einen Blick hineinzuwerfen. Erschrocken fuhr sie zurück. Im Halbdunkel, aufrecht in der Mitte des Zimmers stehend, gewahrte sie eine männliche Gestalt. »Wer ist da?« rief sie. Die Gestalt bewegte sich heran, Beate erkannte Fritz. »Was fällt Ihnen ein?« sagte sie. Er aber stürzte auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände. Beate entzog sie ihm: »Sie sind ja nicht bei sich.« »Verzeihen Sie, gnädige Frau«, flüsterte er, »aber ich ... ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« »Das ist sehr einfach«, erwiderte Beate, »schlafen gehen.« Er schüttelte den Kopf. »Gehen Sie, gehen Sie doch«, sagte sie, ging in ihr Zimmer zurück und wollte die Tür hinter sich schließen. Da fühlte sie sich leise und etwas ungeschickt am Halse berührt. Sie zuckte zusammen, wandte sich unwillkürlich wieder um, streckte den Arm aus, wie um Fritz zurückzustoßen, er aber faßte ihre Hand und drückte sie an die Lippen. »Aber Fritz«, sagte sie milder, als es ihre Absicht gewesen war. — »Ich werde ja verrückt«, flüsterte er. Sie lächelte. »Ich glaube, Sie sind es schon.« — »Ich hätte hier die ganze Nacht gewacht«, flüsterte er weiter, »ich habe ja nicht geahnt, daß Sie diese Türe noch öffnen werden. Ich wollte nur hier sein, gnädige Frau, hier in Ihrer Nähe.« »Jetzt gehen Sie aber sofort in Ihr Zimmer. Ja, wollen Sie? Oder Sie machen mich wirklich böse.« — Er hatte ihre beiden Hände an seine Lippen geführt. »Ich bitte Sie, gnädige Frau.« — »Machen Sie keine Dummheiten, Fritz! Es ist genug! Lassen Sie meine Hände los. So. Und nun gehen Sie.« Er hatte ihre Hände sinken lassen und sie fühlte den warmen Hauch seines Mundes um ihre Wangen. »Ich werde verrückt. Ich bin ja schon neulich in dem Zimmer hier gewesen.« — »Wie?« — »Ja, die halbe Nacht, bis es beinahe Licht geworden ist. Ich kann nichts dafür. Ich möchte immer in Ihrer Nähe sein.« — »Reden Sie nicht so dummes Zeug.« Er stammelte wieder: »Ich bitte Sie, gnädige Frau Beate — Beate — Beate.« — »Nun ist’s aber genug. Sie sind ja wirklich — was fällt Ihnen denn ein? Soll ich rufen? Aber um Gottes Willen! Denken Sie doch — Hugo!« — »Hugo ist nicht zu Haus. Es hört uns niemand.« Ganz flüchtig zuckte wieder ein brennender Schmerz in ihr auf. Dann ward sie plötzlich mit Beschämung und Schreck inne, daß sie über Hugos Fernsein froh war. Sie fühlte Fritzens warme Lippen an den ihren, und eine Sehnsucht stieg in ihr auf, wie sie sie noch niemals, auch in längst vergangenen Zeiten nicht, empfunden zu haben glaubte. Wer kann es mir übel nehmen? dachte sie. Wem bin ich Rechenschaft schuldig? Und mit verlangenden Armen zog sie den glühenden Buben an sich. (Schluß folgt.)

Und dazu dient dieselbe Sprache, die — vergessen wir es nie — den wundervoll knappen Ausdruck ermöglicht hat: Kellner zahlen! Oder eben: »Schluß folgt«.

Die Stimmen mehren sich, welche auf eine Klarstellung der kunstgewerblichen Talente, die durch zwei Jahrzehnte für Künstler gehalten wurden, unter Zuerkennung aller Erfolgsrechte dringen, sozusagen auf die Verleihung der Taxe mit Nachsicht der Ehrenlegion. Im »Jahrbuch für die geistige Bewegung« 1910 (Verlag der Blätter für die Kunst) finde ich jetzt eine Arbeit (»Das Bild Georges«) von Friedrich Gundolf, dem Shakespeare-Übersetzer, in der mit einer erfreulichen Erledigung des Ästheten Borchardt die folgenden Sätze über Herrn Hugo von Hofmannsthal verknüpft sind:

Hofmannsthal ist der Dichter der Bezüge, Eindrücke, Reaktionen, der Former des Geformten, der Seher des Gesehenen ....

Der Schöpfer, nicht nur der Wegbereiter, ist George. In George und nur in ihm ist das ursprüngliche Feuer, dort entzündete der Wiener die Kandelaber, womit er seine schätzereichen, spiegelhellen Säle beleuchtete, während George damit eine ungefüge Erde durchglühen und fruchtbar lockernd erwärmen mußte. Was George von den Franzosen lernte, ist handwerkliches, was Hofmannsthal von George empfing, ist die seelische Substanz selbst, die ihn aus dem geschmackvollsten und reifsten Epigonen Goethes — der war er noch in Gestern — zum ersten dichterischen Verbreiter des neuen Geistes machte. Nicht gleichzeitig mit Georges ersten Konzeptionen ist Der Tod des Tizian, Der Tor und der Tod und die große Lyrik Hofmannsthals geworden, sondern eingestandenermaßen durch sie entzündet. Hofmannsthals klangliche Süße darf man freilich bei dem nicht suchen, der nur »ein Dröhnen der heiligen Stimme« ist, auch nicht jene holde Gewohnheit und Gewandtheit des Umbildens oder Vielgestaltigkeit der Gattungen (dabei muß man nicht einmal so flach wie Borchardt es tut die Vielseitigkeit einer Kunstübung mit Fülle des Gehalts verwechseln) ....

Ihm (George) gegenüber Hofmannsthal: Herr über die Mittel und Möglichkeiten, aber an keine gebunden, unverantwortlich schaltend mit den gelockerten und ausgebreiteten Gütern der Zonen und Zeiten, Seelen und Kulturen, ein beflügelter Merkur botenlaufend zwischen Himmel, Erde und Hölle — und nirgends daheim, mit glücklichen Organen alles herausfühlend, was durch ihn schön und schöner werden kann und ihn selber verschöne, »nichts für sich in der Natur unternehmend, sondern sich in allen Stücken nur auf bereits Vorhandenes einlassend«. So erklärt Goethe »das Würzhafte gewisser Stauden, die zu den Parasiten gehören, aus der Steigerung der Säfte, da sie nicht nach dem gewöhnlichen Lauf mit einem roh irdischen, sondern mit einem bereits gebildeten ihren Anfang machen«. Niemals festgelegt, stets bereit zur Wahl, zu »Mischung und Entmischung«, Proteus der Bildung, geschickt sich in alles zu verwandeln, ohne irgend etwas unentrinnbar zu sein, von jedem zu nehmen, ohne ihm schuldig zu werden, jedem zu geben, ohne zu opfern, sich allem und alles sich zuzueignen, an jede Bezauberung glaubend und jeder Entzauberung gewiß, macht er aus jeder augenblicklichen Not eine dauernde Tugend, saugt wurzellos aus allem Nahrung, jeder Schönheit und Süße bedürftig und in der Sehnsucht ihrer Spiegelung fähig, im Schwelgen nur von der einen Angst geplagt, daß irgend etwas ihm entgehen könnte, irgendein Reiz ihn nicht träfe, irgendein Besitz einem andren zufalle, irgendein Wissen ihm verborgen bleibe. Darum pocht er an allen Pforten, lauert an allen Höhlen, zittert jedem Schauer nach und flüchtet kainhaft unter dem Fluch des horror vacui, und lechzt die ganze Außenwelt zu sich heran, begierig nach immer andren Stoffen, Kleidern, Leibern, Betäubungen, Entzückungen, um nur nicht allein sein zu müssen mit dem Ich oder zu entdecken, daß da kein Ich ist. In immer glühenderen Metaphern, gequälteren Fragen, trostloseren Antworten wandelt er von Gestern bis zum Ödipus dies eine Problem ab: wie werde ich ein All, wenn ich kein Ich bin? »Wir besitzen unser Selbst nicht, von außen weht es uns an«, »Unser selbst ist eine Metapher«, »Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag«, »Charaktere im Drama sind nichts als kontrapunktische Notwendigkeiten«, »Meine Menschen sind nichts als das Lackmuspapier, das rot oder blau reagiert«. Das ist sein Weltgefühl, daß der Mensch nur ein Schnittpunkt von Lebenslinien, nichts an sich ist. Von der dumpfen Wonne, daß alles uns durchschreitet, und von der noch dumpferen Trauer, daß nichts unser ist, ja daß wir nichts sind, es sei denn ein wesenloser Knäuel von Beziehungen, sind all seine Sätze und Sänge voll, dies ist sein Ethos: ihm entnimmt er seine trunkensten Ausweitungen, seine höchstgreifenden Gesichte, aus ihm kommt die hoffnungslose Lähme, die nicht tun nur dulden kann, die Empfänglichkeit, die nicht gebären kann, die Betäubung, die bis ins Ruchlose des Zynismus führt, weil es keine Werte gibt, wo es kein Ich gibt, die Sorglosigkeit sich allem preiszugeben, weil kein Ich dabei zerstört oder verloren werden kann, die stete Angst, den Sinn und die Fülle des Daseins zu versäumen. So hat er, ohne eine Not und Richte in sich selbst, sich mehr und mehr der nächsten Bezauberung dargeboten, mit den Jahren weiter abgerückt von der Mitte, durch Erfolge selbst verlockt, sich mit immer Zufälligerem und Nichtigerem begattet, zersetzt und erschöpft, die mißbrauchten Organe des Dichtens bis zum Krampf aufgepeitscht, bis zum Taumel betäubt. Umsonst sucht er jetzt das Leben von außen hereinzuleiten, das von innen nimmer quellen will. Die Zeit seines ieros gamos, der Morgenschauer einer frisch erschlossnen Welt, der selige Beginnerblick auf eine unverbrauchte Erbschaft ist vorüber für ihn, und er erkennt selbst schmerzlich, daß »Schnellsein nicht zum Laufen hilft«.

So sieht es mit der konkreten Erfüllung aus, mit der Borchardt George zurechtweisen will. Übrigens wird er wohl jetzt selbst nicht mehr frivol genug sein, den heutigen Hofmannsthal der Dialekt-Komödien und Operetten- Texte der deutschen Jugend als Meister und Vorbild zu preisen.

Nur darin weiche ich von der Anschauung Gundolfs ab, daß mir ein Weib, welches sich mit immer Zufälligerem und Nichtigerem begattet, seine Organe keineswegs zu mißbrauchen scheint, jedoch ein Dichter auch durch die Gleichstellung mit einem Weibe, das von seinen Organen den weisesten Gebrauch macht, entwurzelt wird. Aber es verläuft hier und dort alles, wie die Natur will, und ein weiblicher Dichter bringt sich so wenig herunter wie ein Weib. Der Mann, dem man die Wahllosigkeit einer empfangenden Psyche nachsagen kann, vermag wie das Weib nur soziale Einbuße zu erleiden, aber nicht das in Gefahr zu bringen, was man bei ihm mit Unrecht Persönlichkeit nennt. Auf dem Abweg, den die Natur gewiesen hat, gibt es keine Verirrung. Solches Dichten werde aber nicht mit dem weiblichen Sexualakt verglichen, sondern besser mit dem Surrogat hiefür, das von den schreibenden Weibern beliebt wird. Denn die holde Passivität des Weibes leitet die Werke ein, welche des Mannes sind. Die vertrackte Passivität des weiblichen Mannes aber ist wie die Aktivität des männlichen Weibes: sie vermag die Werke gleich beizustellen. Das Weib hat die Persönlichkeit des Nicht-ich: sie ist ein All, indem sie kein Ich ist. Beschränken wir das Bild auf das soziale Moment, welches das »Fallen« einer Frau sichtbar macht, so ist das Urteil gegen den Dichter Hofmannsthal gerechter als gegen jede Frau.

So verlockend es nun wäre, im Zusammenhang mit einer verlorenen Schönen von einem älteren Femininum zu sprechen, das ihr Unterstand gab — es soll nicht geschehen. Denn dieser Hermann Bahr hat sich längst aller Verantwortung entzogen und trägt, wiewohl er vorgibt, erst fünfzig Jahre alt zu sein, jene matronenhafte Schlichtheit, die mit dem ganzen Vorleben versöhnt, das diese fünfzig Jahre ausfüllt, und der man den Übergang in ein älteres Fach ohneweiters glaubt. Der Sultan Fortschritt hält jetzt einen Harem von Suffragetten, und dort Eunuch zu sein, ist ein schöner Beruf, wenngleich er auf die Dauer seinen Mann auch nicht nährt. Was dann folgt, ist unbestimmt. Aber ewig unbefriedigt wie alle diese ich-losen Individualitäten, deren Rudel Wiener Literatur heißt, bleiben wir mit unserem Wunsche, daß die, die so viel schon mitgemacht haben, endlich einmal auch etwas erleben mögen. So sollen sie wenigstens mit ihrem Schein dem Licht nicht länger im Wege stehn!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 374/375, XV. Jahr
Wien, 8. Mai 1913.