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Schoenebeckmesser

Juli 1910

Wenn die Erinnerung an Herrn Maximilian Harden, die hin und wieder noch durch einen Wirtshausexzeß des Milchhändlers Riedel aufgefrischt wird, verrinnen sollte, wenn es selbst meiner philologischen Mühe nicht gelingen möchte, seine Prosa unsterblich zu machen, so wird sich doch einst ein deutscher Sittenforscher dazu entschließen müssen, das Profil dieses zwischen Staats- und Bettgeheimnissen angestrengten Chiffreurs nachzuzeichnen. Denn daß die deutsche Intelligenz durch ein paar Jahre geglaubt hat, aus einem Zettelkasten spreche eine Pythia und ein Informationsbureau sei ein Janustempel, ist die stärkste aller erweislichen Wahrheiten. Und die lustigste, wie schnell der Glaube in dieser allen Wahrheitssuchern und Nordpolfindern, Luftgauklern und Erdenschwindlern hingegebenen Zeit kaput wird. Wir verstehen eines Tages nicht mehr delphisch; und vor uns steht ein Januspolitiker mit zwei Gesichtern, von denen das eine vorwärts sieht, das andere rückwärts, jenes auf den Hosenlatz der Nation und dieses auf ihren Hintern. Hütet euch vor seinem wissenden Blick, ihr deutschen Soldaten; zeigt ihm die Front nicht und kehrt ihm nicht den Rücken; ihr Goeben und Moltke, habt Acht! Nicht mehr gefährlich ist er, aber zudringlich. Nicht über Krieg und Frieden entscheidet er jetzt, aber über eure Siege und Niederlagen im Bett. Eine Zeit der Geschlechtsparade ist angebrochen: weh dem, der normwidrig adjustiert ist; weh dem, der im Vordertreffen seinen Mann nicht gestellt hat. Pardon wird nicht gegeben. Wer sich den Luxus eines Privat- und Familienlebens gestattet, muß sich auch dessen Kritik gefallen lassen. Und wie’s bei Schoenebecks zuging, das zeigt uns nicht nur die öffentliche Berichterstattung über eine geheim durchgeführte Verhandlung. Nein, dort, wo sogar der Reporter verzichtet, dort, wo schon unsere Phantasie diskret wird, eben dort tritt Herr Maximilian Harden dazwischen, duldet keine Heimlichkeiten, dreht die Lampe auf, die’s nicht wissen soll, spricht aus, »was ist« und ihn nichts angeht, ruft Zeugen zur Tat, wälzt ein Protokoll heran und sorgt dafür, daß auch nicht ein Tropfen erweislicher Lustbarkeit verloren gehe. Auf die Frage, ob man im Dunkeln erröten könne, läßt er sich nicht ein, da er weder ein Dunkel zugibt, noch ein Erröten kennt. Was an Tatsachen nicht zu haben ist, ersetzt er durch die Erkenntnisse seiner ausschweifenden Psychologie. Und mit einem Wissen, dem nichts Menschliches fremd, und mit einem Besserwissen, das über alles Menschliche informiert ist, mit dem ganzen Rüstzeug einer neuzeitlichen Bildung, die Juristerei, Philosophie und Medizin und leider auch Pornolalie studiert hat, und mit einem Eifer, der von der Erschaffung der Welt anfängt, die Bibel plündert und Allenstein das Olsztyn der masurischen Polen nennt, um auf die Hauptsache, die sexuellen Gewohnheiten des Herrn v. Goeben zu kommen, bepackt mit Erudition, Information und Sensation wie noch nie: so tritt Herr Maximilian Harden in das Schlafzimmer des Hauses Schoenebeck.

Ein Journalist, der, bevor er die zugkräftigsten Gemeinheiten über einen Toten und über eine Frau losläßt, nicht einmal so viel Takt beweist, mit seinen geographischen und historischen Kenntnissen über eine Provinzstadt zurückzuhalten. Ungescheut, mit einer Indiskretion, die den verborgensten Winkel des Zettelkastens nicht schont, enthüllt er uns, daß die Alle ein Nebenfluß des Pregel ist, und daß dort Marschall Soult 1807 vier Tage vor der Schlacht bei Eylau den russopreußischen Nachtrab schlug. Daß Allenstein 30.000 Einwohner, ein Hochmeisterschloß und eine restaurierte katholische Kirche hat und die Bevölkerung Handel mit Holz, Leinwand und Hopfen treibt. Was das uns angeht, fragen wir, die an solchen Intimitäten nachgerade genug haben und denen das Exhibitionieren mit Baedekerbildung ein Ärgernis ist. Zur Sache! möchten wir rufen, weil wir auf die Beweisführung gespannt sind, wie Herr von G. durch Frau von Sch. zu einem normalen Geschlechtsverkehre veranlaßt wurde. Aber noch ist, nach der geographischen Belästigung, der Speicher des historischen Wissens nicht entleert. G. ist nämlich »Sohn aus der zweiten Ehe eines Gutsbesitzers, der als Sechzigjähriger an Leberkrebs starb«. Die Mutter war fünfunddreißig Jahre alt, als das Kind geboren, oder vielmehr »ihrem Schoß entbunden wurde« (dies nebenbei zur Aufklärung für solche, die noch immer glauben, daß der Storch die preußischen Offiziere bringt). Man sieht, wie wenig man in der Schule gelernt hat und was man alles fürs Leben braucht. Wie der Famulus stehen wir vor dieser faustischen Fülle. Zwar wissen wir jetzt schon viel, doch möchten wir alles wissen. Also: Herr von G. war eine »schwere Zangengeburt«. »Arm und Bein sind rechts um einen Zentimeter kürzer als links.« Ob’s genau stimmt, wissen wir freilich nicht, haben aber das Vertrauen. (Wenn’s uns der Schoenebeckmesser sagt.) »Als Kind hat er an Masern, Scharlach, Keuchhusten, Skrofulose gelitten und sich einen Leistenbruch zugezogen.« Nun haben wir bisher geglaubt, daß zwar Masern und Scharlach Krankheiten sind, die angezeigt werden müssen, daß aber ein Leistenbruch immerhin zu jenen Privatangelegenheiten gehöre, die der Mensch mit sich selbst auszumachen hat, und zu jenen Leiden, auf die sich das ärztliche Geheimnis eben noch bezieht. Dieser Arzt aber kennt kein Geheimnis, so wenig wie dieser Jurist, dieser Historiker, dieser Geograph, dieser Archäolog, dieser Flugtechniker, dieser Journalist. Er ist durch das Leben des Hauptmanns von G. gezogen, er hat seine Entwicklung mitgemacht, er stand zu Häupten seiner Wiege und zu Füßen seines Bettes, er begleitete ihn in den Burenkrieg, er war dabei, als er verwundet wurde und zwar »an Armen und Händen, an der Hüfte und dem fünften Metakarpalknochen« — kein Wunder, daß er ihm jetzt auch eine Mappierung seiner Sexualpläne vorweist. Er hat seinen Jugendsünden beigewohnt, er kennt seine vorzeitige Männerschwäche. Nichts Menschliches ist ihm fremd, nichts ist ihm, in all den Jahren, in denen er doch mit der Liebenberger Tafelrunde vollauf zu tun hatte, entgangen. Und er weiß auch, daß G. »von seinem auf ihn stürzenden Pferde an Darm und Niere gequetscht« wurde, und daß er hierauf an Malaria und Schwarzwasserfieber erkrankte, bis er nach einer langwierigen Furunkulose 1906 als Batteriechef zum Masurischen Feldartillerieregiment Nr. 73 versetzt wurde. Wann? Vor Weihnachten? Nein »im Advent«. Und endlich lernt er Frau von Schoenebeck kennen. Die hat vom Major Schoenebeck zwei Kinder? Nein, das ist der Mann, »in dessen Umarmung sie zwei Kinder empfangen hat«. Was tut Goeben? Er küßt sie? Aber nein, er »drückt, selig zunächst schon in dem Bewußtsein, lange genährtem Heilandwahn so brünstigen Glauben geweckt zu haben, seine Lippen auf den Mund der Frau, die sich, in der Ohnmacht überquellenden Dankbedürfnisses, erfröstelnd in seine Arme gleiten ließ«.

Seitdem Herr Maximilian Harden einmal Wedekinds »Frühlingserwachen« das »Männern der Knaben und Böckeln der Mädchen« genannt hat, wissen wir, daß er eine zwar nicht verständliche, aber deutliche Sprache liebt. Seitdem er einmal gesagt hat, daß in einem andern Drama die Heldin den Helden »an der Wurzel des Paarungstriebes kitzelt«, wissen wir, daß er ein Ding zwar umschreibt, aber beim rechten Namen nennt. Kein Zweifel, er wird uns aus dem Traumleben des Herrn von G., in dem er sich so gut auskennt wie in einem Konversationslexikon, schon erklären, was diesen Kavalleristen bestimmt hat, sich so lange vom Weibe fernzuhalten und lieber »im Sattel den Akkumulator seines Geschlechtstriebes zu entladen«. Herr Harden bedauert, daß den Herrn von G. »keiner je vor schädlichem Mißbrauch des Zeugungorganes gewarnt« hat. Wir bedauern, daß es keinen Strafgesetzparagraphen gibt, der die Weglassung des »s« in einem fremden Körperteil weithin als eine verächtliche Handlung brandmarkt. Wir bedauern, daß es kein literarisches Berufsgericht gibt, das einen Schandpreis der Diskretion einem Journalisten verleiht, dem eine so delikate Umschreibung gelungen ist wie diese: »Der Artillerielieutenant tut wie Onan, Judas zweiter Sohn von Sua, den des Herrn Zorn traf, weil er, statt bei des Bruders Witib zu liegen, seinen Keimsaft in die Erde sickern ließ«. Wir bedauern, daß es keine Organisation des Abscheus gibt für den Fall, daß ein Publizist selbst an jenes Geheimnis geschlechtlicher Betätigung greift, welches bisher der Natur der Sache nach mit keinem Zeugen geteilt wurde. Aber die neurologische Obduktion des Herrn v.G. — nein, »des aus kränkelndem Stamm Entsproßten« — ist noch nicht zu Ende. »Ob ihn je ein Mannesleib reizte?« fragte Herr Harden, den eine langjährige Erfahrung auf diesem Gebiete auf solche Möglichkeit vorbereitet hat. Endlich ist’s heraus. Eine unverbindliche Frage. G. war Offizier, und Herrn Harden könnte es nicht überraschen. G. »hat’s geleugnet«. Nun, Harden will’s mindestens dahingestellt sein lassen. »Die besondere Art seiner Lustvorstellung ließe leicht darauf schließen«. Positives hat er nicht erfahren können; die Detektivbureaus gegen die Armee zu mobilisieren, lohnt sich nur, wenn außer dem Vaterland das eigene Wohl gefährdet ist. »Einerlei«, meint Herr Harden; will die Sache nicht weiter untersuchen und läßt es beim Rade bewenden. Denn schließlich bietet ja der selige G. schon durch sein »schmähliches Geheimnis«, um das Herr Harden weiß, genug Handhabe für einen aufgeregten Moralisten. Und wie erst durch seinen Verkehr mit der Frau von Schoenebeck! Herr Harden erinnert zu diesem Punkte an die »Leistungsfähigkeit der Lieutnantszeit«, während hingegen den Hauptmann »häufige Schweißausbrüche schwächen« und seine Exzesse »sich von Mond zu Mond mehren«. Herr Harden sagt’s nun gradheraus, es handle sich um »Masturbation«, und »der fast Siebenunddreißigjährige, der als Batteriechef« — bisher war nur von Akkumulatoren die Rede — »nach Allenstein versetzt wird, hat als ein Glücklicher niemals noch den Leib eines Weibes umschlungen«. Endlich also lernt er Eine kennen. Frühling ist’s. Oder mit einem Wort: »Der Lenz kommt ins Pregelland«. G. denkt, die könne er haben? Nein, so einfach geht das nicht, sondern: »In schwüler Mittagsstunde bebrütet, während des Heimrittes vom Übungsplatz, die Sonne in Goebens Hirn die Hoffnung, jetzt, so spät noch, das volle Glück der Mannheit zu erlangen«.

Die Mutter ließ ihn einst — Herr Harden weiß es — im Scherzspiel auf ihrem Rücken reiten. Und Herr Harden weiß, daß sich im Unbewußten des Knaben dieser Eindruck festgesetzt hat. Ob er nun bei der Assoziation dabei war, oder den Hauptmann untersucht, oder gar ein Werk über Psychoanalyse gelesen hat; ob er’s vom Hörensagen weiß oder ob es ihm am Ende ein Hofrat und fünf Ärzte aus dem Annoncenteil der ›Zukunft‹ eidlich bestätigt haben — Herr Harden weiß, welche Vorstellung dem Herrn von G. beim Reiten zu schaffen macht. Nun wird es an Frau von Sch. sein, ihn beim Huckepackspiel herumzukriegen. So wird die »männische Willensleistung« ohne Zweifel einmal zustande kommen. Die Frau behauptet aber, ihr eigener Mann »vertiere zum unersättlichen Bullen, der sich Tag vor Tag auf die Kalbe stürzt, zum geilsten Bock, dessen Gier zwischen zwei Sonnen mindestens einen Geschlechtsakt erzwingt«. Unglaublich; und was meint G. dazu? »Doppelt brennt vor dem Schreckbild solcher roh prassenden Übermännlichkeit die Schmach eigenen Unvermögens.« Die Frau will »von dem Lakentyrannen befreit« sein und zugleich »den Kiefertaster des Männchens zu neuem Tatversuch wachkitzeln«. Das heißt, sie will den Major los sein und den Hauptmann herumkriegen. Sie ist selig in dem Gedanken; sie versichert also, »der Rausch der Verheißung habe ihr das Bewußtseinstor überschwemmt«. Soll sie sich denn an ihren gierigen Mann wegwerfen? Oder einfacher gesagt: sollen »ihre nie nach Lust getränkten Sinne, wie dürstende Hunde an besudeltem Rinnsal, sich an unsauberem Born kühlen? Grauen, Ekel, alle Wächter schamhafter Liebe überrennen, rings um die Seelenfeste die Leuchtfeuer löschen und im Dunkel des Ehebettes von dem über dicht verhängten Pupillen Röchelnden in stummer Wonne nehmen, was der Mann zu geben vermag und der Liebste versagen muß?« Trotz solchen Hindernissen — endlich »gelingt, was noch nie gelang: die Mann und Weib zum Gattungdienst nach der Norm der Natur einende Paarung« ... Und wo begibt sich das alles? In Allenstein? Nein, so plump ist Herr Harden nicht, den Ort einfach zu verraten. »Im Allestädtchen«, sagt er diskret. Herr von Schoenebeck, hat sie erzählt, habe »ihr die Haut gepardelt«? So etwas kann einem Publizisten, der Sexualklatsch verbreitet, nicht passieren; denn die Beleidigten sind zum Teil tot, zum Teil im Sanatorium. Vielleicht hätte Herr von G. auch nicht den Mut gehabt. Denn er war einer, »der mit dem prahlerisch ausgereckten Geäst seines Wesens doch keinen Bezirk der Mannheit ganz zu decken vermag«. Wie wollte er denn ursprünglich den Major umbringen? Mit Arsenik? »Die schafft er herbei.« Aber da einerseits eine weibliche Arsenik ohne Wirkung bliebe und anderseits auch Frau von Schoenebeck nicht dafür ist, so muß ein anderes Mittel gewählt werden. Er zögert. »Wie am Vaal einst der Stacheldraht, drückt der Hohn des Weibes sich dem Soldaten in die Brustwehrhaut.« Und es geschieht.

Wer das dem Major Schoenebeck vorher gesagt hätte! Wer ihm gesagt hätte, »unter dem Pfühl, an dem noch seines Schweißes Ruch haftet, wärme die Brust seines Weibes den zuckenden Leib Hugos von Goeben und aus dem oft unter Saugküssen erstickten Gewisper der Beiden webe sich die letzte Masche eines Mordplangespinnstes, das in der nächsten Nacht den Hausherrn drosseln solle«! Er hätt’s nicht geglaubt. Denn er wußte zwar, wie sie’s getrieben hat, kannte sogar aus Briefen »das Hengstgewieher der Angekörten«, aber schlief fest »wie ein Grimbart im Winterkessel«. Er wußte, daß sie es »mit dem graugelben Bombenhugo« halte, aber an Mord hätte er nicht geglaubt. Sie war ihm ein bequemes Lusttierchen, das gibt Herr Harden zu, lobt die Auffassung und läßt das Lied vom braven Mann erklingen, der seinen bunten Rock, seine Kinder und seine Jagd über alles liebt und der sich rackert, während seine Frau auf »Lendenerlebnisse« ausgeht. Herr Harden billigt die sexuelle Indulgenz eines Mannes, von dem er uns vorher schlicht erzählt hat, daß er »mit dem Gelde der Frau behaglich leben und seine Gäste besser bewirten kann als mancher Brigadier«. Und er vertritt auch den männlichen Standpunkt sexueller Kommodität. Hat solch biederer Jägersmann schon ein Lusttierchen im Haus, so benütze er es und hänge sein Geweih unter die Jagdtrophäen. Was des Mannes Recht ist, wird bei der Frau geduldet: aber auch nur, weil der Skandal vermieden und das Geld behalten werden soll. Mit einer unbezahlbaren Geste der Verachtung aber für das »Ewig-Läufische« finden sich die deutschen Männer in solcher Situation zurecht, die ihnen besonders dann bequem ist, wenn sie selbst ein Bedürfnis fühlen. »Kann, wenn ich will, mein Lusttierchen haben.« Dieses Wort, das Herr Harden dem Herrn von Schoenebeck in den Mund legt, ist das tiefste Bekenntnis dieser infamen Sittlichkeit, die den begehrenden Frauen mit Kriminalität und Psychiatrie beikommt, wenn sie sie zufällig nicht für die begehrenden Männer pardonniert hat.

Ich weise es von mir, mich mit dem Meistersinger der bürgerlichen Moral, mit dem Beckmesser ehelicher Potenz, mit dem Höfling der Lakentyrannen und dem Profosen militärischer Normwidrigkeit über erotische Probleme auseinanderzusetzen. Ich werde mit ihm nicht darüber streiten, ob eine Frau wirklich eine »aus dem Bereich der Weibheit Geschiedene« ist, ob sie wirklich »einen Aussatz blößt, den die Winkeldirne noch vor Jedem, den sie nicht wegscheuchen will, bürge«: wenn sie ihrem Geliebten von der Manneskraft seines Vorgängers spricht. Ich werde den geschwollenen Plattheiten dieses Moralphilisters nicht mit dem erotischen ABC begegnen, daß eine Frau in der trotz Herrn Harden wichtigsten Situation ihres Lebens immer nur spricht, was der Mann hören will, und daß die Lustvorstellung des Mannes von seiner ethischen Persönlichkeit ebensowenig determiniert ist, wie von irgendeiner sittlichen Konvention der unbeteiligten Außenwelt. Ich werde Herrn Harden nicht zu beweisen suchen, daß Frau von Schoenebeck in ihren Taten viel weniger den Bereich der Weibheit verließ, als Herr Harden in seinen Worten den Bereich der Mannheit. Ich werde ihm nicht zu beweisen suchen, daß die Lusttierchen eine milliardenmal wichtigere Rolle in der Kultur des menschlichen Geistes gespielt haben als die Bettwanzen, die schließlich nichts weiter geleistet haben, als daß sie dabei waren. Ich werde ihm nicht einmal klar zu machen versuchen, daß auch Herr von G. sich der männlichen Norm endlich nähert, dort, wo er die Frau, die ihm die Liebe beigebracht hat, verrät, weil er nämlich inzwischen erfährt, daß sie auch andern die Liebe beigebracht hat. Und fern sei es von mir, Herrn Harden zu erklären, daß bis dahin jener mit seiner Liebesverlorenheit noch immer mehr Ehre aufgehoben hat, als Herr Harden mit seiner nachschmeckenden Entrüstung. Er hatte, bis er das rechte Weib fand, mehr Phantasie als Herr Harden, und als er es fand, mehr Erlebnis. An all dem, was Herr Harden hier auszusetzen hat, kann eine starke Natur zum Künstler werden. Jener hat wenigstens ein intensives Leben hinter sich und könnte der nachstümpernden Kunst seines Sittenrichters wie Fiesko spotten: Ich habe getan, was du nur maltest!

Denn von dem, was einer genossen hat, scheint Herr Harden zu gut reden zu können. Ich will ihm den Genuß des Redens nicht mißgönnen, ich will nicht in sein Privatleben greifen, das er durch seine publizistische Entrüstung eröffnet hat. Er wende sich den japanischen Niederlagen im russischen Kriege zu und lasse seine Hand von Dingen, von denen er nichts versteht. Sein geschlossener Unstil, lästig genug, wenn er sich an politischen Tatsachen vergreift, wird bei der Behandlung tieferer Lebensprobleme zur Qual, aber nicht zu jener, aus der die Liebessklaven ihre Wonnen schöpfen. Herr Maximilian Harden findet keinen Dank. Nicht bei der Unmoral, gegen die er die sittlichen Gewalten hetzt, und nicht bei den sittlichen Gewalten, denen er die Unmoral allzu lebendig einliefert. Er, der tüchtigste Markthelfer der Moral, hat es erleben müssen, daß ihm der preußische Staatsanwalt den Artikel über den Fall Schoenebeck konfisziert hat. Denn offenbar gibt es in Berlin einen Gerichtsdolmetsch für Delphisch, und der hat, ohne die sittliche Tendenz des Herrn Maximilian Harden zu erfassen, an der Schilderung Anstoß genommen. Mißverständnisse über Mißverständnisse. Ich finde wieder die Schilderung harmloser als die Tendenz. Wenn man den Artikel übersetzt, wird man sehen, daß Herr Harden die alltäglichsten Vorgänge der Menschheit in ein schiefes Licht zu bringen sucht. Das macht: er sieht die Welt durch ein Schlüsselloch. Man sei aber einmal vorsichtig, lasse den Schlüssel stecken, und man kann sicher sein, daß der Schriftgelehrte draußen seine Weltanschauung verliert.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 305/306, XII. Jahr
Wien, 20. Juli 1910.