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Geteilte Ansichten

Die Ansichten der ›Frankfurter Zeitung‹ über mich sind geteilt. Da läßt sie einen schreiben:

.... der ganze Horizont eines Menschen unserer Zeit .... ist durch die tausenderlei Anzeigen, Inserate und Plakate mitgebildet. Deshalb durfte auch der Satiriker Karl Kraus einen seiner stärksten und schärfsten Essays »Die Welt der Plakate« nennen. Indem er die mehr oder minder klug, mehr oder minder geschmackvoll, mehr oder minder aufdringlich, mehr oder minder grotesken Reklamemethoden in einer Art von Phantasmagorie als Welt für sich zeigt, übt er so bittere, aber tiefgehende Kritik an der Welt der »Wirklichkeit«.

Tagszuvor aber hat Herr Ganz, der Wiener Korrespondent, geschrieben:

.... ein Autor, der Mitarbeiter der ›Neuen Freien Presse‹ ist, hat gegen alle die Feindseligkeiten zu kämpfen, die diesem Blatte im Laufe der Jahre mit Recht oder Unrecht erwachsen sind. Der Wiener Bildungsmob teilt sich gegenwärtig in zwei Lager, in solche, die noch auf die ›Neue Freie Presse‹, und solche, die schon ebenso blind auf Karl Kraus schwören, und die Literaten in solche, die sich mehr vor der ›Neuen Freien Presse‹, und solche, die sich mehr vor Kraus fürchten. Solchen Leuten ist ein Autor und sein Werk ausgeliefert, namentlich ein neuer Mann, der noch keinen Auslandskredit hat und für den die Aufnahme, die er in Wien findet, fast ein Lebensschicksal bedeuten kann.

Es sollte mir außerordentlich leid tun, wenn der Glaube, den ich bei einem Teil des Wiener Bildungsmobs schon finde, und die Furcht, die ein Teil der Literaten vor mir hat, der Karriere des Herrn Sil Vara geschadet haben. Aber ich kann nur versichern, daß ich nichts dafür kann. Nie habe ich Wert darauf gelegt, den Wiener Bildungsmob den Armen der Neuen Freien Presse zu entreißen, umsoweniger, als er sich von dem, der auf die Frankfurter Zeitung schwört, nicht wesentlich unterscheidet, und mir, der nicht Machtbestände verrücken will, verwachsen Bildungsmob und Presse zu einem einzigen Vollbart, der auch das Antlitz des Wiener Korrespondenten der Frankfurter Zeitung zieren kann. Aber noch die Ansichten dieses Ganz über mich sind geteilt, denn er hat mich ehedem mit Lichtenberg verglichen und nennt mich jetzt eigentlich einen Schmarotzer an Snobismus und Feigheit. Daß die Furcht vor mir noch keinem Literaten bei mir genützt hat, weiß jeder Literat. Furcht ist im Gegenteil eine Fährte, und jeder trachtet nicht so sehr mir aus dem Weg zu gehen, als mich aus seinem Wege zu bringen. Ich lege ja auch in der Tat viel weniger Wert darauf, daß die Herren mich grüßen, als daß sie keine Schweinereien machen. Furcht ist so verfehlt wie Unerschrockenheit, die Wiener Briefe schreibt. Man kann auch furchtlos Dummheiten begehen. Und ich werde es schon noch dahin bringen, daß die Herren, die das Ausland bedienen, so unreinen Mund über mich halten, wie die Landsleute. Das wäre das weitaus Vernünftigste. Ich werde jede Entstellung und Beschmutzung des Bildes der Fackel in jedem einzelnen Falle nachsichtslos verfolgen. Die Behauptung, daß der halbe Bildungsmob auf mich so blind schwört wie der andere auf ein korruptes Tagblatt, wird von fremden Lesern zu der Vorstellung ergänzt, daß mein Werk ebenso ein Opfer an den Bildungsmob ist und hier eine ähnliche Intimität besteht wie im »andern Lager«. Solchen Leuten ist ein Autor ausgeliefert, der noch keinen Auslandskredit hat! Der Journalist schreibt es nieder, der Tölpel glaubt es. Es korrespondiert etwa mit jenem banalen Zweifel, der sich an die Tatsache meiner Vorlesungen heftet und den Kopf darüber schüttelt, wie ich derselben Schichte, deren Wesenheit mir die Erregung eingebe, die Gestaltung vorlesen könne. Ach, diese Esoteriker, die nicht einmal die Qualität haben, Publikum zu sein, mögen mich nur schalten lassen. Ihnen, den Einzelnen, könnte ich’s nicht vorlesen, doch mir selbst bringe ich’s zu Gehör und der Masse sage ich’s ins Gesicht. Diese mag, wenn es vorüber ist, in Einzelne zerfallen, deren Urteil und Tonfall von neuem die Erregung rechtfertigt, aber im Saal schließen sie sich zu jener Hörfähigkeit, die mein Glossentext nicht entbehren kann. Zwischen Text und Vortrag wäre ein künstlerischer Widerspruch, wenn ich das täte, worauf der Dramenschreiber angewiesen ist: mein Werk von einem andern vortragen zu lassen. Oder wenn ich irgendein anderer der heute lebenden Autoren wäre, die ihre Sachen selbst vorlesen. Die, denen es gilt, hören gut zu. Zwar manche, die ein Grauen überkam, sind dann im Zwischenakt intelligent geworden. Das ist mir recht, das Gesetz der Theaterwirkung ist erfüllt, und der Widerspruch ist nicht in mir. Die Frechheit soll sich nur melden. Was unter und trotz ihr mit nach Hause genommen wird, wirkt nach und stört späterhin Schlaf und Verdauung.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 374/375, XV. Jahr
Wien, 8. Mai 1913.