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Eros und Themis

April 1905

Manchmal fragt man sich, ob das Alles, was wir so im Lauf eines Jahres an öffentlicher Erörterung und krimineller Behandlung sexueller Dinge erleben, nicht ein Scherz sei, ausgeheckt von freien Hirnen, die ihren Zeitgenossen bloß ein Schreckbild der Heuchelei vorführen möchten. Ein solcher Abgrund der Sittlichkeit kann sich vor unseren Augen nur im Bilde, nicht in der Wirklichkeit auftun. Sollte die Menschheit, deren Weg angeblich die Befreiung von den Strangulierern individueller Rechte bedeutet, mit befreitem Willen ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht opfern? Nein, die Nachricht muß falsch gewesen sein: Oscar Wilde lebt, er ist nicht für eine Laune seiner Nerven schändlich hingemordet worden. Und Maxim Gorki mußte nicht Schimpf erdulden, weil er aus dem Gefängnis zum Krankenbett seiner Geliebten eilte. Es ist nicht wahr, daß die Menschen den Ursprung ihres Werdens und den Quell ihrer Glückseligkeit fliehen, wie man einen pestverseuchten Ort flieht, daß sie am Tag besudeln, was sie des Nachts ersehnen, daß der Mann sich belügt und die Frau um ihre Lebensfülle betrügt, und daß er die Huldinnen dieses armen Daseins in den sozialen Verachtungstod hetzt. Es ist nicht wahr, daß er dieselbe Tugend, auf deren Zerstörung seine Instinkte zielen, zum Maß der Frau macht, und daß er den Wert der Frau ins verkehrte Verhältnis zu der Summe der Freuden setzt, die sie gespendet hat ...

Ja, wäre die Furcht, in der die Menschheit vor ihren Hoffnungen lebt, nur ein häßlicher Traum! Aber wir wachen mit unerbittlicher Bewußtheit. Wir wachen vor den Schlafzimmern unserer Nebenmenschen. Wir fühlen uns noch immer verpflichtet, jenes öffentliche Ärgernis beizustellen, das eine Privatsache nicht hervorrufen würde, wenn sie unseren Blicken verborgen bliebe. Wir halten die Zeitung in der Hand, die es uns gewissenhaft meldet, wenn irgendwo zwei interessante Leute sich zu geschlechtlichem Tun gesellt haben, und wir kritzeln hocherfreut an den Rand den Namen der Frau, der in einem Prozeß mit impertinenter Diskretion so angedeutet wurde, daß wir ihn besser behalten, als wenn er genannt worden wäre.

Ein junger Mann ist des Betruges angeklagt. Zum Beweise der Tat muß sein Sexualverkehr, nach Intensität und Richtung, vor den Geschwornen erörtert, müssen die Liebesbriefe einer Künstlerin, die so unvorsichtig war, sich nicht vor der Entscheidung ihrer Geschlechtsnerven eine Leumundsnote über den Er wählten zu verschaffen, in geheimer Verhandlung verlesen werden. In einer Verhandlung, die so geheim geführt wird, daß die Fanghunde der öffentlichen Meinung Gelegenheit haben, die pikantesten Brocken zu erhaschen. Und siehe, wieder ein mal geht ein grenzenloses Staunen durch die Welt, daß es noch so etwas wie geschlechtlichen Verkehr gibt, und seine letzte Repräsentantin wird mit all dem sittlichen Unflat beworfen, den die öffentliche Meinung nur in der Eile zustandebringen kann. Die ewige Nachbarin öffentliche Meinung! Daß ein Lump Betrügereien verübt hat, erklärt sie ohneweiters aus der Tatsache, daß eine Künstlerin Liebesbriefe geschrieben hat. Liberale Diskretion nennt diese bloß die »bekannte Schauspielerin«, aber ein christlichsozialer Lümmel, der seine Entrüstung nur in Rufzeichen, seinen Hohn nur in Gänsefüßchen und seine Dummheit nur in Gedankenstrichen ausdrücken kann, erstarrt vor Entsetzen bei der Vorstellung, daß ein Betrüger mit dem Plan umging, die »›Dame‹ (!) zu — — — heiraten«.

Der Vorsitzende hieß nicht Feigl, sondern Hanusch. Daß es einen Paragraphen im Strafgesetz gibt, der die Mitteilung ehrenrühriger Tatsachen aus dem Privat- und Familienleben ahndet, schien er nicht zu wissen. Und richterliche Unkenntnis des Gesetzes schützt bekanntlich den Angeklagten nicht vor Strafe und den Zeugen nicht vor der Pein des Verhörs. Eine Frau mußte es büßen. Mit Vergnügen ging der Gerichtshof auf die tiefsinnige Absicht des Verteidigers ein, die anormale Geistesverfassung seines Klienten durch die »Perversität« seiner Geschlechtsübungen zu beweisen. Die Belege der Unzurechnungsfähigkeit dienen dann einer hartgesottenen Kriminalistik als Beweise jener sittlichen Verlotterung, der auch ein Betrug zuzutrauen ist, und eine pikante Abwechslung ist nicht zu verschmähen. Der populäre Wahn, der Geist und Charakter des Menschen — vor allem des Nebenmenschen — von der Richtung seines Sexualgeschmacks bestimmt sein läßt, wird von Juristen und Psychiatern als ein Grundsatz geheiligt, aus dem sie nur verschiedene Konsequenzen ziehen. In Wahrheit wäre höchstens die von Geburt an auf das eigene Geschlecht gerichtete Sexualtendenz pathologisch zu deuten. Und bloß die des Mannes, die den Mann falschlich als sexuelles Wesen bejaht und als den Träger von Ethik und Vernunft ausschaltet, könnte die Gesellschaftsordnung berühren. Im Weib, als dem an sich sexuellen und antisozialen Wesen, vermag auch die Wendung zum eigenen Geschlecht nicht ein neues antisoziales Moment zu schaffen. Aber welche Überhitzung oder Raffinierung normaler Triebe könnte anders denn als Geschmackssache und somit Privatsache der Beteiligten aufgefaßt werden? Sind wir noch immer nicht über den geistigen Horizont eines Krafft-Ebing hinaus, der sich über die Resultate seiner wissenschaftlichen Forschung sittlich entrüstet? Der Phantasie für krankhaft und Krankhaftigkeit für ein Laster hält? Er spricht von einer Ausgeburt höllischer Phantasie, wenn der sinnliche Strom einmal wo anders mündet, als es in den Normalien vorgezeichnet ist, wenn zwei Menschen das tun, was die Asexualität, die über die bloße Andeutung der Gefühle nicht hinauskommt und sich darum fast stets prostituiert, als »Perversität« verfehmt, was aber gesunde Unbewußtheit seit Erschaffung der Welt als selbstverständlichen Ausdruck der Leidenschaft betätigt. In der Liebe gibt es nichts Anstößiges, solange der unbeteiligte Moralrichter nicht seine Nase hineinsteckt und die Nachtwandler zur Besinnung ruft. Eine Schauspielerin kann eine große Frau und eine große Künstlerin sein, auch wenn die »Konstatierungen«, die ein Gerichtshof vorzunehmen sich unterfängt, »kraß« sind. Vielleicht noch größer, wenn noch krasser!

»Die Ergebnisse dieses Teiles des Beweisverfahrens entziehen sich der Veröffentlichung«. Dieser Satz bedeutet mehr als die Veröffentlichung; der grinsende Reporter sagt mehr als der sprechende. Aber die ›Neue Freie Presse‹ ist so nachsichtig, in solchem Falle »auf eine stark ausgesprochene Geistesstörung zu schließen«. Nichts ist, wie man weiß, in den Augen einer Kupplerin verächtlicher, als die Sphäre, in der sie wirkt. Aber daß sich die alte Fichtegasslerin noch immer entrüsten kann, ist erstaunlich. In derselben Nummer, in der sie über die krasse Perversität von Privatleuten das Maul verzog, trug sie auf ihrem Hinterteil die Ankündigung der folgenden sinnigen Namen von Masseusen: Hedwig Faust, Ida Schlage, Wanda Stockinger, und zwei Wanda Schläger, die in verschiedenen Gassen wohnen. Ein paar Tage später auch die folgenden: Minna Beinhacker, Jeanette und Wanda Stock, Paula Ruthner, Carola Prügler. All diese Trägerinnen vielversprechender Pseudonyme dienen einem Bedürfnis, an dessen Verbreitung in den höchsten Schichten der Gesellschaft der Moralrichter nicht glauben könnte. Haben somit ihre Existenzberechtigung. Auch die ›Neue Freie Presse‹, die ihre Annoncen bringt, dient diesem Bedürfnis. Hat somit auch ihre Existenzberechtigung. Ich frage aber, wer dabei den höheren Anspruch auf die sittliche Anerkennung der Menschheit hat: die Masseusen, die die ›Neue Freie Presse‹ bezahlen, oder die ›Neue Freie Presse‹, die von ihnen Bezahlung nimmt und im Textteil die ihr anvertrauten Interessen schmählich verrät? Hat die abgehärtetste Meinungsdirne ein Recht, den Wert der Virginität zu preisen?

Werden wir doch einmal vernünftig! Gewöhnen wir uns doch endlich den Ton des Erstaunens ab, der höchstens noch einem Staatsanwalt ansteht, wenn er eine »Lasterhöhle« ausgehoben hat, in der sichern Überzeugung, daß dies die letzte sei, in der sündige Menschen den Versuch machten, Naturgebote zu erfüllen und Strafparagraphen zu übertreten! Lassen wir die Dummköpfe unter sich und nehmen wir ihnen den Wahn, daß sie wirklich die Vollstrecker unserer Ethik seien! Wenn wir fortfahren, mit dem, was zwischen vier Wänden geschah, die »Ehre« zu belasten, so könnten wir Gefahr laufen, daß ein mutiger Mann oder eine mutige Frau uns das Klatschmaul mit dem gewissen Paragraphen stopft, der zwar auch so rückständig ist, unsere Heimlichkeiten »ehrenrührig« zu nennen, aber doch so gerecht, ihre öffentliche Erörterung zu untersagen. Achten wir diesen Paragraphen, der die Stelle bedeutet, wo unser altes Strafgesetz feinfühlig ist, und der uns sogar einen kulturellen Vorzug vor den reichsdeutschen Bürgern gibt, die es sich gefallen lassen müssen, daß die Angelegenheiten ihres Sexus in das Gebiet des »erweislich Wahren« gerückt werden. Achten wir diesen Paragraphen, der wie ein Wächter vor unserem Alkoven steht, mag darin geschehen, was wolle, diesen Paragraphen, in dem die christliche Sexualmoral gleichsam das Gebot der Nächstenliebe erfüllt hat. Achten wir Zuschauer einer Gerichtsverhandlung ihn, wenn ihn schon Richter nicht achten! Das Schauspiel, wie Männer in Amt und Würde sich an den Briefen einer Frau ergötzen, auf jedes Detail einer Liebesnacht mit verglasten Augen starren und die Wonnen der Imagination mit zwölf angeregten Ehemännern aus dem Volke teilen — wir wollen es nicht haben, wir wollen dieses Vergnügen sozusagen aus zweiter Hand nicht genießen. Es ist pervers, und »die Ergebnisse dieses Teiles des Beweisverfahrens entziehen sich der Veröffentlichung«. Die geheimen Verhandlungen sind die geheimen Sünden der Justiz. Die Gerechtigkeit welkt in verbotenen Freuden und wird hysterisch. Themis spielt Blindekuh mit Eros, sie sieht den schönen Knaben nicht, aber sie spürt die Nasenstüber, die er ihr ohne Unterlaß versetzt. Er zupft sie am Unterrock und foppt sie beim Wägen ... Wir aber haben keine Binde vor den Augen. Wollten wir den Versuch, nach der Geschmacksrichtung des Menschen seine moralischen und geistigen Werte zu bestimmen, ernst nehmen, wollten wir von allen Häusern die Dächer und von allen Schlafzimmern die Decken heben, wir müßten unsern Glauben an die Menschheit verlieren. Wenn er ausschließlich in dem Vertrauen zur normalen Geschlechtspflege seine Wurzeln hat, stehen uns arge Enttäuschungen bevor. Welche Mühsal auf der Suche des Glücks! Welche Qual der Freude! Im Schweiße deines Angesichts sollst du deinen Genuß finden ... Wie plagt sich der Mann um die Liebe! Aber wenn eine nur Wanda heißt, wird sie mit der schönsten sozialen Position fertig. Die Decken ab: Wir sehen hier einen tüchtigen General, wie er von einer Prostituierten geschlagen und zur Kapitulation gezwungen wird, oder wie er in dem »Anbinden«, das doch als Militärstrafe längst abgeschafft wurde, eine Wohltat erblickt, dort einen Geistlichen, der am Fensterkreuz stöhnt; hier einen Minister, der der Frau eines Subalternbeamten den Schuh küßt oder die Schleppe nachträgt, dort einen Gelehrten, der vor den Reizen einer Gassencirce sieht, daß wir nichts wissen können. Und sie alle sind — etwa mit Ausnahme des Ministers — in ihrem Berufe tüchtig und angesehen und obliegen ihren Besonderheiten in vollster geistiger und körperlicher Frische bis in das Alter des Psalmisten, und wenn ihr Leben köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 179, VII. Jahr
Wien, 15. April 1905.