Mein Briefeinlauf


Briefträger. Wie viel Dummheit und Lumperei tragen Sie mir allein das liebe lange Jahr zu! Und welche Last des Nichtigen und Überflüssigen müssen Sie täglich treppauf treppab schleppen! Ärgerlich wirft’s der Empfänger in den Ofen. Geschäftsanzeigen, deren Nutzen kaum die Hälfte des Gesamtportos deckt. Und das Glück versucht uns immer nur in Gestalt einer ungarischen Schwindellotterie. Gegen die Gehirnerweichung, die mich seit acht Jahren mit anonymem Schimpf beehrt, hilft kein Abwinken. Ich enthülle sie eines Tages und versichere schon heute zum Beispiel dem »Onkel Reginus«, dass ich ihn kenne (Erkennungszeichen: er wird fackelrot werden, wenn ich ihm nächstens auf der Straße begegne.) Aber die Allzuvielen, die mit Drucksorten auf meine Seelenruhe einarbeiten, bitte ich an der Schwelle des Jahres um Nachsicht. Ich brauche keine neue Schreibmaschine, wünsche keinen Staubsaugapparat und bin mit Krawatten versorgt. Ich habe noch nie der Einladung in einen Kunstsalon Folge geleistet und werde seit Jahren mit Einladungen bombardiert. Ich zerreiße regelmäßig die Lose, die mir Wohltätigkeitsvereine zusenden, und bekomme sie doch immer wieder. Ich nehme Broschüren und Kataloge in den seltensten Fällen aus dem Kreuzband, und Verleger und Antiquare lassen doch nicht locker. Und nun kommt der Fasching und findet mich gänzlich unvorbereitet. Zumal vor der Plage seiner Lockungen möchte ich mich durch diesen Seufzer retten. Ich im Namen von Tausenden, die mit den armen Briefträgern Mitleid haben und ihnen lieber noch eine Verminderung ihrer Arbeit als eine Gehaltserhöhung im Wege der Postgebührenerhöhung gewünscht hätten. Nicht der hundertste Teil der Sendungen, die mir ein Jahr auf den Schreibtisch wirft, geht meine Neigungen und meine Bedürfnisse an. Wenn man mir aber nachweisen kann, dass ich der Einladung des Wiener Kunstgewerbe-Vereins »zu dem am Mittwoch den 9. Jänner 1907, präzise halb 8 Uhr abends aus Anlaß des 80. Geburtstages Sr. k. u. k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Protektors Rainer in den Ausstellungsräumen des Vereines stattfindenden Fest-Versammlung« gefolgt bin, widerrufe ich alles, was ich hier vorgebracht habe.

 

 

Nr. 217, VIII. Jahr

23. Jänner 1907.


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