Der Tag des Herrn


Seit meiner frühen Jugend ist mir der Sonntag immer als etwas Frostiges, Störendes und Unsinniges erschienen. Man mag die überstürzte, lärmende Betriebsamkeit des modernen Lebens aufs grimmigste verabscheuen, der bloß äußerlichen Ruhe des Sonntags kann man sich doch nicht freuen. Wenn ein System der Hast plötzlich zum Stillstand kommt, ergibt dies nicht den Eindruck des Friedens und der Würde, sondern den Eindruck einer Katastrophe. Es ist, wie wenn ein in rasender Fahrt dahinsausender Zug mit einem jähen Ruck unvermutet anhält. Es folgt eine unheimliche Stille und man fragt sich ängstlich, was denn geschehen sei. Und trotzdem wir dieses sonntägliche Anhalten der donnernden Maschine werktäglicher Zwecktätigkeit schon gewöhnt sind, hinterläßt es stets von neuem die Impression unerfreulicher, trübseliger Kahlheit, so vergnüglich und festlich der Sonntag auch tut, so lärmend er sich auch manchmal gebärdet. Ein feineres Nervensystem empfindet das gewalttätige Bremsen, die unmotivierte Verkehrung des ganzen Lebensbildes nicht beruhigend und wohltätig, sondern belastend und aufregend. Warum hält die Menschheit wohl an dieser mittelalterlichen Institution fest, die keinerlei ersichtlichen Nutzen, aber in Menge kostspielige Betriebsstörungen, empfindliche Irritationen des Nervenlebens und ärgerliche Ausschreitungen des Pöbels bringt? Warum müssen an diesem einen Tage alle Räder des Wirtschaftslebens ausgeschaltet sein, warum muß an diesem einen Tage die ganze Plebs losgelassen werden? Die Erholung, die jedem arbeitenden Menschen zuteil werden soll, wäre sicherer und gründlicher, wenn an jedem Tage einem entsprechenden Bruchteil der Arbeitenden aller Kategorien Arbeitsfreiheit gewährt würde. Es ist neben der Trägheit der Masse vornehmlich der auf diese Trägheit sich stützende iebensfeindliche Starrsinn der Kirche, der jede Forderung der Vernunft schroff zurückweist, wenn er eine jener Einrichtungen opfern soll, die sich seit Jahrhunderten überlebt haben. Außer der Kirche ist der Sonntag nur noch der sozialdemokratischen Partei heilig, denn er ermöglicht ihr die Veranstaltung von Massenaufzügen und -versammlungen.

Der Sonntag ist nämlich der Tag des Herrn. Als Schüler waren wir an diesem Tage vom Drücken der Schulbänke befreit und mußten dafür die Kirchenbänke drücken. Ich weiß nicht, ob die Kirche an Macht verlöre, wenn die Kinder nicht mehr zur Schulmesse geführt würden. Ich weiß nur, dass eine Schulmesse, die samt einer eingeschobenen Predigt eine Stunde, in Dorfkirchen meist noch länger dauert, die noch nicht mit der müden Geduld der Erwachsenen ausgerüsteten Kinder mehr erschöpft als drei Unterrichtsstunden, und dass halbwegs aufgeweckte Schüler von diesen Messen einen vielleicht unbegründeten aber unauslöschlichen Haß gegen alles religiöse Zeremonientum forttragen.

An schönen Sonntagsnachmittagen wurden wir Kinder auf sogenannten Ausflügen mitgenommen. Das war die zweite Qual. Während man uns an Wochentagen in unserer freien Zeit glücklicherweise allein ließ, wurden wir beim Familienausflug unaufhörlich aller Dinge wegen zurechtgewiesen, mußten wie Schafe dahintrotten und durften zur Belohnung in überfüllten Biergärten oder rauchigen Stuben den Erwachsenen trinken zusehen. Den wenigen Menschen, welche das Land nicht aufsuchen, um einen Vorwand für Wirtshauserbesuch zu haben, sondern um frische Luft und freien Ausblick zu genießen, wird die Natur am Sonntag durch die fortwährende Begegnung mit solchen Familienausflüglern gründlich verleidet.

In späterer Zeit lernte ich den Sonntag vor allem als einen Tag kennen, an dem man die verschiedenen Dinge, die man dringend benötigt, nicht einkaufen und an dem man nicht in Cafés und Gasthäuser gehen kann, weil man keinen Platz darin findet. Ein Sonntag in der Großstadt zumal ist für einen Nervenmenschen, der keine eigene Hauswirtschaft führt, eine Art Verbannung auf die Gasse oder in das enge, ungastliche Mietzimmer. In Wien muß man auf seine gewohnte Lebensweise unbedingt verzichten. Es ist, als ob die Höllenschlünde ihre Bewohner ausgespien hätten, um die Wiener Kaffeehäuser nud Restaurants damit zu füllen. Und diese Höllenschrecken bestehen zum größten Teile aus Leuten, die es nicht nötig hätten, ihre Bedürfnisse in öffentlichen Lokalen zu stillen, aus Ehegatten, die mit Kind und Kegel, mit Tanten und Gouvernanten aus ihrem Heim gezogen kommen. Es handelt sich ihnen auch nicht um Bedürfnisse, sondern ums Vergnügen. Sie pferchen sich in den weiten, Sälen, nach Familien und Sippen geordnet, zusammen, führen Begrüßungs- und Erstaunenspantomimen auf, gaffen und paffen, kritisieren, reiben sich aneinander, schmatzen und schwatzen und vollführen einen Heidenlärm, wie es sich für eine Judenschule ziemt. Denn es ist in der inneren Stadt und den angrenzenden Bezirken, in denen ich diese Beobachtungen leider machen mußte, fast ausschließlich die Leopoldstadt, die auf diese Weise den Tag des Herrn feiert. Gehört ihr hauptsächlich das Café, so ist dem christlichen Publikum der Vorstädte am Sonntag das Wirtshaus, und zwar schon am Vormittag, heilig. Man rühmt das Familienleben der Juden als besonders innig und harmonisch. Im Café am Sonntag drückt sich dies auch deutlich, obzwar in nicht sehr ästhetischer Weise, aus. Wenn aber sogar so eingefleischte Familienschwärmer kein anderes festtägliches Vergnügen kennen, als ins Café auszuwandern, dann muß es wohl mit der vielgerühmten Wohltat und Poesie des eigenen Heims nicht so weit her sein. Man könnte eher glauben, dieses Heim wäre ein Käfig, dem alles darin Eingesperrte bei Gelegenheit gierig entweicht, und dass diese Heim-Menschen es schon als ein unbändiges Vergnügen, als ein Fest empfinden, wenn sie nicht daheim sind. Denn sie sind alle riesig vergnügt, ohne andern Grund als den, nicht daheim zu sein. Und sie nehmen scheinbar ganz unverhältnismäßige Opfer, unglaublich gedrängtes Sitzen, Hitze, verdorbene Luft, ohrenzerschmetterndes Getöse, schlechte Speisen und Getränke, langsame Bedienung, hohe Preise und noch vieles andere, dem gegenüber eben das Heim als Paradies gepriesen wird, gerne und freudig auf sich. ...

Während an Wochentagen der vom Lärm der Gasse und des Marktes angewiderte Mensch ins Café oder Restaurant flüchtet, scheint am Sonntag der Lärm von Gasse und Markt in Café und Restaurant zu flüchten. Allein schon das Schnattern der Weiber ist fürchterlich. Und bilden an Werktagen die Weiber in den Cafés bereits die Hälfte der Gäste, so verfügen sie im Sonntags-Café mindestens über eine zweifellose Zweidrittelmajorität. Geht es so weiter, dann werden die Männer, die bisher im Café Ruhe vor Weibern und Familie suchten, durch Weiber und Familienleben aus dem Café vertrieben werden. Denn am Sonntag bewährt sich die Verpflanzung des Familienlebens ins Café vorzüglich. Die Kinder jeden Alters sind darin, wenn sie nicht gerade zanken oder weinen, so brav und ruhig wie die Engelein, denn es wird ihnen ein Vortrags- und Anschauungsunterricht ohnegleichen geboten. Aus den ungenierten Gesprächen der Erwachsenen, denen sie mit Andacht lauschen, und aus jenen illustrierten Blättern, die im Auslande von anspruchsloseren Lebemännern als feinste Blüte der Wiener Kultur geschätzt werden, iernen sie hier das Leben kennen. Da starren Knaben in kurzen Hosen mit verglasten 'Augen auf unsäglich alberne Bilder, die in entsetzlicher Monotonie immer wieder halbnackte Weiber in dumm-phantastischen Kostümen darstellen. Da lesen halbwüchsige Mädchen, die im übrigen so abgerichtet werden, dass sie nicht prüde genug tun, nicht genug Schämigkeit heucheln können, mit geröteten Wangen diese Texte voll ordinärer Laszivität und saugen damit eine Weltanschauung ein, die allenfalls den schäbigsten Kommisnaturen angemessen ist. Und die Eltern, Onkel und Tanten sitzen daneben, schauen dem wohlwollend zu und freuen sich, dass die Kleinen sich so nett und artig beschäftigen ...

Alkohol und Musik entfalten natürlich als die beiden privilegierten Volksnarkotika am Tag des Herrn ihre ausgibigste Wirksamkeit. Sonntags kann jeder beobachten, was ich neulich theoretisch auseinandergesetzt habe, dass die Musik (neben dem Alkohol) das große Tonikum für alles Unterdrückte, für Weiber und Arbeitssklaven ist, der Zauberstab, der alle Verborgenheiten des Gefühls, der den ganzen Schlamm der Seele bis zum letzten Restchen an die Oberfläche lockt und eine Fröhlichkeit erzeugt, die selbst den nachsichtigsten Menschenfreund wahrhaft traurig stimmen muß.

Das ist der Tag des Herrn. So ehrt das Volk seinen lieben Gott und die Kirche selbst scheint es nicht anders zu wollen. Dagegen ist also nichts zu machen. Aber wir sollten wenigstens nicht so viel und so stolz mit unsern drahtlosen Telephonen und lenkbaren Luftschiffen herumflunkern, denn dies hat für unser Kulturniveau nicht die geringste Bedeutung. Wir leben im Mittelalter. Oder in dem, was wir Mittelalter zu nennen belieben. Ich glaube nämlich nicht, dass es im wirklichen Mittelalter so barbarisch, so stillos, so geistig-unreinlich zugegangen ist.

Karl Hauer.

 

 

Nr. 248, IX. Jahr

24. März 1908.


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