Oskar Wildes letzte Veröffentlichung


Damit der guten Gesellschaft Mitteleuropas, die heute in ihrer Eigenschaft als »Nachwelt« das Andenken eines von ihrer Gesinnung Gemordeten ästhetisch besudelt, der Appetit beim Essen, die Ruhe im Schlafe, die Lust bei der Paarung und die Illusion bei den Dichterehrungen vergehe, schließe ich die Vorstellung eines Lebens der Schönheitstrunkenheit durch diesen Ton des Jammers ab, durch diesen Blick des Grauens.

Karl Kraus.

Vorbemerkung des Übersetzers: Am 25. Mai 1895 wurde Oskar Wilde zu zweijähriger Zuchthausstrafe verurteilt. In den letzten Monaten seiner Haft schrieb er sein »De profundis«, das aber erst nahezu acht Jahre später veröffentlicht wurde. Am 27. Mai 1897, unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, richtete er an den Daily Chronicle den berühmten Brief über »den Fall des Schließers Martin«. Anfangs des Jahres 1898 erschien die »Ballade vom Zuchthaus zu Reading«. Und am 24. März 1898 erschien, wieder im Daily Chronicle, der hier folgende Brief über die Gefängnisreform. Das ist alles, was aus Wildes Feder, von jenem schicksalsvollen 25. Mai 1895 an bis zu seinem Tode, am 30. November 1900, gedruckt wurde. Dieser Brief, der in deutscher Sprache bisher nicht erschienen ist, stellt also die letzte Veröffentlichung Wildes dar.

Wilde hatte sicherlich keinerlei literarische Aspirationen bei Verfassung dieses Briefes. Die Sprache ist, wenige Stellen ausgenommen, von strenger, fast kahler Schlichtheit. Aber gerade diese gewaltig beherrschte Ruhe ist es, die den Meister verrät. Keine leidenschaftlich donnernde Anklage könnte mächtiger, erschütternder wirken als diese einfache Aufzählung von Tatsachen. Man begreift nicht, dass nach Veröffentlichung ieses und des ähnlich gehaltenen Briefes über den »Fall Martin« nicht ganz England in einem Schrei des Entsetzens sich vereinigte. Dies ist vielleicht nur so zu erklären, dass Wilde damals in England ein Verachteter, ein Geächteter war, vor dessen Stimme man sich die Ohren zuhielt. Aber jeder Mensch wird mit Schrecken und mit Staunen in die verschlossene Welt der Gefängnisse hineinblicken. Er wird sich fragen, ob das bei einem zivilisierten Volke möglich ist. Er wird sich fragen, ob dieses Volk das Recht hat, gegen die Greuel der russischen Gefängnisse zu protestieren. Die Reform, die damals vor das Parlament kam, wurde, so viel ich weiß, im Jahre 1899 Gesetz. Ihr Inhalt, und inwiefern sie den hier geschilderten Übeln abhalf, ist mir leider nicht bekannt.

Neben dem allgemein menschlichen hat der Brief aber auch ein biographisches Interesse. Obgleich Wilde nur ein- oder zweimal flüchtig von sich spricht, obgleich keine einzige persönliche Klage den ruhigen Fluß seiner Diktion unterbricht, bleibt uns immerfort der Gedanke gegenwärtig, dass er selbst alle diese Qualen an seiner Person erfahren hat, dass sie ihn, den geistig hochstehenden, an ein raffiniert genußreiches Leben gewöhnten Mann, in unausdenkbarer Weise treffen mußten. Dass er dem Wahnsinn entging, der nach seiner Schilderung das Los einer großen Anzahl von Gefangenen ist, erscheint als ein Wunder. Und er entging nicht nur dem Wahnsinn, er schrieb »De profundis«! Um diese Zeit war ihm allerdings durch einen humanen Direktor schon eine Erleichterung gewährt worden.

Ein Satz dieses Briefes muß den damaligen Lesern rätselhaft und unvereinbar mit seinem sonstigen Inhalt, erschienen sein: »Glücklicherweise sind die anderen Dinge (die man im Gefängnis lernt) manchmal von höherem Wert«. Keiner von den Lesern konnte damals, sieben Jahre vor dem Erscheinen von »De profundis«, wissen, was mit diesen Dingen von höherem Wert gemeint war. Keiner konnte wissen, dass die Hölle des Gefängnisses für den unglücklichen Mann ein Purgatorium geworden war, in dem alles vernichtet wurde, was niedrig und unrein in seiner Natur gewesen, so dass der edle Kern in voller Reinheit daraus hervorging. Unter den Dingen von höherem Wert, die das Gefängnis ihn gelehrt hatte, stand ihm zuhöchst die Erkenntnis von dem Wert des Leides. »Das Leid und alle Lehren, die wir ihm danken, das ist meine neue Welt«. »Der Schmerz ist die edelste Regung, deren der Mensch fähig ist«. So heißt es in »De profundis«.

Aber nicht alle Menschen sind aus dem Metall Wildes; viele brechen zusammen unter der furchtbaren Last der neuen Lehre. Für diese erhebt er seine Stimme in diesem schönen und ergreifenden Brief. Er unterschreibt ihn: »Der Autor der Ballade vom Zuchthaus zu Reading«. Dieses großartige Gedicht hatte Wilde kurz vorher nicht unter seinem Namen, sondern unter dem Pseudonym C 33 — der Nummer, die er als Gefangener in Reading trug — erscheinen lassen, und er wollte sein Inkognito offenbar beibehalten. Aber dieses Inkognito hatte niemand getäuscht. Es gab nicht so viele Menschen in England, die ein solches Gedicht schreiben konnten, dass man lange hätte raten müssen, wer sein Autor war. Der vorliegende Brief verrät fast nirgends — nur die ironische Überschrift ist einigermaßen Wildisch — den Künstler, dessen Prosa einst in tausend Facetten funkelte. Aber er ist eine Tat.

LR.

Wer heute froher Laune bleiben will, lese dies nicht.

An den Herausgeber des Daily Chronicle.

Geehrter Herr!

Ich erfahre, dass das Gefängnisreformgesetz des Ministers des Innern diese Woche zur ersten oder zweiten Lesung kommen soll, und da Ihr Blatt das einzige in England ist, das ein wirkliches und waches Interesse an dieser wichtigen Frage bekundet, so hoffe ich, dass Sie mir, als einem, der über eine lange persönliche Erfahrung von dem Gefängnisleben in England verfügt, gestatten werden, darauf hinzuweisen, welche Neuerungen in unserem gegenwärtigen unsinnigen und barbarischen System vor allem nötig sind.

Aus einem Leitartikel, der vor etwa einer Woche in Ihrem Blatte erschien, entnehme ich, dass die wesentlichste Reform in einer Vermehrung der Inspektoren und sonstigen offiziellen Persönlichkeiten, die zu unseren Gefängnissen Zutritt haben, bestehen soll.

Eine solche Reform ist vollkommen nutzlos und zwar aus einem sehr einfachen Grunde. Der Inspektor oder der Friedensrichter, der ein Gefängnis besucht, kommt dahin zu dem einzigen Zwecke, um zu sehen, ob die Vorschriften gehörig befolgt werden. Er richtet auf nichts anderes seine Aufmerksamkeit, noch hat er die geringste Macht, selbst wenn er auch den Wunsch hätte, auch nur einen Punkt der Verordnungen zu ändern. Diese Verordnungen selbst sind aber das Sinnlose und Grausame. Keinem Gefangenen ist je von einem der offiziellen Besucher eine Erleichterung zu Teil geworden, noch wurde einem je irgend welche Aufmerksamkeit gewidmet. Die Besucher kommen nicht im Interesse der Gefangehen, sondern um darauf zu achten, dass die Vorschriften befolgt werden. Der Zweck ihres Kommens ist, sich von der Zwangsanwendung eines unverständigen und inhumanen Gesetzes zu überzeugen. Und da sie doch etwas zu tun haben müssen, so gehen sie dabei mit großer Genauigkeit zu Werke. Der Gefangene, dem die geringfügigste Vergünstigung zu Teil geworden, fürchtet das Kommen der Inspektoren, und an den Inspektionstagen sind die Gefängnisbeamten grausamer und brutaler gegen die Gefangenen als sonst. Ihr Wunsch ist natürlich, zu zeigen, welch tadellose Disziplin sie aufrechtzuerhalten verstehen.

Die nötigen Reformen sind sehr einfach. Sie betreffen die körperlichen und die geistigen Bedürnisse jedes der unglücklichen Gefangenen.

Was die ersten betrifft, so gibt es drei vom Gesetze sanktionierte permanente Strafen in den Gefängnissen Englands:

1. Hunger;

2. Schlaflosigkeit;

3. Krankheit.

Die Kost, die den Gefangenen gegeben wird, ist ganz unangemessen, zum größten Teil von widerlicher Art, in ihrer Gesamtheit ungenügend. Jeder Gefangene leidet Tag und Nacht Hunger. Eine gewisse Menge von Nahrung wird Lot um Lot für jeden einzelnen Gefangenen abgewogen. Sie reicht eben hin, um, nicht das Leben, aber die Existenz zu erhalten; ununterbrochen nagt jedoch die Qual und die Not des Hungers an dem Gefangenen.

Die Folge dieser Kost — die in den meisten Fällen nur aus dünner Suppe, schlecht gebackenem Brot, Fett und Wasser besteht — ist Krankheit in der Form unaufhörlicher Diarrhöe. Diese Krankheit, die schließlich bei den meisten Gefangenen chronisch wird, ist eine anerkannte Institution in unseren Gefängnissen. In Wandsworth zum Beispiel — wo ich zwei Monate eingekerkert war, bis ich ins Spital gebracht werden mußte, wo ich weitere zwei Monate blieb — gehen die Schließer zwei- bis dreimal im Tage mit einer starken Medizin herum, die sie den Gefangenen als etwas Selbstverständliches verabreichen. Nach einer Woche solcher Behandlung übt die Medizin, wie zu sagen kaum nötig, keine Wirkung mehr aus, und der unglückliche Gefangene ist ein Raub der schwächendsten, niederdrückendsten und demütigendsten Krankheit, die man sich vorstellen kann. Wenn er dann, wie es oft vorkommt, aus körperlicher Schwäche die vorgeschriebene Zahl von Umdrehungen am Rad oder an der Mühle nicht leistet, so wird er wegen Trägheit angezeigt und in der strengsten und grausamsten Weise bestraft.

Das ist aber noch nicht alles; die hygienischen Einrichtungen in den englischen Gefängnissen sind im höchsten Grade ungenügend. In früherer Zeit war jede Zelle mit einer Art Latrine versehen; diese Latrinen sind aber abgeschafft worden und bestehen nicht mehr. Statt dessen bekommt jeder Gefangene einen kleinen Zinnkübel. Dreimal im Tage ist es ihm gestattet den Kübel auszuleeren; aber er hat keinen Zulaß zu den Waschbecken des Gefängnisses, ausgenommen die eine Stunde täglich, die ihm für den Spaziergang gewährt wird. Und nach fünf Uhr abends darf er seine Zelle unter gar keinen Umständen, aus was immer für einer Ursache mehr verlassen. Ein Mensch, der an Diarrhöe leidet, befindet sich daher in einer so unendlich widerwärtigen Lage, dass es unnötig ist, dabei zu verweilen, dass es unziemlich wäre, dabei zu verweilen. Die Qualen des Elends, die die Gefangenen infolge der empörenden hygienischen Einrichtungen durchmachen, sind unbeschreiblich. Und die Luft der Zellen, die durch die ganz unzureichende Ventilation nicht verbessert wird, ist derart verpestet und erstickend, dass es nichts Seltenes ist, dass die Schließer, wenn sie des Morgens auf ihrem Rundgang aus der frischen Luft hereinkommen, von heftigem Unwohlsein befallen werden. Ich habe das selbst in mindestens drei Fällen mitangesehen, und mehrere Schließer haben mir diesen Umstand als eines der widerlichsten Dinge geschildert, die ihr Beruf im Gefolge habe.

Die Kost, die den Gefangenen gegeben wird, sollte ausreichend und gesund sein. Sie dürfte nicht von der Art sein, die unaufhörliche Diarrhöe hervorzurufen, die zuerst eine akute Krankheit, später ein chronisches Leiden wird. Die hygienischen Einrichtungen der Gefängnisse sollten gründlich geändert werden. Jeder Gefangene sollte Zulaß zu den Waschbecken haben, so oft es nötig ist, und sollte seinen Kübel ausleeren dürfen, so oft es nötig ist. Die gegenwärtige Ventilationsart in den Zellen ist vollkommen wertlos. Die Luft kommt durch das dichte Drahtgitter an der Tür und durch die kleine Öffnung in dem kleinen vergitterten Fenster, die zu eng und zu schlecht angelegt ist, um nur halbwegs frische Luft einzulassen. Nur während einer Stunde unter den vierundzwanzig, aus denen der Tag besteht, darf der Gefangene die Zelle verlassen, er atmet also dreiundzwanzig Stunden lang die denkbar verdorbenste Luft ein.

Die Strafe der Schlaflosigkeit existiert nur in chinesischen und englischen Gefängnissen. In China wird sie in der Weise angewendet, dass der Gefangene in einen engen Bambuskäfig gesteckt wird, in Eng- land verwendet man dazu die Lattenpritsche. Die Lattenpritsche hat den Zweck, Schaflosigkeit herbeizuführen. Sie hat keine andere Bestimmung, und sie erfüllt diese unfehlbar. Und selbst wenn einem später eine harte Matratze bewilligt wird, wie das im Laufe der Haft zuweilen geschieht, leidet man nach wie vor an Schlaflosigkeit. Denn der Schlaf ist, wie alle gesunden Dinge, eine Gewohnheit. Jeder Gefangene, der auf der Lattenpritsche gelegen hat, leidet an Schlaflosigkeit. Es ist eine empörende und unsinnige Strafe.

Gestatten Sie mir ferner einige Worte über die geistigen Bedürfnisse der Gefangenen. Das gegenwärtige System scheint fast auf die Erschütterung und Zerstörung der geistigen Kräfte abzuzielen. Und Wahnsinn ist, wenn nicht seine Absicht, doch sicherlich seine Folge. Dies ist eine zweifellose Tatsache, und deren Ursachen sind offenkundig genug. Der Bücher und jedes geistigen Zuflusses beraubt, jeder menschlichen und vermenschlichenden Berührung entrückt, zu ewigem Schweigen verurteilt, abgeschnitten von dem Verkehr mit der Außenwelt, behandelt wie ein vernunftloses Tier, gequält, wie auch ein Tier nicht gequält wird, kann der Unglückliche, der in ein englisches Gefängnis gesperrt wird, kaum dem Wahnsinn entgehen. Ich will bei diesen Entsetzlichkeiten nicht verweilen, noch weniger bloß irgend ein flüchtiges Interesse der Rührung für diese Sache erwecken. Ich will also, mit Ihrer Erlaubnis, nur darlegen, was geschehen sollte.

Jeder Gefangene sollte eine angemessene Anzahl guter Bücher bekommen. Gegenwärtig wird einem während der ersten drei Monate überhaupt kein Buch gestattet, ausgenommen eine Bibel, ein Gebetbuch und ein religiöses Gesangbuch. Nachher bekommt man ein Buch wöchentlich. Dies ist nicht nur ganz ungenügend, sondern die Bücher, aus denen die Gefängnisbibliotheken bestehen, sind auch gewöhnlich wertlos. Es sind der Mehrzahl nach schlecht geschriebene, auf niedrigster Stufe stehende sogenannte religiöse Bücher, in kindischer Sprache verfaßt und ungenießbar für Kinder ebensosehr, wie für Erwachsene. Die Gefangenen sollten zum Lesen ermuntert werden, sollten Bücher haben können, so viel sie wollen, und die Bücher sollten gut gewählt sein. Gegenwärtig werden sie von den Gefängnisgeistlichen gewählt.

Nach den jetzt geltenden Verordnungen darf der Gefangene nur viermal im Jahre Besuch empfangen, und jeder Besuch darf nur zwanzig Minuten dauern. Dies ist unrecht. Der Gefangene sollte jeden Monat Besuch bekommen dürfen, und es sollte ihm hiefür eine billige Zeit eingeräumt werden. Die Art, wie der Gefangene gegenwärtig den Verwandten oder Freunden vorgeführt wird, die ihn besuchen, sollte geändert werden. Er wird entweder in einen großen eisernen oder in einen großen hölzernen Käfig gesteckt, der eine kleine mit Draht vergitterte Öffnung hat, durch die der Gefangene schauen kann. Die Besucher befinden sich in einem ähnlichen Käfig, der drei oder vier Fuß entfernt ist, und in dem Zwischenraume stehen zwei Schließer, die das Gespräch mit anhören und die es nach Umständen unterbrechen oder ganz abschneiden können. Ich beantrage, dass der Gefangene mit seinen Verwandten und Freunden in einem Zimmer soll sprechen dürfen. Die gegenwärtige Art ist unbeschreiblich quälend und empörend. Der Besuch eines Bekannten oder Verwandten ist für jeden Gefangenen eine Verschärfung seiner Demütigung und seiner Seelenpein. Viele verbitten sich lieber jeden Besuch, als dass sie sich dieser Qual aussetzen, und ich muß sagen, dass mich das nicht wundert. Wenn ein Gefangener mit seinem Anwalt spricht, so geschieht das in einem Zimmer mit einer Glastür, hinter der der Schließer steht. Wenn er den Besuch seiner Frau, seiner Kinder, seiner Verwandten, seiner Freunde empfängt, so sollte ihm dieselbe Vergünstigung gewährt werden. Gleich einem Affen in einem Käfig vor den Augen derer zur Schau gestellt zu werden, die einen lieben und die man liebt, ist eine fürchterliche und nutzlose Herabwürdigung.

Jedem Gefangenen sollte es gestattet sein, wenigstens einmal monatlich einen Brief zu empfangen und abzusenden. Gegenwärtig darf man nur viermal jährlich schreiben. Dies ist vollkommen ungenügend. Eine der traurigsten Folgen des Kerkerlebens ist, dass es das Herz des Gefangenen zu Stein werden läßt. Die Gefühle der Zuneigung bedürfen, wie alle Gefühle, der Nahrung; sie sterben sehr leicht an Entkräftung. Ein kurzer Brief viermal im Jahr ist nicht genug, um die besseren und menschlicheren Regungen wach zu erhalten, durch die allein der Natur die Empfänglichkeit bewahrt wird für die guten und sanften Einflüsse, die dereinst ein gebrochenes, zerstörtes Dasein vielleicht wieder aufrichten können.

Die Praxis, die Briefe der Gefangenen zu zensurieren und zu verstümmeln, sollte abgeschafft werden. Wenn einer sich in einem Briefe über die Vorgänge im Gefängnisse beklagt, so wird dieser Teil des Briefes mit der Scheere herausgeschnitten; beklagt er sich aber, wenn ihn jemand besucht, durch die Öffnung seines Käfigs, so wird er von den Schließern mißhandelt und jede Woche zur Bestrafung angezeigt, bis die nächste Besuchszeit kommt, um welche Zeit man erwartet, dass er, nicht Weisheit, sondern Verstellung gelernt habe. Und die lernt man immer. Sie ist eines der wenigen Dinge, die man im Gefängnis lernt. Glücklicherweise sind die anderen Dinge manchmal von höherem Wert.

Darf ich Ihren Raum noch für das Folgende in Anspruch nehmen? Sie sagen in Ihrem Leitartikel, dass es dem Gefängnisgeistlichen nicht gestattet sein sollte, außerhalb des Gefängnisses einen Beruf oder eine Beschäftigung zu haben. Dies ist aber eine Sache ohne jede Wichtigkeit. Die Gefängnisgeistlichen sind vollkommen unnütz. Sie sind im Ganzen von guten Absichten geleitete, aber törichte, ja alberne Menschen. Sie sind von gar keinem Wert für den Gefangenen. Einmal in sechs Wochen etwa dreht sich der Schlüssel an der Zellentür, und der Geistliche tritt ein. Man steht natürlich ehrerbietig da. Er fragt, ob man die Bibel gelesen habe. Man antwortet »Ja« oder »Nein«, wie es eben sein mag. Er zitiert dann einige Bibelstellen und geht wieder. Manchmal läßt er einen Traktat zurück.

Diejenigen, denen es nicht gestattet sein sollte, außerhalb des Gefängnisses irgend eine Beschäftigung zu haben, das sind die Gefängnisärzte. Gegenwärtig haben diese Ärzte fest immer eine mehr oder minder ausgedehnte Privatpraxis und sind häufig auch noch in anderen Instituten angestellt. Die Folge davon ist, dass die Gesundheit der Gefangenen vollkommen vernachlässigt und dass auf die sanitäre Beschaffenheit der Gefängnisse gar nicht geachtet wird. In ihrer Gesamtheit betrachte ich die Ärzte noch heute, wie schon seit meiner frühen Jugend, als die humanste Berufsklasse, die es überhaupt gibt. Aber ich muß die Gefängnisärzte ausnehmen. Sie sind, soweit ich sie selbst kennen lernte, und nachdem, was ich von ihnen im Spital und anderwärts sah, roh von Gemüt, brutal im Benehmen und vollkommen gleichgiltig gegen die Gesundheit der Gefangenen oder ihr Schicksal überhaupt. Wenn den Gefängnisärzten jede andere Praxis untersagt wäre, wären sie gezwungen, an der Gesundheit und den Lebensbedingungen der ihnen anvertrauten Menschen einiges Interesse zu nehmen.

Ich habe versucht, hier einige der Reformen darzulegen, die ich in unserem Gefängnissystem für notwendig halte. Sie sind einfach, leicht durchführbar und human. Sie sollen natürlich nur einen Anfang darstellen. Aber es ist hohe Zeit, dass der Anfang gemacht werde, und er kann nur herbeigeführt werden durch einen starken Druck der öffentlichen Meinung. Dieser soll durch Ihr einflußreiches Blatt hervorgerufen und gefördert werden.

Aber um selbst diese Reformen zur Wirkung zu bringen, bleibt noch viel zu tun. Und die erste und vielleicht schwierigste Aufgabe ist, die Gefängnisdirektoren menschlicher, die Gefangenwärter erträglicher, die Gefängnisgeistlichen christlicher zu machen.

Empfangen Sie, usw.

Der Autor der »Ballade vom

Zuchthaus zu Reading«.

 

 

Nr. 246-47, IX. Jahr

12. März 1908.


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