Schön brav sein, Wotan


Dieses geschah Ecke Naglergasse und Haarhof.

»Schön brav sein, Wotan, und sitzenbleiben!« sagte der gutgekleidete junge Mann und sah scheu nach den Vorübergehenden, ob sie etwa Verdacht schöpften. Wer kümmert sich drum, wenn einem Hund befohlen wird, dass er sich nicht rühren soll? — Der Neufundländer blickte seinen Herrn aus den restlos gutmütigen Augen traurig an, bettelte noch ein wenig mit der Pfote, fügte sich aber, als sein Brotherr strenge Miene machte. Er saß aufrecht, knapp neben dem Eckstein, während der Gebieter rasch im Dunkel des Haarhofes verschwand. Um sieben abends war das.

Um zehn Uhr nachts saß er noch immer dort ... Auch um zwei Uhr morgens traf ich ihn auf der selben Stelle — — — — —

Der Mitleidige, der es gesehen, sich entfernt und darüber geschrieben hat, dürfte kein erheblich bedeutenderer Ehrenmann sein als der »Brotherr«, der es aufgab Herr zu sein, weil er kein Brot mehr hatte. Da er's aber doch wohl noch für sich selbst hatte, dürfte er ein Schuft sein. Das war er aber wohl schon, als er den armen Hund besaß und ihn Wotan nannte. Wenn so etwas nicht möglich wäre, wären vielleicht nie die Umstände eingetreten, die zu solch infamen Abschied geführt haben, der wohl der schimpflichste Verrat ist, welcher je an der Treue begangen wurde, von einem Kerl, der sicher auf das Durchhalten stolz ist und die Nibelungentreue über alle andern menschlichen Eigenschaften setzen dürfte. Es wird sich schon herausstellen: Je weniger Walhalla, desto mehr Brot für Wotan.

 

 

Januar, 1917.


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