Marburg:
Bering, Jung-Stilling


Auch auf den kleineren Universitäten verbreitete sich seit Mitte der 80er Jahre die neue Lehre. So fand sie in dem in der damaligen "literarischen Welt ziemlich unbekanten" Marburg einen ihrer ergebensten Anhänger in dem dortigen Philosophen Johann Bering, den Jachmann bei seinem Besuche (1790) als einen ernsten, nachdenklichen Mann gegen Ende der 30er schildert. Bering stand zunächst mit seiner Begeisterung für die kritische Philosophie ganz allein. Um so lieber hätte er den verehrten Meister, wenn auch nur ein Semester lang, selbst gehört. "Vielleicht gelingt es in der Kürze unseren Aeronauten, ihre Schiffahrt minder kostbar und gefährlich zu machen, und dann ist freilich eine Reise von 140 Meilen eine Kleinigkeit" (an Kant, 10. Mai 86). Heute hat sich des Marburger Gelehrten Hoffnung erfüllt, wenngleich das "Kostbare" wie das "Gefährliche" der Luftschiffahrt noch nicht ganz verschwunden ist. Bering hatte die Kühnheit, Vorlesungen über Kants 'Metaphysische Anfangsgründe' und das Handbuch des Jenaer Kantianers Schmid (S. 409) anzukündigen. Das veranlaßte ein Einschreiten der hessen-kasselschen Regierung, die, ebenso wie die preußische nach des großen Friedrich Tod, "der Aufklärung nicht mehr so günstig" war "wie ehedem". Wie Bering vermutet, auf eine Denunziation in der oben erwähnten Psychologie von Meiners hin, erging Anfang September 1786 eine Kabinettsorder, welche Vorlesungen über Kantische Lehrbücher untersagte und gleichzeitig ein Gutachten der philosophischen Fakultät einforderte, ob Kants Schriften nicht alle Gewißheit der menschlichen Erkenntnis untergrüben. So wurde in einem heutigen Hauptsitz des Neukantianismus die Kantische Philosophie verboten: "eine wahre Prostitution", wie der entrüstete Schütz am 23. März 1787 an Kant schreibt, übrigens wagte der treue Bering das Verbot zu umgehen, indem er anstatt eines Kollegs ein — "Konversatorium" über die Kritik der reinen Vernunft mit drei "hoffnungsvollen Jünglingen" abhielt. Gegen Ende 1787 wurde das offizielle Verbot zwar wieder aufgehoben, indes lebte der getreue Verehrer, wie er Jachmann im September 1790 erzählte, noch immer so "ziemlich in ecclesia pressa" hinsichtlich der Verkündung des Kritizismus. Nach Königsberg wäre er immer noch gern gekommen, wäre die Entfernung nicht so groß gewesen: "worüber sich schon mehrere Gelehrte beschwert haben".

Von der heute so gut kantischen Lahnstadt ging damals ziemlich viel antikantische Literatur in die Welt. So trat der als Philosophie-Historiker bekannte Dietrich Tiedemann (1748—1803) in den 'Hessischen Beiträgen' mit ebensowenig Einsicht wie Geschick als Gegner auf. Im Mai 1786 sandte Bering neue Proben des Mitverstandes und Widerspruchs, den er als Kantianer in seiner Umgebung "fast durchgängig" erfuhr. Und im November d. J. erhielt unser Philosoph unverlangt schon wieder drei orthodox-theologische Schriften, die ihn befehdeten. Er würdigte sie nicht einmal des Lesens, sondern ließ sie durch Kraus dem "neugierigen alten Mann" zugehen, wie Hamann selber mit ergötzlicher Selbstironie berichtet. Kant hatte bei der ganzen Sache bloß das teuere Porto verdrossen, das er für das unfrankierte Paket obendrein noch zu zahlen hatte.

An den bücherwütigen Hamann verschenkte er einige Monate später auch ein anderes, ihm aus Marburg zugeschicktes Buch: das Dedikations-Exemplar von des frommen Jung-Stilling, 'Blick in die Geheimnisse der Naturweisheit'; in diesem Falle jedoch fühlte sich sogar der selbst zum Mystizismus neigende Magus außerstande, "dies Schaugericht zu genießen". Um so überraschter mußte Kant über den enthusiastischen Brief sein, den er im März 1789 von dem damals als Professor der Staatswissenschaften an der alma mater Philippina angestellten, uns aus Goethes Lebensgeschichte bekannten Jung-Stilling erhielt. Die "allgemein verschrieene" Dunkelheit Kants, so hieß es bezeichnenderweise darin, und das Geschwätz der Gegner, als ob er der Religion gefährlich sei, hätten auch ihn anfangs von der Lektüre abgeschreckt. Als er jedoch zuerst Schulz' 'Erläuterungen" dann die beiden Kritiken gelesen, da sei die Hülle von seinen Augen gefallen; er finde nun apodiktische Wahrheit und Gewißheit allenthalben! "Gott segne Sie!", so ruft er ihm jetzt begeistert zu, "Sie sind ein großes, sehr großes Werkzeug in der Hand Gottes, ich schmeichle nicht". Ja, er geht so weit, ihm zu erklären: "Ihre Philosophie wird eine weit größere, gesegnetere und allgemeinere Revolution bewirken als Luthers Reformation. Denn sobald man die Kritik der Vernunft wohl gefaßt hat, so sieht man, dass keine Widerlegung möglich ist; folglich muß Ihre Philosophie ewig und unveränderlich sein, und ihre wohltätigen Wirkungen werden die Religion Jesu auf ihre ursprüngliche Reinigkeit, wo sie bloß Heiligkeit zum Zweck hat, führen; alle Wissenschaften werden systematischer, reiner und gewisser werden, und die Gesetzgebung wird außerordentlich gewinnen". Ein feines Lächeln wird die Lippen des Philosophen umspielt haben, als er diese Apostrophe überschwänglichen Gefühles las; er wird sich gesagt haben, dass es nicht dauern könne. Seine nur in Bruchstücken erhaltene Antwort geht deshalb auch auf philosophische Fragen gar nicht ein, sondern nur auf die religiöse und kommt dem ehrlichen Frommen hierin so weit wie möglich entgegen: "Sie tun daran sehr wohl, dass Sie die letzte Befriedigung Ihres nach einem sicheren Grund der kehre und der Hoffnung strebenden Gemüts im Evangelium suchen, diesem unvergänglichen Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht allein eine ihre Spekulation vollendende Vernunft zusammentrifft, sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekömmt, was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer dunkel bleibt, und wovon sie doch Belehrung bedarf" (Akad.-Ausg. XI, S. 10). So christlich hat sich Kant sonst kaum irgendwo ausgedrückt! Trotzdem konnte sich ein dauerndes inneres Verhältnis zwischen zwei so grundverschiedenen Naturen ebensowenig entwickeln, wie vordem zwischen Kant und Lavater (B. II, Kap. 6). Spätestens die 'Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft' (1793) mußte einem Mystiker wie Jung-Stilling, der eine 'Theorie der Geisterkunde' (1808) schreiben konnte, die innere Kluft offenbaren, die zwischen ihm und dem Kritiker der reinen Vernunft bestand. So sagte er sich denn schon 1794 in seinem phantastischen Roman 'Heimweh' von aller "Freigeisterei" los und hielt die Kantische Philosophie, die er fünf Jahre zuvor noch so enthusiastisch gepriesen, für dadurch widerlegt, dass er sie für ein "unterirdisches Labyrinth" erklärte.


 © textlog.de 2004 • 20.04.2024 00:03:05 •
Seite zuletzt aktualisiert: 04.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright