Süddeutschland:
Karlsruhe, Tübingen, Alt-Bayern, Würzburg u. a.


Schon halb in Süddeutschland sind wir in Gießen der hessen-darmstädtischen Schwesteruniversität Marburgs. Hier vertraten zu Anfang der 90er Jahre den kritischen Standpunkt der vorübergehend aus Jena dahin übergesiedelte Chr. E. Schmid (s. S. 288 f.) und ein gewisser Snell, dessen Erläuterungen zur Kritik der Urteilskraft Kant in einem Briefe an Beck vom 4. Dez. 1792 erwähnt, und der wie sein Bruder (später Gymnasialdirektor in dem nassauischen Weilburg) namentlich Kants Sittenlehre in Form von Gesprächen, Briefen und einer viel gelesenen 'Volksmoral' zu popularisieren suchte.

Im eigentlichen Süddeutschland waren natürlich, schon infolge des Religionsbekenntnisses, stärkere Widerstände als im Norden vorauszusehen. Allein der Widerspruch erfolgte doch auch aus

 

a) protestantischen

Gegenden. So schrieb in Karlsruhe ein Prälat namens Tittel, Anhänger Feders, eine anmaßende Broschüre 'Über Herrn Kants Moralreform' (1786). Die anfangs geplante Widerlegung gab Kant, auf Biesters wie Schützens Anraten, wieder auf und faßte im Frühjahr 1787 den sehr vernünftigen Entschluß, überhaupt "sich nicht selbst mehr mit Widerlegungen zu befassen, sondern seinen Gang ruhig fortzusetzen".

Ähnlich wie Tittel stand in Tübingen der Theologie-Professor Flatt, der in den dortigen 'Gelehrten Anzeigen' — fast jede Hochschule hatte, wie ja auch noch heute, ihre besondere Zeitschrift, anders tat und tut es der Ehrgeiz mancher Gelehrten nicht — des philosophischen Zensoramtes waltete, übrigens sich persönlich durchaus respektvoll gegen den Königsberger Patriarchen verhielt, sich ihm gegenüber z. B. entrüstet dagegen verwahrte, der Verfasser der Schmähschrift 'Kritik der schönen Vernunft von einem Neger' zu sein. Ungefähr ebenso verhielt sich Abel in Stuttgart (1751—1810), bekannt als Schillers erster philosophischer Lehrer, der Kant am 16. April 1787 seinen 'Versuch über die Natur der spekulativen Vernunft' mit einem ehrfurchtvollen Begleitschreiben zusandte, indes aus einem verschwommenen eklektischen Wolffianismus nicht herauszukommen vermochte; während der Diakonus Brastberger in dem gleichfalls württembergischen Heidenheim vom dogmatisch-gegnerischen Standpunkte aus seine 'Untersuchungen über Kants Kritik' (Halle 1790) abfaßte. — Mehr Beifall fand die neue Lehre an der kleinen Hochschule, die Ende der 60er Jahre Kant zu ihrem Lehrer gewünscht hatte, dem markgräflich-ansbachischen Erlangen, wo Breyer schon 1785 zwei Vorlesungsprogramme über den "Sieg der praktischen Vernunft über die spekulative nach Kantischen Grundsätzen" veröffentlichte. Hier begann seit 1787 der uns schon als Mitarbeiter Borns (S. 415) bekannte Magister Abicht (1762—1810) im Sinne der neuen Richtung zu wirken, der sich am 22. April 1789 mit einer ausführlichen Expektoration an Kant selbst wandte und unter anderem auch eine 'Metaphysik des Vergnügens nach Kantischen Grundsätzen' schrieb. — In dem benachbarten, aus der Lebensgeschichte Wallensteins und Leibnizens bekannten, Nürnbergischen Altdorf, dessen kleine Universität erst 1809 mit der von Erlangen vereinigt ward, verfaßte ein Professor Will gutgemeinte, aber schwache 'Vorlesungen über die Kantische Philosophie' (1788).

 

b) katholische Länder

Dass der Kritizismus in einem so starkkatholischen Lande wie dem damaligen Alt-Bayern keine Eroberungen machen konnte, ist natürlich. So ließ der Ingolstädter Theologie-Professor Benedikt Stattler 1788 von München einen in rohem, polterndem Tone gehaltenen dreibändigen 'Anti-Kant' ausgehen, von dem vier Jahre darauf noch ein Auszug unter dem Titel 'Kurzer Entwurf der unausstehlichen Ungereimtheiten der Kantischen Philosophie usw.' erschien. Auf Stattlers Einfluß ist es wohl auch zurückzuführen, dass die von seinem Kollegen Grafenstein 1790 begonnenen Kant-Vorlesungen bald verboten wurden. Im übrigen begnügte man sich von dieser Seite mit ohnmächtigem Hasse, wie er etwa in dem von Borowski als "sichere Tatsache" erzählten Faktum hervortritt, dass die Mönche eines Klosters ihren — Wächterhund Kant benamsten. Zu weiteren literarischen Taten war man entweder nicht imstande oder zu — stumpf.

Indes außerhalb der blau-weißen Grenzpfähle war doch der deutsche Katholizismus jener Zeit von der Aufklärung nicht unberührt geblieben. Voltaires und Rousseaus Büsten waren in den Gemächern mancher Bischöfe und Domherren zu sehen; bei den Prälaten der oberfränkischen Benediktinerabtei Banz fand Semler sämtliche Schriften des Ästhetikers Baumgarten. Ein Hirtenbrief des Erzbischofs von Salzburg 1782 wollte die katholische Kirche von allen Zutaten und Auswüchsen des Mittelalters befreit wissen, und 1788 wurde unter seinem Zepter, nach dem Muster der Jenaer, eine 'Oberdeutsche Allgemeine Literaturzeitung' mit voller Freiheit der wissenschaftlichen Kritik gegründet. Der Fürstbischof von Bamberg-Würzburg lud zur Jubelfeier der Würzburger Universität (1783) auch die protestantischen Hochschulen ein und dankte seinen Professoren öffentlich, dass sie die Religion frei von verjährten Vorurteilen behandelten. Der Kurfürst von Mainz führte in seinen Schulen philanthropinistische Grundsätze und Wolffsche Lehrbücher ein, der von Köln berief an die 1786 von ihm gestiftete Universität Bonn durchweg Männer der neuen Richtung.

Wir werden im vierten Buch (Kap. 5) von den damit zusammenhängenden Fortschritten der Kantischen Philosophie im katholischen Süddeutschland im Lauf der 90er Jahre noch weiteres hören. In unseren Zeitraum gehören nur deren Anfänge Seinen ersten Erfolg errang der Kritizismus an der Universität Würzburg durch den Professor Maternus Reuß. Dieser begann bereits 1788 Kants Grundsätze vorzutragen und erhielt im Sommer des folgenden Jahres von Reinhold die Erlaubnis, dessen Briefe über die Kantische Philosophie — allerdings vorsichtshalber "von allem Anstößigen gegen den Katholizism gereinigt", mit Anmerkungen zum Gebrauch seiner Zuhörer herauszugeben. Ja, im September 1792 machten Reuß und sein Freund Konrad Stang — und zwar im Auftrage und mit der Unterstützung ihres Bischofs, des aufgeklärten Franz Ludwig von Erthal! — die 160 Meilen weite Reise von der Main- nach der Pregelstadt, um ihren teuren Kant von Angesicht zu sehen. Dieser nahm sie "über alles Erwarten" freundschaftlich auf und erwiderte ihre Geradheit und Offenheit mit gleichem Zutrauen. So konnte Reuß auf seiner Rückreise Reinhold in Jena erzählen, dass die Metaphysik der Sitten bereits druckfertig sei, und dass "unser Patriarch eine Schrift über die Harmonie der christlichen und kritisch-philosophischen Moral unter der Feder habe, auch ein eifriger Republikaner sei". Die hier gemeinte 'Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft' sandte Kant denn auch alsbald nach ihrem Erscheinen dem katholischen Kollegen zu, dessen Bekanntschaft "jederzeit unter die angenehmsten Erinnerungen seines Lebens gehören" werde (K. an Reuß, Mai 1793). Leider starb Reuß schon 1798.

Vielleicht der begeistertste aber von allen süddeutschen Anhängern unseres Philosophen ward der junge Nürnberger Johann Benjamin Erhard (1766—1827), der sich vom einfachen Handwerkersohn zum angesehenen Arzt und Philosophen heraufarbeitete, den Goethe einen "vortrefflichen Kopf" nannte und Schiller gar in einer ausführlichen Schilderung Körner als den "reichsten, vielumfassendsten Kopf" bezeichnet, "den ich noch je habe kennen lernen" (Sch. an Kö., 10. April 1791). Erhard war, wie die meisten Zeitgenossen, philosophisch zunächst von Wolff, Sulzer und Mendelssohn ausgegangen, aber schon als Neunzehnjähriger durch das Studium der Kritik bekehrt, bald darauf durch die Lektüre der 'Grundlegung' aufs heftigste gepackt worden (vgl. S. 259). Die Kritik der praktischen Vernunft nun gar bewirkte — man lese seinen ausführlichen Bekenntnisbrief an Kant vom 12. Mai 1786 und seine Selbstbiographie — eine "Wiedergeburt" seines "ganzen inneren Menschen", die ihn immer wieder zu "Tränen der höchsten Wonne" hinriß und aus pessimistischen Stimmungen aufzurichten vermochte. Und dabei war er kein weichlicher, sondern sogar ein sehr "dezidierter" Mensch mit einem starken Hang zur Satire (Schiller). Nachdem er den Winter 1790/91 in Jena bei Reinhold noch tiefer in Kants Philosophie eingedrungen und Schillers Freund geworden war, reiste er im folgenden Sommer über Göttingen und Kopenhagen, wo er in Baggesen einen noch enthusiastischeren Gesinnungsgenossen gewann, nach Königsberg, um seinen "Lehrer", seinen "Vater im Geiste" persönlich kennen zu lernen. Die Leichtigkeit, mit der er im Gespräch auf die Gedanken des Meisters einzugehen wußte, machte den letzteren anfangs zweifelhaft, ob er seine Werke wirklich gelesen habe; aber bald verstanden sie sich ganz, und nun verlebte Erhard im vertrauten Umgang mit dem geliebten Lehrer "selige Tage". Es entschädigte ihn für manche spätere Gegnerschaft, dass Kant ihm am 21. Dezember 1792 schrieb, er bedauere, ihn nicht näher zu haben, den er sich "unter allen, die unsere Gegend je besuchten, am liebsten zum täglichen Umgang wünschte". Noch am 16. April 1800 schreibt er als Arzt in Berlin einen warmherzigen Brief an seinen "Vater" und "Erzieher".


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