Homer, Volksdichtung, Lyrik, Lehrgedicht


Kants Urteil über Shakespeare und die "Originalgenies" der 70er Jahre haben wir schon kennen gelernt (B. II, Kap. III, C). Wir werden ihm zustimmen, wenn er deren Uberschwänglichkeiten und Phantastereien zurückweist. Allein es läßt sich nicht leugnen, dass er, seiner Wertschätzung des echten dichterischen Genies ungeachtet, doch für manches fruchtbare Neue, auf das die Hamann, Herder, Goethe zuerst aufmerksam gemacht, kein Auge besessen hat: so z. B. nicht für Homer und die Volksdichtung überhaupt. Gewiß hält er schon von seiner Gymnasial- und Universitätszeit her viel auf "unsere lieben Alten" und erklärt sie für die "bleibenden Muster des Geschmacks", ohne die kein dauernder Maßstab möglich sei, die unseren Geist zur Humanität kultivieren. Zahlreiche Stellen seiner Schriften und mehr noch seiner Vorlesungen beweisen das. So wird gelegentlich auch Homer als eins der "Genies des Altertums" bezeichnet, aus deren Schöpfungen wir die Regeln abziehen, die im Gegensatz zu den Neueren "immer die Urbilder bleiben werden"; aber doch in einem Atem mit — Cicero und Vergil; ja "Vergil hat mehr Geschmack als Homer" (XV, S. 803)! So bekommt die Bewunderung des letzteren einen Zug ins Schablonenhafte: "ein jeder hat Geschmack am Homer, Cicero, Vergil usw." Niemals nehmen wir bei ihm wirkliche Liebe oder gar ein herzliches Entzücken an der Naturwüchsigkeit und Volksmäßigkeit des homerischen Epos wahr, wie es bei dem jungen Geschlecht, bei Herder, dem jungen Goethe und doch auch in Kants unmittelbarer Nähe, bei seinem Schüler und späteren Kollegen Kraus hervortritt, der als junger Dozent alsbald ein Kolleg über Homer las. In der Kritik der Urteilskraft erscheint Homer zwar auch als dichterisches Genie, aber zusammen mit — Wieland; und in der Anthropologie wird ihm und den anderen "alten Gesängen bis zum Ossian" sogar recht nüchtern vorgehalten, dass sie "das Glänzende ihres Vortrages bloß dem Mangel an Mitteln, ihre Begriffe auszudrücken" verdankten (§ 38). Freilich, woher sollte eine liebende Bewunderung Homers bei unserem Philosophen auch kommen? Hat er ihn doch höchstwahrscheinlich nie in der Ursprache gelesen, wie ihm denn überhaupt, infolge der vertrackten Methode des Fridericianums (B. I, Kap. 2), die volle Schönheit der griechischen Sprache schwerlich je ganz aufgegangen ist. Wird es doch noch 1776 von Kraus als etwas Besonderes zur Empfehlung des Philologie-Professors Kreuzfeld erwähnt, dass dieser — den Homer im Original zu lesen verstehe!

Aber der eigentliche Grund liegt tiefer. Kreuzfeld, der klassische Philologe, und Kraus, der Philosoph und Nationalökonom, lasen doch über Shakespeare. Sie gehören eben dem jüngeren Geschlechte an. Kant dagegen und fast der gesamten älteren Generation — man denke nur an Friedrich den Großen — geht das Verständnis für das Volksmäßige in der Dichtung so gut wie völlig ab. Das ist bei unserem Denker um so auffallender, als es ihm an einem lebhaften Heimatsgefühl keineswegs fehlte, und er sich auch gar nicht scheute, sich im Gespräch mannigfacher Provinzialismen zu bedienen, die auch in seinen Schriften für aufmerksame Augen zu finden sind, ja sogar derbe Knittelverse in seinen Mund zu nehmen nicht verschmähte.*) Für das schlichte Volkslied dagegen, das ihm bei seiner ausgebreiteten Lektüre durch Herders 'Stimmen der Völker in Liedern' bekannt gewesen sein muß, für die aus der Tiefe des Herzens emporquellende Lyrik überhaupt mangelt ihm augenscheinlich das Verständnis. Zwar spricht er sich gelegentlich gegen die bloßen Reimschmiede und für die echten Dichter aus. Der wahre Poet "muß geboren werden" die Poesie ist ein "freies Spiel" der Sinnlichkeit und des Verstandes, die Dichtersprache ist älter als die Prosa (XV, S. 703 f.). Und wenn er in seinen 'Beobachtungen' (1764) die Anakreontiker als "läppisch" abtut, so werden wir ihm recht geben. Auch fehlt es ihm nicht an feiner Empfindung für stilistische Form überhaupt: er liebt Mendelssohns klaren Stil, er ist in seinen mittleren Jahren für denjenigen Rousseaus sogar begeistert. Und mehr als das: seine eigenen Bilder und Gleichnisse verraten dichterische Kraft (vgl. Kap. 9). Er nennt auch ein gutes Gedicht das "eindringendste Mittel der Belebung des Gemüts" (Anthropol., S. 178). Aber der volle, offene, stürmische Ausdruck des Gefühls, wie er das neue Geschlecht der 70er Jahre erfüllt, ist ihm unsympathisch, wenn nicht gar verhaßt. Poeten und Musiker haben ihm zufolge darum keinen Charakter, weil sie "alles auf Gefühle reduzieren". Er hat, scheint es, nie etwas von der Wahrheit jenes Satzes verspürt, den der junge Goethe im Götz seinen Franz aüssprechen läßt: "So fühl' ich denn, was den Dichter macht, ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz!"

Er hat insbesondere wohl nie die ganze Stärke desjenigen Gefühls in sich empfunden, das von jeher, von dem einfachsten Wilden bis zu Goethe, der Dichtung den mächtigsten Antrieb gegeben hat: der Liebe. Nach seiner Meinung muß sich ein "Dichter von Talent" mit Gedichten, die "bloß Spiele der Empfindung sind, z. B. Liebesgedichten", nicht abgeben, weil — "es sehr leicht ist, solche Empfindungen zu erregen, indem schon jeder von selbst solche Empfindungen hat"! Dagegen — "die Tugend und derselben Empfindungen in ein harmonisches Spiel zu bringen, das ist ein Verdienst, denn das ist was Intellektuelles, und diese anschauend zu machen, ist ein wahres Verdienst". Als Beispiel führt er dann seines geliebten Pope 'Versuch vom Menschen' an: "Dieses Buch hat gesucht, die Dichtkunst durch Vernunft zu beseelen."**) Nur so läßt es sich auch erklären, dass er in seinem ästhetischen Hauptwerk als ein Muster edelster Poesie den fürchterlich geschmacklosen Vers eines dichtenden Gelehrten anführt: "Die Sonne quoll hervor, wie Ruh' aus Tugend quillt" (Kr. d. Urt., §49).

Damit stehen wir vor der bezeichnenden Tatsache, dass unserem Ästhetiker als Krone der Dichtkunst nicht das gewaltige Heldenepos, nicht das herzbewegende Lied, nicht das seelenerschütternde Drama erschienen ist, sondern — das Lehrgedicht. Von den drei Dingen, auf die der Dichter wirken will: Gefühl, Anschauungen und Begriffe, sei das erste das roheste, dann komme das zweite, das edelste aber sind ihm die Begriffe, denen Anschauungen und Gefühle "nur zu Hilfe kommen" sollen, "ohne sie zu verdunkeln oder zu überschreien" (um 1772, XV, S. 335). Darum schätzt er von den Alten die Römer mehr als die Griechen, die Didaktiker mehr als die Lyriker, von dem am meisten zitierten Horaz die Episteln und Satiren mehr als die Oden. Auch von den anderen Römern wie: Vergil, Juvenal, in zweiter Linie: Persius, Ovid, Phädrus, Terenz, zitiert er hauptsächlich Sinn- und Sittensprüche, die ihm zum Teil wohl noch als Memorierverse von der Schulzeit her geläufig waren; konnte er doch noch in seinem Alter ganze Versreihen auswendig. Von den Neueren schätzt er aus dem nämlichen Grunde den Engländer Pope und den Schweizer von Haller, und eine Fabel von Voß ist ihm "eine Hekatombe wert" ('Vom vornehmen Ton', 1796).

 

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*) Dass er überhaupt das Volksmäßige an sich zu würdigen wußte, geht aus einem seiner allerletzten schriftstellerischen Erzeugnisse, der 1800 niedergeschriebenen "Nachschrift" zu Mielckes Deutsch-Littauischem Wörterbuch hervor, und noch in die letzterhaltenen Niederschriften seines Nachlasses (wahrscheinlich aus dem Jahr 1803) drängen sich Strophen aus den Gleimschen Grenadierliedern und der Luthervers: "Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang usw." (Reicke, Altpreuß. Monatsschr. XXI, S. 315).

**) So (nach Schlapp, a. a. O., S. 134) in seiner Anthropologie-Vorlesung von 1775/76 der freilich schon 51 jährige!


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