Die kritische Methode


Wodurch ist nun eine solche Wissenschaftlichkeit, Einheitlichkeit und Vollständigkeit der Philosophie erreichbar? Durch ein streng einheitliches Verfahren "nach Grundsätzen", d. h. durch eine Methode, welche nicht eine schon vorhandene Wissenschaft bloß ordnet, sondern die Wissenschaft stets neu erzeugt. Schon 1765/66 hatte er ja, wie wir sahen, verkündeter wolle keine Philosophie, sondern philosophieren lehren. So nennt er denn auch seine Kritik der reinen Vernunft in der zweiten Vorrede (S. XXII) geradezu einen "Traktat von der Methode". Der gesamte zweite Teil des Buches bezeichnet sich als "Methodenlehre". Und die 'Prolegomena' sollen — so lautet ihr erster Satz — künftigen Lehrern dazu dienen, die Philosophie als Wissenschaft "selbst allererst zu erfinden".

Diese seine neue Methode bezeichnet Kant mit verschiedenen Namen. Zunächst und wohl am häufigsten als die kritische. Als solche setzt er sie den beiden bisher in der Philosophie üblich gewesenen, die er zugleich bis zu einem gewissen Grade auch an sich selbst erlebt hatte, entgegen: der dogmatischen und der skeptischen. Liest man die Schriften der kritischen Epoche, vor allem die Kritik der reinen Vernunft, so hat man zunächst die Empfindung: die ganze Wucht des kritischen Angriffes richtet sich gegen den Dogmatismus der bisherigen Metaphysik. Ihm wird nachgesagt, dass er lustig darauf los seinen Bau errichte und erst nachher untersuche, ob auch der Grund fest gelegt sei, um dann hintennach, "wie es bei einem übereilten Bau herzugehen pflegt", noch Stützen und Strebepfeiler anzubringen: ungerechnet die "babylonische Sprachverwirrung", die diese metaphysischen "Luftbaumeister" obendrein noch veruneinigt. Kants Idealismus will "beileibe" kein "höherer" sein. "Hohe Türme und die ihnen ähnlichen metaphysisch-großen Männer, um welche beide gemeiniglich — viel Wind ist, sind nicht für mich." Als seinen Platz bezeichnet er vielmehr "das fruchtbare Bathos [= Tiefebene] der Erfahrung". Sein Hauptangriff mußte gegen die Dogmatiker gehen, weil gerade sie, mindestens auf den deutschen Kathedern, bis 1781 das große Wort geführt hatten.

Aber wenn er sich auch, anstatt jener himmelanstrebenden Turmbauten, mit einem bescheidenen "Wohnhaus" begnügen will, "welches zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug ist, sie zu übersehen": so will er doch ebensowenig von jenem nackten Empirismus wissen, der in dem aus dem Westen gekommenen Skeptizismus seinen Ausdruck fand. Schwärmt der dogmatische Despotiker, ohne vorausgehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft, jenseits der Erfahrung umher, so verfährt die skeptische Anarchie gewalttätig gegen die Vernunft, löst sich, folgerichtig zu Ende gedacht, selbst auf und ist daher im Grunde "gar keine ernstliche Meinung", vielmehr nur als "Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers" von Nutzen. Die Skeptiker gleichen Nomaden, die jeden beständigen Anbau des Bodens verabscheuen; Kant aber will im Grunde doch gerade den Boden für jenes einfache Wohnhaus der Erfahrung und die "majestätischeren" sittlichen Gebäude "eben und baufest" machen, will diesen Boden so tief legen, dass kein Teil sinkt und dann "den Einsturz des Ganzen unvermeidlich nach sich zieht".

Entspricht der Dogmatismus dem naiven Kindesalter, der Skeptizismus der "durch Erfahrung gewitzigten", aber noch nicht zur Reife gediehenen Jünglingszeit der menschlichen Vernunft, so vollzieht die "gereifte und männliche" Urteilskraft, welche "feste und ihrer Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat", den Schritt zur Kritik. Das Wort Kritik bedeutet seiner griechischen Herkunft nach: Scheidung, Sichtung. Scheidung zunächst des Gebietes der Erfahrung vom übersinnlichen, und zwar in der Weise, dass nicht etwa eine unübersteigliche "Schranke" errichtet wird, welche gewisse Fragen einfach abweist, sondern dass diese Schranke sich in eine "Grenze" verwandelt, die auch das jenseits ihrer selbst Liegende mit in Betrachtung zieht. Und Scheidung zweitens innerhalb des Reiches der Erfahrung selbst zwischen deren einzelnen Gebieten oder Wissenschaften, deren Grenzen "nicht ineinanderlaufen, sondern ihre gehörig abgeteilten Felder einnehmen" müssen. Endlich gehört zu dem Begriff der "scheidenden" Kritik, deren Verfahren von Kant gern mit dem des Chemikers oder auch Mathematikers verglichen wird, noch ein Drittes: Scheidung des "Reinen, mit nichts Fremdartigem Vermischten" in der Erkenntnis von dem mit Einzelerfahrungen Vermengten. "Rein" ist das, in dem "nichts von dem, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird".

Was ist endlich der Gegenstand dieser Kritik, mithin der neuen Philosophie überhaupt? Kants Antwort lautet: Die Vernunft. "Vernunft" aber ist in diesem Falle nur der Sammelname für unsere gesamte wissenschaftliche, d. h. mathematische, naturwissenschaftliche und etwaige metaphysische Erkenntnis. Diese also soll "kritisiert", d. i. nicht, wie bei Lambert und Tetens, psychologisch zergliedert, sondern auf ihren wissenschaftlichen Geltungswert geprüft, ihr Umfang und ihre Grenzen untersucht, ihre Bedingungen und Voraussetzungen festgestellt, mit anderen Worten das "Reine" an ihr vom bloß durch die Empfindung Bedingten, Empirischen gesondert werden. Nun bilden den Inhalt der Wissenschaft "synthetische Urteile a priori", oder, ohne Kunstsprache ausgedrückt: Erkenntnis erweiternde, neue Erkenntnis bringende Sätze von unbedingter Allgemeinheit und strenger Notwendigkeit. Die Aufgabe der Kritik, "auf die alles ankommt", und zu deren Beantwortung alle Metaphysiker feierlich aufgefordert werden, lautet demnach: Wie sind solche synthetischen Urteile (Sätze, Erkenntnisse), in modernem Ausdruck: wie ist Wissenschaft möglich?

Nun heißen die eigentlich und objektiv so genannten Wissenschaften: Mathematik und Physik. So ergeben sich zunächst die beiden Fragen: a) Wie ist reine Mathematik möglich? b) Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Da aber außer der exakten Wissenschaft auch noch andere Probleme (Gott, Welt, Seele, Freiheit des Willens) sich unwillkürlich und unvermeidlich uns aufdrängen, die man als "metaphysische zusammenzufassen pflegt, so entsteht die zweite Doppelfrage:

Wie ist diese Metaphysik c) überhaupt, d. i. als Naturanlage, d) wie ist sie als Wissenschaft möglich?

Wir betrachten zunächst 2. Kants Stellung zur Mathematik.


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