Erstes Kapitel.
[Schlechtigkeit, Unenthaltsamkeit und tierische Rohheit]


Hiernach haben wir einen anderen Ausgangspunkt zu nehmen und zu sagen, dass es drei Arten dessen gibt, was man auf dem sittlichen Gebiete meiden muß: Schlechtigkeit, Unenthaltsamkeit und tierische Rohheit. Das Gegenteil der beiden ersten ist klar: das eine nennen wir Tugend, das andere Enthaltsamkeit; das Gegenteil der tierischen Rohheit würde am passendsten eine übermenschliche, gewissermaßen heroische und göttliche Tugend heißen können, wie schon Homer den Priamus von Hektor wegen seiner hohen Vortrefflichkeit sagen läßt:

 

»– schien er doch nimmer

Wie einem sterblichen Mann, nein, wie einem Gotte entsprossen.«

 

Wenn daher, wie man sagt, aus Menschen durch ein Übermaß der Tugend Götter werden, so wäre offenbar der der tierischen Rohheit entgegengesetzte Habitus gleichsam von solcher Art. Denn wie dem Tiere weder Schlechtigkeit noch Tugend zukommt, so auch Gott nicht, sondern die göttliche Vollkommenheit ist etwas Ehrwürdigeres als Tugend, die tierische Bosheit aber ist eine andere Art der Schlechtigkeit. Wie aber ein göttlicher Mann – ein Ausdruck, den die Lakedämonier gebrauchen, wenn sie jemanden sehr bewundern; ein seios aner sagen sie – selten vorkommt, so ist auch ein tierisch verwilderter Mensch eine seltene Erscheinung. Am häufigsten noch kommen solche bestialische Naturen unter den Barbaren vor; einzelne Individuen werden auch infolge von Krankheiten und Verstümmelungen soweit gebracht. Aber auch Menschen von ganz besonderer Lasterhaftigkeit bezeichnen wir mit diesem Schmähwort. Indessen werden wir dieser Gemütsbeschaffenheit noch weiter unten kurz gedenken, die Schlechtigkeit dagegen ist schon früher zur Sprache gekommen. Jetzt wollen wir von der Unenthaltsamkeit, Weichlichkeit und Üppigkeit, sowie von der Enthaltsamkeit und Abgehärtetheit handeln. (1145b) Jede dieser beiden Klassen von Eigenschaften ist nämlich weder als ein und dasselbe mit der Tugend und dem Laster, noch als von ihnen der Gattung nach verschieden zu denken.

Auch hier müssen wir wie sonst die Ansichten, die einen Schein haben, hersetzen und zuerst die Zweifel über sie vortragen, um dann entweder wo möglich alles, was bezüglich der gedachten Affekte annehmbar erscheint, nachzuweisen, oder doch das meiste und wichtigste davon. Denn wenn die Schwierigkeiten gelöst sind und das Annehmbare übrig bleibt, hat die Untersuchung das Ihrige getan.


 © textlog.de 2004 • 28.03.2024 09:24:15 •
Seite zuletzt aktualisiert: 16.10.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright