Sechstes Kapitel.
[Unenthaltsamkeit schlechthin und
im übertragenen Sinne]


Hiernächst ist zu erörtern, ob jemand schlechthin unenthaltsam ist, oder jeder nur teilweise, und wenn schlechthin, in was für Dingen er es ist.

Dass der Enthaltsame und Abgehärtete sowie der Unenthaltsame und Weichliche es mit Lust und Unlust zu tun haben, ist klar. Da aber das Lustbringende teils notwendig, teils an sich begehrenswert, aber eines Übermaßes fähig ist, so ist notwendig jenes Lustbringende, das sich auf den Körper bezieht, und hierunter versteht man was zur Nahrung, zum Geschlechtsleben und zu denjenigen körperlichen Dingen gehört, mit denen es nach unserer früheren Darlegung die Unmäßigkeit und die Mäßigkeit zu tun haben. Anderes ist nicht notwendig, aber an sich begehrenswert; darunter sind z. B. der Sieg, die Ehre, der Reichtum und ähnliche Güter und Annehmlichkeiten zu verstehen. Wer nun hierin die Grenzen der in ihm selbst liegenden rechten Vernunft überschreitet, den bezeichnen wir nicht als schlechthin unenthaltsam, sondern mit einem Zusatz, z. B. unenthaltsam in bezug auf Geld, Gewinn, Ehre, Zorn, aber nicht schlechthin, als einen Mann also, der von anderer Art ist und nur der Ähnlichkeit wegen so genannt wird, wie jener Mann, der in den Olympischen Spielen gesiegt hatte, »Mensch« hieß. (1148a) Bei ihm unterschied sich ja der gemeinsame Begriff von dem singulären nur wenig, aber immerhin unterschied er sich. Ein Zeichen des vorhandenen Unterschiedes ist, dass man die Unenthaltsamkeit nicht nur als einen Fehler tadelt, sondern auch als eine Schlechtigkeit, sei sie nun wirklich eine solche schlechthin oder vielmehr nur einem Teil nach, während das bei den genannten besonderen Arten der Unenthaltsamkeit niemals der Fall ist.

Von denen aber, die es mit den körperlichen Genüssen zu tun haben, auf die sich die Mäßigkeit und die Unmäßigkeit bezieht, wird derjenige, der nicht mit Vorsatz dem Übermaß der Lust nachgeht und dem Übermaß des Schmerzes, des Hungers, des Durstes, der Hitze, der Kälte und aller unter das Gefühl und den Geschmack fallenden Dinge ausweicht, sondern dies gegen seinen Vorsatz und gegen sein besseres Urteil tut –, ein solcher, sage ich, wird unenthaltsam genannt, nicht mit einem Zusatze, also unenthaltsam mit bezug auf das und das, z. B. Zorn, sondern nur schlechthin unenthaltsam. Ein Zeichen dessen ist, dass man auch von Weichlichen mit bezug auf Dinge wie Hunger und Durst redet, doch nie mit bezug auf solche Dinge wie Armut oder Ehrverlust. Und darum stellen wir den Unenthaltsamen und den Unmäßigen sowie den Enthaltsamen und den Mäßigen zusammen, aber keinen der anderen Art, weil sie es gewissermaßen mit denselben Arten von Lust und Unlust zu tun haben, nur dass sie zwar zur nämlichen Sache in einem Verhältnisse stehen, aber nicht in dem nämlichen Verhältnisse, indem die einen vorsätzlich, die anderen unvorsätzlich handeln. Darum könnten wir eher den unmäßig nennen, der ohne Begierde oder nur mit schwacher Begierde dem Übermaß nachgeht oder selbst kleine Schmerzen flieht, als den der aus heftiger Begierde handelt; denn was täte er erst, wenn jugendlich heftige Begierde und starker Schmerz über Mangel an lebensnotwendigen Dingen hinzukäme?

Da aber die Begierden und Freuden teils ihrer Art nach gut und lobenswert sind – denn manches Lustbringende ist von Natur begehrenswert, anderes aber ist das Gegenteil davon, und noch anderes liegt in der Mitte zwischen beiden, wie wir das vorhin von Geld und Gewinn, Ehre und Sieg bemerkt haben –, so unterliegt in betreff der ganzen ersten und mittleren Klasse nicht der Affekt, die Begierde und Liebe an sich dem Tadel, sondern nur ein gewisses Übermaß davon. Wer sich darum wider die Vernunft von einem natürlich schönen und guten Dinge einnehmen läßt oder ihm nachgeht, wer z. B. über Gebühr an der Ehre oder den Kindern oder den Eltern hängt – auch sie sind ja ein Gut und wem sie am Herzen liegen, der erntet Lob, und doch gibt es auch hier ein Zuviel, wenn man z. B. wie Niobe selbst die Götter zum Kampfe herausforderte oder wie Satyrus, mit dem Beinamen der Vaterliebende, die Anhänglichkeit an seinen Vater übertriebe; (1148b) denn er schien in seiner Torheit jedes Maß zu verleugnen –, also gegenüber solchen Objekten des Affektes gibt es zwar aus dem angeführten Grunde keine Verruchtheit, weil jegliches von Natur seiner selbstwegen begehrenswert ist, allein das Zuviel ihnen gegenüber ist schlecht und zu meiden. Im gleichen gibt es hier keine Unenthaltsamkeit; denn die Unenthaltsamkeit ist nicht bloß zu meiden, sondern auch als sittlich häßlich zu tadeln. Doch brauchen wir wegen Ähnlichkeit der Gemütsverfassung im Hinblick auf jedes von den gedachten Objekten den Ausdruck Unenthaltsamkeit mit einem Zusatz, ähnlich wie wir einen einen schlechten Arzt und einen schlechten Schauspieler nennen, den wir doch nicht einfachhin schlecht nennen würden. Wie wir also hier an keine eigentliche Schlechtigkeit denken, weil es sich beidemal nicht um eine solche, sondern nur um etwas ihr durch Analogie Ähnliches handelt, so müssen wir offenbar auch dort daran festhalten, dass nur das Unenthaltsamkeit und Enthaltsamkeit ist, was sich auf demselben Felde hält wie die Mäßigkeit und die Unmäßigkeit; vom Zorn aber brauchen wir den Ausdruck wegen der Ähnlichkeit, daher wir auch mit einem Zusatz sagen: unenthaltsam im Zorn, ebenso wie wir von Unenthaltsamkeit betreffs der Ehre und des Erwerbs reden.

Da aber manches von Natur lustbringend ist, und zwar teils schlechthin, teils je nach den verschiedenen Gattungen von Tieren und Menschen, anderes dagegen es nicht von Natur ist, sondern teils durch Krankheit des Organismus, teils durch Angewöhnung, teils auch durch schlimme Naturanlagen, so lassen sich auch jedem dieser Fälle entsprechende psychische Dispositionen beobachten. Ich denke hier einmal an die Erscheinungen tierischer Wildheit wie bei jenem Weib, das die Schwangeren aufgeschlitzt und die Kinder verzehrt haben soll, oder wie bei gewissen entmenschten Völkerschaften am Schwarzen Meer, die ihre Lust darin finden sollen, rohes Fleisch oder auch Menschenfleisch zu fressen und ihre Kinder unter sich zum Schmause zu verschenken, oder auch an das, was man von Phalaris berichtet. Das sind also Erscheinungen, in denen eine tierische Art zutage tritt, andere treten biswelien infolge von Krankheiten und Wahnsinn auf, wie es bei jenem Menschen der Fall war, der seine Mutter schlachtete und aufaß, oder bei dem Sklaven, der die Leber seines Mitsklaven verzehrte. Wieder andere Abnormitäten haben Ähnlichkeit mit krankhaften Zuständen oder kommen von der Gewohnheit her, so das Ausraufen der Haare, das Verzehren der Nägel, das Verschlingen von Kohlen und Erde. Auch die Päderastie gehört hieher, zu der den einen die Neigung von Natur anhaftet, den anderen, z. B. solchen, die von Jugend auf mißbraucht worden sind, infolge der Gewohnheit.

Diejenigen nun, bei denen die Natur an solchen Dingen schuld ist, nennt wohl niemand unenthaltsam, so wenig man etwa die Frauen darum so nennen würde, weil sie sich bei der Beiwohnung hingebend, nicht tätig verhalten; auch diejenigen nicht, die durch die Macht der Gewohnheit in einen krankhaften Zustand gebracht worden sind. Was also diese Dispositionen selbst angeht, so überschreiten sie jede für sich, wie auch die tierische Wildheit, die Grenzen menschlicher Verkehrtheit. (1149a) Wenn aber der mit ihnen Behaftete sie bemeistert oder von ihnen bemeistert wird, so ist das nicht Enthaltsamkeit oder Unenthaltsamkeit schlechthin, sondern beides nur der Ähnlichkeit nach, gleich wie man den Zornmütigen nur unenthaltsam nach dieser Art des Affektes nennen darf, nicht einfach und ohne Zusatz. Nämlich jedes Übermaß von Dummheit, Feigheit, Unmäßigkeit und Grausamkeit ist teils tierischer teils krankhafter Art. Wer von Natur so ist, dass er sich vor allem fürchtet, auch wenn eine Maus raschelt, der hat eine tierische Feigheit; ein anderer fürchtet die Katzen infolge von Krankheit; und die Dummen, die durch ihre natürliche Veranlagung keinen Verstand haben und ein bloß sinnliches Leben führen wie einige ferne Barbarenstämme, sind tierisch, die aber wegen körperlicher Störungen wie Fallsucht oder Wahnsinn so sind, sind von krankhafter Art. Es kommt aber mitunter vor, dass einer zwar die eine oder die andere Disposition der gedachten Art hat, ohne jedoch sich von ihr bemeistern zu lassen; denken wir uns z. B. den Fall, dass ein Phalaris, wenn ihn die Begierde ankommt, ein Kind aufzuessen, oder in Versuchung zu ungeziemender geschlechtlichen Befriedigung, Enthaltung übt; und wieder kommt es vor, dass einer die ungesunde Affektion hat und auch von ihr überwältigt wird. Wie nun bei der Schlechtigkeit die menschliche als Schlechtigkeit einfachhin bezeichnet wird, die andere aber nicht, sondern vielmehr durch den Zusatz tierisch oder krankhaft unterschieden wird, ebenso gibt es offenbar auch eine tierische und eine krankhafte Unenthaltsamkeit, während doch nur jene Unenthaltsamkeit schlechthin so heißt, die der menschlichen Unmäßigkeit entspricht.


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