Fünftes Kapitel.
[Zwei Formen der partikularen Gerechtigkeit:
distributive und kommutative]


Dass es also mehrere Gerechtigkeiten gibt und noch eine Gerechtigkeit neben der ganzen Tugend, ist klar. Bestimmen wir also, was und welcher Art sie ist.

Das Ungerechte zerfällt in das Ungesetzliche und das der Gleichheit Widerstreitende, das Gerechte in das Gesetzliche und das der Gleichheit Entsprechende. Dem Ungesetzlichen entspricht nun diejenige Ungerechtigkeit, von der vorhin die Rede war. Da aber das der Gleichheit Zuwiderlaufende und das Ungesetzliche*) nicht dasselbe, sondern verschieden sind wie Teil und Ganzes – denn alles, was wider die Gleichheit verstößt, ist ungesetzlich, aber nicht alles Ungesetzliche streitet mit der Gleichheit, grade wie auch alles Zuviel die Gleichheit verletzt, aber nicht alles, was die Gleichheit verletzt, auch ein Zuviel ist**)  –, so folgt, dass auch das Ungerechte und die Ungerechtigkeit hierin nicht dasselbe, sondern verschieden sind. Denn jene Ungerechtigkeit ist ein Teil der ganzen Ungerechtigkeit, und ebenso ist die Gerechtigkeit, nach der wir gegenwärtig fragen, ein Teil der ganzen Gerechtigkeit. Mithin müssen wir uns auch mit der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und mit Recht und Unrecht im engeren Sinne beschäftigen. Jene Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit also, die sich auf den ganzen Umfang der Tugend bezieht und die die Anwendung der ganzen Tugend, beziehungsweise des ganzen Lasters, auf unser Verhältnis zu anderen Menschen ist, möge als erledigt gelten. Ebenso ist leicht zu ersehen, wie das diesen entsprechende Recht und Unrecht zu bestimmen ist. Der größte Teil der Gesetzesvorschriften nämlich betrifft Handlungen der ganzen Tugend. Denn das Gesetz gebietet, im Leben jede Tugend zu üben und verbietet, irgendwelchem Laster Raum zu geben. Das Mittel aber diese ganze Tugend zu verwirklichen sind jene gesetzlichen Bestimmungen, die die Erziehung für das Gemeinwesen regeln. Was freilich die Einzelerziehung betrifft, die da zum tugendhaften Manne schlechthin bildet, so ist die Frage, ob sie zur Staatslehre oder zu einer anderen Disziplin gehört, weiter unten zu erledigen. Denn vielleicht ist es nicht dasselbe, ein guter Mensch und ein guter Bürger eines beliebigen Staates zu sein.

Von der partikularen Gerechtigkeit aber und dem ihr entsprechenden Rechte ist eine Art die, die sich bezieht auf die Zuerteilung von Ehre oder Geld oder anderen Gütern, die unter die Staatsangehörigen zur Verteilung gelangen können – denn hier kann der eine ungleich viel und gleich viel erhalten wie der andere –; (1131a) eine andere ist die, die den Verkehr der Einzelnen unter einander regelt. Die letztere hat zwei Teile. Es gibt nämlich einen freiwilligen Verkehr und einen unfreiwilligen. Zum freiwilligen Verkehre gehören z. B. Kauf, Verkauf, Darlehen, Bürgschaft, Nießbrauch, Hinterlegung, Miete. Hier spricht man von freiwilligem Verkehr, weil das Prinzip der genannten Verträge beiderseits der freie Wille ist. Zu dem unfreiwilligen Verkehr gehören teils heimliche Handlungen, wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Sklavenverführung, Meuchelmord, falsches Zeugnis, teils gewaltsame, wie Mißhandlung, Freiheitsberaubung, Todtschlag, Raub, Verstümmelung, Scheltreden, Herabwürdigung.

 

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*) Lesart nach Susemihl.

**) Lesart abweichend von Bekker; vgl. dort die Varianten.


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Seite zuletzt aktualisiert: 15.10.2006 
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