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Anschauender Verstand

Verstand, anschauender. Unser (endlicher) Verstand ist „diskursiv“, er denkt vermittelst von Begriffen, vermag nicht unmittelbar anzuschauen, muß „in den Sinnen die Anschauung suchen“. Ein Verstand hingegen, „in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde“, würde „anschauen“, KrV tr. Anal. § 16 (I 153— Rc 179). Ein solcher Verstand, „durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten“, würde eines besonderen Aktes der „Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Selbstbewußtseins“ nicht bedürfen, ibid. § 17 (I 155 f.—Rc 183 f.). Ein Verstand ist denkbar, der unmittelbar Dinge anschaut; aber wir haben von ihm „nicht den mindesten Begriff“, ebensowenig von „Verstandeswesen“, auf die er gehen soll, Prol. § 34 Anm. (III 78). Gott (s. d.) kann man nur nach der Analogie (s. d.) einen Verstand beilegen; von einem solchen, anschauenden, Verstande haben wir nicht den mindesten Begriff, weil der unsrige diskursiv ist, ibid. § 57 (III 127).

Die allgemeinen Naturgesetze haben ihren Grund in unserem Verstande. Die Urteilskraft (s. d.) betrachtet die besonderen empirischen Gesetze (s. d.) betreffs dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, „nach einer solchen Einheit..., als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte“. „Nicht, als wenn auf diese Weise wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte (denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese Idee zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen); sondern dieses Vermögen gibt sich dadurch nur selbst und nicht der Natur ein Gesetz.“ Die Natur wird so vorgestellt, „als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte“, KU Einl. IV (II 16 f.). „Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein muß, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden, und das unter seine Begriffe gebracht werden kann. Weil aber zum Erkenntnis doch auch Anschauung gehört, und ein Vermögen einer völligen Spontaneität der Anschauung ein von der Sinnlichkeit unterschiedenes und davon ganz unabhängiges Erkenntnisvermögen, mithin Verstand in der allgemeinsten Bedeutung sein würde: so kann man sich auch einen intuitiven Verstand (negativ, nämlich bloß als nicht diskursiven) denken, welcher nicht vom Allgemeinen zum Besonderen und so zum Einzelnen (durch Begriffe) geht, und für welche jene Zufälligkeit der Zusammenstimmung der Natur in ihren Produkten nach besonderen Gesetzen zum Verstande nicht angetroffen wird, welche dem unsrigen es so schwer macht, das Mannigfaltige derselben zur Einheit des Erkenntnisses zu bringen; ein Geschäft, das der unsrige nur durch Übereinstimmung der Naturmerkmale zu unserem Vermögen der Begriffe, welche sehr zufällig ist, zustande bringen kann, dessen ein anschauender Verstand aber nicht bedarf.“ Ein solcher Verstand würde vom „Synthetisch-Allgemeinen“, d. h. der „Anschauung eines Ganzen als eines solchen“, zum Besonderen, vom Ganzen zu den Teilen gehen, während nach der Beschaffenheit unseres Verstandes ein reales Ganzes der Natur „nur als Wirkung der konkurrierenden bewegenden Kräfte der Teile“ anzusehen ist, KU § 77 (II 272 f.); vgl. Zweckmäßigkeit. „Es ist hierbei auch gar nicht nötig, zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee (eines intellectus archetypus) geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte“, ibid. (II 274). — Wir haben keine „intellektuelle Anschauung“ (s. d.). Ein göttlicher Verstand ist nicht als „Denkungsvermögen“ anzunehmen, V. e. vorn. Ton 5. Anm. (V 416); vgl. Vorles. über d. philos. Religionslehre, S. 6, 40, 95 f. Vgl. Ding an sich, Verstand, Gott.