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Noumenon

Noumenon. Erscheinungen (s. d.) als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht, heißen Phänomene (s. d.). „Wenn ich aber Dinge annehme, die bloß Gegenstände des Verstandes sind und gleichwohl als solche einer Anschauung, obgleich nicht der sinnlichen (also coram intuitu intellectuali), gegeben werden können, so würden dergleichen Dinge Noumena (Intelligibilia) heißen.“ Die Annahme solcher Noumena beruht darauf, daß der Verstand die Sinnlichkeit einschränkt, indem er ihr zeigt, daß ihre Gegenstände nur Erscheinungen der Dinge sind, denen etwas entsprechen muß, was an sich nicht Erscheinung ist; denn „Erscheinung“ zeigt schon eine Beziehung auf etwas an, was ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein muß. „Hieraus entspringt nun der Begriff von einem Noumenon, der aber gar nicht positiv ist und eine bestimmte Erkenntnis von irgendeinem Dinge, sondern nur das Denken von Etwas überhaupt bedeutet, bei welchem ich von aller Form der sinnlichen Anschauung abstrahiere.“ Da wir nicht beweisen können, daß noch eine andere (intelligible) Form der Anschauung möglich ist, welche erst dem Noumenon einen positiven Charakter geben würde, so bleibt die Frage, ob das Noumenon „nicht eine bloße Form eines Begriffs sei, und ob bei dieser Abtrennung überall ein Objekt übrig bleibe“. Das Noumenon ist vom „transzendentalen Gegenstand“ (s. Objekt) zu unterscheiden, KrV 1. A. tr. Anal. 2. B. 3. H. (I 280 ff.—Rc 343 ff.). Wenn wir die Gegenstände der Erscheinungen „Sinnenwesen“ (Phaenomena) nennen, indem wir „die Art, wie wir sie anschauen“, von „ihrer Beschaffenheit an sich selbst“ unterscheiden, so stellen wir ihnen die Dinge als „Gegenstände bloß durch den Verstand gedacht“ gleichsam gegenüber und nennen sie „Verstandeswesen“ (Noumena). Von ihnen aber haben wir nur einen „ganz unbestimmten Begriff“ als einem „Etwas überhaupt außer unserer Sinnlichkeit“. Als ein Ding, „sofern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist“, ist das Noumenon ein solches „im negativen Verstande“. Als ein „Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung“ ist es ein Noumenon „in positiver Bedeutung“. Es korrespondieren nun vielleicht den Sinnendingen solche Noumena, aber unsere Begriffe reichen nicht auf sie hinaus, so daß wir nur negativ bestimmte Noumena haben. Der Begriff eines Noumenon ist „problematisch“, d. h. er enthält keinen Widerspruch in sich, auch hängt er als eine „Begrenzung gegebener Begriffe“ mit anderen Erkenntnissen zusammen. Er ist notwendig, „um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken“. „Am Ende aber ist doch die Möglichkeit [objektive Realität] solcher Noumenorum gar nicht einzusehen, und der Umfang außer der Sphäre der Erscheinungen ist (für uns) leer, d. i. wir haben einen Verstand, der sich problematisch weiter erstreckt als jene, aber keine Anschauung, ja auch nicht einmal den Begriff von einer möglichen Anschauung, wodurch uns außer dem Felde der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben und der Verstand über dieselbe hinaus assertorisch gebraucht werden könne.“ „Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche.“ Das Noumenon ist „nicht ein besonderer intelligibler Gegenstand für unseren Verstand“, sondern ein (anschauender) Verstand ist selbst ein Problem, von dessen Möglichkeit wir nicht die geringste Vorstellung haben können. Unser Verstand schränkt nur die Sinnlichkeit dadurch ein, daß er Dinge an sich selbst Noumena nennt. „Aber er setzt sich auch sofort selbst Grenzen, sie durch keine Kategorien zu erkennen, mithin sie nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken.“ „So ist denn der Begriff reiner bloß intelligibler Gegenstände gänzlich leer von allen Grundsätzen ihrer Anwendung.“ Nur der „Platz“ bleibt für sie offen, KrV tr. Anal. 2. B. 3. H. (I 284 ff.—Rc 344 ff.). Der Begriff des Noumenon ist also „nicht der Begriff von einem Objekt, sondern die unvermeidlich mit der Einschränkung unserer Sinnlichkeit zusammenhängende Aufgabe, ob es nicht von jener ihrer Anschauung ganz entbundene Gegenstände geben möge, welche Frage nur unbestimmt beantwortet werden kann“. Dieser Begriff ist „für uns leer“ und dient nur zur Grenzbestimmung unserer sinnlichen Erkenntnis, ibid. Anh. Anmerk. zur Amphibolie (I 310 f.—Rc 376 f.).

„Schon von den ältesten Zeiten der Philosophie her haben sich die Forscher der reinen Vernunft außer den Sinnenwesen oder Erscheinungen (Phaenomena), die die Sinnenwelt ausmachen, noch besondere Verstandeswesen (Noumena), welche eine Verstandeswelt ausmachen sollten, gedacht und, da sie ... Erscheinung und Schein für einerlei hielten, den Verstandeswesen allein Wirklichkeit zugestanden.“ In der Tat schließt die Betrachtung der Sinnesobjekte als Erscheinungen schon die Zugrundlegung eines Dinges an sich ein. „Der Verstand also, ebendadurch er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und sofern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei.“ „Unsere kritische Deduktion schließt dergleichen Dinge (Noumena) auch keineswegs aus, sondern schränkt vielmehr die Grundsätze der Ästhetik [Analytik?] dahin ein, daß sie sich ja nicht auf alle Dinge erstrecken sollen, wodurch alles in bloße Erscheinung verwandelt werden würde, sondern daß sie nur von Gegenständen einer möglichen Erfahrung gelten sollen. Also werden hierdurch Verstandeswesen zugelassen, nur mit Einschärfung dieser Regel, die gar keine Ausnahme leidet: daß wir von diesen reinen Verstandeswesen ganz und gar nichts Bestimmtes wissen noch wissen können, weil unsere reinen Verstandesbegriffe sowohl als reine Anschauungen auf nichts als Gegenstände möglicher Erfahrung, mithin auf bloße Sinnenwesen gehen und, sobald man von diesen abgeht, jenen Begriffen nicht die mindeste Bedeutung mehr übrig bleibt“, Prol. § 32 (III 75 f.). Über das Feld der Sinnlichkeit hinaus fehlt es den Kategorien (s. d.) an Bedeutung, da sie hier durch keine Anschauung können dargestellt werden. Es folgt daraus, daß alle Noumena zusamt dem Inbegriff derselben, einer „intelligiblen Welt“ (s. d.), „nichts als Vorstellungen einer Aufgabe sind, deren Gegenstand an sich wohl möglich, deren Auflösung aber nach der Natur unseres Verstandes gänzlich unmöglich ist“, ibid. § 34 (III 77 f.). Die Reinheit der Kategorien (s. d.) von aller Beimischung sinnlicher Bestimmungen kann die Vernunft dazu verleiten, „ihren Gebrauch gänzlich über alle Erfahrung hinaus auf Dinge an sich selbst auszudehnen, wiewohl, da sie selbst keine Anschauung finden, welche ihnen Bedeutung und Sinn in concreto verschaffen könnte, sie als bloß logische Funktionen zwar ein Ding überhaupt vorstellen, aber für sich allein keinen bestimmten Begriff von irgendeinem Dinge geben können“. „Dergleichen hyperbolische Objekte sind nun die, so man Noumena oder reine Verstandeswesen (besser Gedankenwesen) nennt, als z. B. Substanz, welche aber ohne Beharrlichkeit in der Zeit gedacht wird, oder eine Ursache, die aber nicht in der Zeit wirkte usw., da man ihnen dann Prädikate beilegt, die bloß dazu dienen, die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung möglich zu machen, und gleichwohl alle Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Erfahrung möglich ist, von ihnen wegnimmt, wodurch jene Begriffe wiederum alle Bedeutung verlieren“, ibid. § 45 (III 97 f.).

Über die Erfahrungsgegenstände hinaus, also von Dingen als Noumenen, gibt es keine positive Erkenntnis der spekulativen Vernunft; doch sind solche Noumena theoretisch wenigstens denkbar. Das moralische Gesetz aber gibt uns ein „Faktum“ der Vernunft an die Hand, „das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt“, KpV 1. T. 1. B. 1. H. I (II 56 f.). Die Freiheit des Willens ist ein Noumenon, ein Übersinnliches (s. d.), welches „durch moralische Gesetze nicht allein als wirklich im Subjekt gegeben, sondern auch in praktischer Rücksicht in Ansehung des Objekts bestimmend ist, welches in theoretischer gar nicht erkennbar sein würde“, Fortschr. d. Metaph. 2. Abt. 2. Stadium (V 3, 121 f.). Eine „theoretisch-dogmatische“ Erkenntnis vom Übersinnlichen gibt es nicht („noumenorum non datur scientia“), ibid. 3. Stadium (V 3, 123); nur eine „praktisch-dogmatische“ Erkenntnis des Übersinnlichen, ibid. Auflösung der Aufgabe I (V 3, 126 f.); vgl. Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, Zweck. — „Der Zusammenhang der Vernunft mit den phaenomenis, womit sie in commercio stehen soll, kann gar nicht verstanden werden (es sind heterogenea). Die wahre Tätigkeit der Vernunft und ihr Effekt gehört zum mundo intelligibili“, N 5612. Vgl. Übersinnlich, Ding an sich, Charakter, Mensch, Subjekt, Ich, Intelligible Welt, Objekt, Freiheit, Imperativ, Reich der Zwecke.