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III. [Die Unterschiedsempfindlichkeit in Hinsicht wirtschaftlicher Reize]


Läßt sich dies als ein passiver Widerstand an unseren einfachen oder komplizierten Empfindungen denken, nach dessen Überwindung sie den Einfluß erst dem Bewußtsein übermitteln, so kann nun dieser Widerstand auch ein aktiverer werden. Man kann sich vorstellen, unsere aufnehmenden physisch -psychischen Organe befänden sich in jedem gegebenen Moment in einem Zustand von Bewegtheit bestimmter Richtung und Stärke, so daß die Wirkung eines eintretenden Reizes von dem Verhältnis abhängt, das die von ihm ausgehende innere Bewegung zu jener vorgefundenen besitzt: sie kann sich dieser gleichgerichtet einordnen, so daß sie ungehemmte Ausbreitungsmöglichkeit gewinnt, sie kann ihr auch zuwiderlaufen, so daß sie in ihrer Wirkung ganz oder teilweise aufgehoben wird und sozusagen das empfindende Organ erst nach Überwindung eines positiven Widerstandes in der ihr eigenen Richtung zu bewegen vermag. Das durch diese Vorstellung bezeichnete Verhalten begegnet nun der weiteren Tatsache, die wir als Unterschiedsempfindlichkeit bezeichnen: wir besitzen in der Empfindung kein Maß für absolute, sondern nur für relative Größen, d.h. nur durch den Unterschied einer Empfindung von der ändern können wir jeder ein Maß bestimmen. Diese Erfahrung - deren Modifikationen hier außer acht bleiben können und die für uns nur soweit, wie auch ihre Kritiker sie zugeben, zu gelten braucht - ist ersichtlich das Fundament der ganzen oben besprochenen Erscheinungsreihe. Denn wenn - so hat man dies an einem einfachsten Beispiel ausgedrückt - eine Bewegung im Tastnerven von der Stärke 1 um 1/3 zugenommen hat, so ist dies das nämliche, wie wenn eine Bewegung von der Stärke 2 um 2/3 zugenommen hätte. Die Tatsache also, daß wir die gleiche Reaktion an den relativ gleichen Unterschied von dem gegebenen Empfindungszustand knüpfen, bewirkt es, daß die objektiv gleichen Reize sehr verschiedene subjektive Folgen haben. Je weiter die Empfindung, die ein neuer Reiz fordert, von der vorgefundenen Verfassung des Empfindens abweicht, als desto stärker und merklicher wird sie zum Bewußtsein kommen. Dies kreuzt sich nun, wie erwähnt, mit der Tatsache, daß der Reiz oft erst eine, seiner Richtung entgegenstehende Stimmung unserer physisch-psychischen Organe zu überwinden hat, ehe er sich für unser Bewußtsein geltend machen kann. Denn während gemäß jener Unterschiedsempfindlichkeit der Reiz um so merklicher ist, je weiter er von dem vorhergehenden Zustand absteht, so ist er nach dem ändern Prinzip - bis zu einer gewissen Grenze - um so unmerklicher, je differenter seine Richtung von der der bestehenden inneren Bewegungen ist. Das hängt mit der Beobachtung zusammen, daß Empfindungen bei gleichbleibendem Reize eine gewisse, wenn auch sehr kurze Zeit brauchen, ehe sie auf ihre Höhe gelangen. Während die erstere Erscheinungsreihe auf die Tatsache der Ermüdung zurückgeht - der Nerv antwortet auf den zweiten gleichartigen Reiz eben nicht mehr mit gleicher Energie, weil er durch den ersten ermüdet ist - zeigt die letztere, daß sich die Ermüdung keineswegs unmittelbar an die Reizreaktion anschließt, sondern daß zunächst diese Reaktion sich bei unverändertem Reize wie aus sich selber akkumuliert - vielleicht aus dem angeführten Grunde, daß erst ein Widerstand der perzipierenden Organe überwunden werden muß, ehe der Reiz die Höhe erreicht, von der er freilich durch die nun eintretende Ermüdung wieder herabsinkt. Dieser Dualismus der Wirkungen tritt auch an den komplizierten Erscheinungen sehr deutlich hervor. Eine Veranlassung zu Freude z.B., in das Leben eines im ganzen unglücklichen Individuums eintretend, wird von demselben mit einer leidenschaftlichen Reaktion, unverbrauchten eudämonistischen Energien, stärkstem Sich abheben gegen den dunklen Hintergrund seiner sonstigen Existenz empfunden werden; andrerseits aber bemerken wir, daß auch zur Freude eine gewisse Gewöhnung gehört, daß der Glücksreiz gar nicht recht aufgenommen wird, wenn die Seele sich schon an fortwährend entgegengesetzte Erfahrungen angepaßt hat. Insbesondere feinere Lebensreize prallen zunächst wirkungslos von einem inneren, durch Not und Leid bestimmten Lebensrhythmus ab, und die Stärke ihres Empfundenwerdens, die gerade der Gegensatz zu jenem voraussetzen ließ, stellt sich erst nach längerer Summierung der eudämonistischen Momente ein. Wenn diese nun andauert und die gesamte Verfassung der Seele schließlich in die ihr entsprechende Rhythmik oder Struktur übergeführt hat, so wird das Reizquantum, zu dessen voller Perzeption es damals nicht kam, derselben auch jetzt, und zwar aus der gerade entgegengesetzten Konstellation heraus, entbehren: weil jetzt eine derartige eudämonistische Gewöhnung eingetreten ist, daß der zur Merklichkeit erforderte Unterschied mangelt. Diese Antinomie äußert ihre große teleologische Bedeutung auch im wirtschaftlichen Leben; die Unterschiedsempfindlichkeit treibt uns aus jedem gegebenen Zustand zum Erwerb neuer Güter, zur Produktion neuer Genießbarkeiten; die Begrenzung der Unterschiedsempfindlichkeit durch den zu überwindenden passiven oder aktiven Widerstand der bestehenden organischen Verfassung zwingt uns, diese neue Richtung auch mit andauernder Energie zu verfolgen und den Gewinn der Güter bis zu erheblicherer Quantität fortzusetzen. Dieser Steigerung aber setzt die Unterschiedsempfindlichkeit wieder ihre obere Grenze, indem die Gewöhnung an diesen bestimmten Reiz ihn abschwächt und schließlich den Zuwachs nicht mehr empfinden läßt, sondern zu qualitativ neuen forttreibt. In derselben Weise wie hier die Steigerung der Objektquanten, gleichmäßig fortschreitend, eine Alternierung innerer Folgen bewirkt, können die Geldwerte der Dinge durch ihre einfache Erhöhung zu einem Umschlagen der Begehrungen ihnen gegenüber führen. Zunächst wird ein Gegenstand, der gar nichts oder nur ein Minimum kostet, sehr oft eben deshalb überhaupt nicht gewertet und begehrt; sobald sein Preis steigt, entsteht dann auch seine Begehrenswürdigkeit und hebt sich eine Weile mit jenem bis zu einem äußersten Reizpunkte. Wird dann der Preis immer noch weiter gesteigert, so daß die Erwerbung für den Betreffenden außer Frage tritt, so wird das erste Stadium dieses Verzichts vielleicht die größte Leidenschaft des Verlangens zeigen, dann aber wird eine Anpassung an ihn, ein Niederkämpfen der unnützen Sehnsucht eintreten, ja, nach dem Typus der »sauren Trauben« eine direkte Aversion gegen das doch nicht Erreichbare. Auf sehr vielen Gebieten knüpft sich ein solcher Wechsel des positiven und negativen Verhaltens an die quantitative Änderung der ökonomischen Forderung. Der Steuerdruck, der auf dem russischen Bauern lastet, wird als Ursache seiner schlechten, primitiven und wenig intensiven Wirtschaft angegeben: der Fleiß lohne sich für ihn nicht, da er doch nichts übrig behalte als das nackte Leben. Offenbar würde ein etwas geringerer Druck, der ihm bei sehr fleißiger Arbeit einen Gewinn ließe, ihn gerade zu möglichst intensiver Bewirtschaftung veranlassen; sänken aber die Abgaben noch mehr, so würde er vielleicht wieder zu seiner früheren Trägheit zurückkehren, wenn er nun schon mit dieser einen Ertrag hätte, der allen Bedürfnissen seines Kulturniveaus genügte. Oder ein anderes Beispiel: wenn eine Klasse oder ein Individuum zu niedriger Lebenshaltung gezwungen ist und deshalb nur rohe und gemeine Freuden und Erholungen kennt, so führt ein etwas erhöhtes Einkommen nur dazu, diese Genüsse häufiger und ausgedehnter zu suchen; wird es nun aber sehr erheblich höher, so steigen die Ansprüche an den Genuß in eine generell andere Sphäre. Wo z.B. die Schnapsflasche die Hauptfreude bildet, werden erhöhte Löhne zu gesteigertem Schnapsverbrauch führen; werden sie aber noch weiter und bedeutend erhöht, so wird sich das Bedürfnis nach ganz anderen Kategorien von Genüssen einstellen. Endlich kommt es hier zu einer aller Analyse spottenden Komplikation durch den Umstand, daß die Bewußtseinsschwellen für die verschiedenen Lust- und Schmerzgefühle offenbar ganz verschieden hoch liegen. Auf physiologischem Gebiet zunächst haben neuere Untersuchungen den immensen Unterschied der Schmerzempfindlichkeit ergeben, der zwischen den Nerven verschiedener Körperteile besteht und für einige das Sechshundertfache des Schwellenwertes anderer aufweist, und zwar charakteristischerweise so, daß der Schwellenwert für die Druckempfindlichkeit eben derselben Stellen gar kein konstantes Verhältnis zu jenem besitzt. Nun ist es allerdings äußerst mißlich, die Schwellenwerte für verschiedenartige höhere und nicht-sinnliche Gefühle zu vergleichen, weil ihre veranlassenden Momente ganz heterogen und nicht so nach ihren Quanten zu vergleichen sind wie mechanische oder elektrische Reize der Sinnesnerven. Trotzdem hiermit jede Messung ausgeschlossen erscheint, wird man die ungleichmäßige Reizbarkeit auch der höheren Gefühlsprovinzen zugeben und damit - da die bisher fraglichen Lebenssituationen immer eine Vielheit solcher betreffen - die ungeheuere und für die Theorie undurchdringliche Mannigfaltigkeit der Verhältnisse zwischen äußeren Bedingungen und innerer Gefühlsfolge.


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