Zum Hauptinhalt springen

"Geschichte" und "Vernunft"

So ängstlich sich nun die Sprachkritik vor einem vertrauensvollen Gebrauch der Worte hüten muß, so hätte doch von Anfang an ein Verständnis für die Worte vor einer Zusammenkupplung der Worte oder Begriffe "Geschichte" und "Vernunft" warnen können. Wie immer schwankt die Sprache zwischen Scylla und Charybdis, zwischen Wippchen und Banalität, zwischen Katachrese und Tautologie.

Denn dass Vernunft und Sprache und Erinnerung nur synonyme Begriffe sind, dass sie das eine Mal miteinander vertauscht werden können, das andere Mal je nach der Seelensituation des Sprechers sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden, das wissen wir bereits. Und dass Geschichte ebenfalls nichts Weiter ist als Erinnerung oder Gedächtnis, das braucht wohl nur gesagt oder gedacht oder erinnert zu werden. Man könnte ja hübsch distinguieren: Sprache oder Vernunft besteht aus den Sagen und Märchen der Großmutter, Geschichte aus den Erzählungen des Großvaters. Manch einer wird umgekehrt distinguieren. Jedenfalls decken sich sowohl Vernunft als Geschichte mehr oder weniger genau mit dem Begriffe Gedächtnis oder Erinnerung.

Und nun ohne Ironie und ohne Wehmut zu dem Schlüsse. Geschichte der Vernunft ist ungefähr so etwas wie ein Gedächtnis der Erinnerung oder eine Erinnerung des Gedächtnisses. Wie gefällig die Tinte über das Papier läuft! Wie altgewohnt die Worte die Luft erschüttern! Daran Kritik üben zu wollen, hieße mit Wortschällen Fangball spielen.

Und wenn die Wortzusammenstellung "Geschichte von Vernunft" irgend einen Sinn ergäbe, welchen Wert hätte dieser Sinn? Vernunft oder Sprache ist ungeeignet zur Erkenntnis der Welt. Das haben wir schon erfahren, bevor noch die Sprachkritik den alten Bau der Logik vor einem flatus vocis zusammenstürzen sah. Und Geschichte ist, wir haben es vorhin von Schopenhauer gelernt, nur einiges Zufallswissen, nicht aber Wissenschaft. Ich sage es noch einmal, diesmal logisch und unlogisch: aus unklassifizierten Begriffen und ihren Sätzen läßt sich nichts etschließen, aus Tatsachen ohne Erfahrungszusammenhang läßt sich nichts lernen. Wohl sagt derselbe Schopenhauer (Welt a. W. u. V. II, 508): "Was die Vernunft dem Individuo, das ist die Geschichte dem menschlichen Geschlechte," Jawohl ganz dasselbe; denn so wenig der Mensch aus seiner Vernunft oder Sprache Erkenntnis schöpfen kann, so wenig lernen die Völker aus der Geschichte. Eine Geschichte der Vernunft, etwa ein bewußtes Gedächtnis des unbewußten Gedächtnisses besitzt der Mensch so wenig wie eine Erinnerung an seine Entwicklung im Mutterleib.

Diese Verzweiflung an Vernunft und Geschichtswissenschaft oder gar an einer Geschichte von Vernunft mag wie äußerste Skepsis klingen, wenn man sie mit dem Jubelruf vergleicht, den etwa L. Noiré am Ende seines wortgläubigen Buches "Die Lehre Kants und der Ursprung der Vernunft" anstimmt und der so oder so das Leitmotiv sprachwissenschaftlichen Glaubens bildet: "So ist die Sprachwissenschaft die Fackel, die in die fernsten Tiefen einer unermeßlichen Vergangenheit ihre Strahlen sendet und unsere Schritte leitet."