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Ererbtes und erworbenes Gedächtnis

Es ist ferner seit Kant ganz ausgemacht, dass der denkende Verstand mit tätig ist, sowie wir eine Sinneswahrnehmung nicht mehr empfinden, sondern sie mit der Hypothese einer Ursache nach außen projizieren; einfacher gesprochen: die Lichtempfindung unseres Sehorgans wird erst durch Arbeit des Verstandes zum Sehen eines Gegenstandes. Es ist darum nur ein müßiges Spiel mit Worten, wenn darüber gestritten wird, ob Tiere die Gegenstände als Objekte wahrnehmen oder nicht. Haben sie Verstand, so können sie Objekte wahrnehmen; und können sie Objekte wahrnehmen, so müssen sie Verstand haben. Und ich möchte in aller Welt wissen, ob dem Falken, der sich auf die Taube herunterstürzt, diese Taube nicht genau ebenso ein Objekt ist wie dem Menschen irgend ein Gegenstand, der seine Gier gereizt hat. Man hat die Vermutung aufgestellt, dass ein Hund, ins Zimmer geführt, dort nur eine wüste Palette von Gesichtseindrücken empfange, nicht aber die einzelnen Gegenstände in seinem Kopfe vom Zimmer loslöse und "als Objekte" vorstelle. Man führe einmal irgend einen noch völlig wilden Australneger in mein Zimmer und sehe zu, ob er Bücher und Bilder, Ofen und Aschbecher, Feder und Tintenfaß vom Zimmer loslösen und als Objekte vorstellen könne. Nicht der Verstand fehlt ihm, sondern die Erfahrung. Hat ein Hund erst Erfahrung gewonnen, kennt er erst mein Zimmer, so löst er die Objekte ganz vortrefflich los und weiß den heißen Ofen und das praktikable Sofa ganz genau als Objekte zu sehen und zu behandeln. Auf die Übung des Gedächtnisses, auf Erfahrung kommt es allerdings an; und da leidet es keinen Zweifel, dass der Gradunterschied zwischen dem Tiergedächtnis und dem Menschen-gedächtnis ein doppelter ist. Ich möchte das so ausdrücken, dass der Mensch ein sehr starkes und lebhaftes ererbtes Gedächtnis besitzt, welches er in hohem Grade durch individuell erworbenes Gedächtnis vermehren kann; dass das Tier ein gutes, in manchen Arten erstaunliches erworbenes und ererbtes Gedächtnis besitzt, dass das ererbte Gedächtnis des Tieres jedoch dem Individuum festere Schranken setzt. Es wirkt beim Tiere, soweit wir bis jetzt übersehen können, die Vermehrung des individuellen oder erworbenen Gedächtnisses kaum oder sehr unbedeutend zu einer Steigerung des ererbten Gedächtnisses mit. Der geistige Reichtum der Menschheit ist wie so oft anderer Reichtum auf die Erbfolge zurückzuführen, auf die Erbfolge der Erfahrung nämlich; bei den Tieren gibt es keine Erbfolge der Erfahrung, wie sie denn auch sonst nur in seltenen Fällen ein Erbrecht besitzen. Es braucht nicht wiederholt zu werden, dass das Erbe oder das Gedächtnis der Menschheit in der Sprache niedergelegt ist; die Tiere haben kein Menschengedächtnis, keine Menschenerfahrung, keine Menschensprache.