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Darwinismus

Auf die physiologischen Rätsel und Widersprüche der Vererbung ist man erst dadurch aufmerksam geworden, dass Darwin die Vererbung als eine einfache und bekannte Tatsache hinnahm und auf die Vererbung erworbener Eigenschaften seine ganze wertvolle Hypothese aufbaute; die Kritiker Darwins haben sich mit der Auflösung dieser Rätsel abgequält, ohne Grund, weil der kluge Darwin den Anfang der ganzen Entwicklung gar nicht untersuchte, gelegentlich auch dem Schöpfer anheimstellte. Die Kritiker Darwins hätten sich die Mühe sparen können, weil an der Tatsache der Vererbung gar nicht zu zweifeln ist; nicht nur unter Tauben und unter Pferden und unter Rosenvarietäten, sondern auch unter den Menschen sehen wir deutlich angeborene und erworbene Eigenschaften sich fortpflanzen. Ob wir diese Vererbung auf unbekannte Kräfte in den Keimzellen oder in allen Zellen des Organismus zurückführen wollen, das ist eine Spezialfrage der Physiologie. Wir können auch das Wort Vererbung ganz fallen lassen und uns denken, dass der Organismus in den Kindern und Kindeskindern einfach weiterlebe, während seine einzelnen Teile, die wir dann Vater und Mutter nennen, als Teile absterben; wir können uns denken, dass der einheitliche und ewige Organismus dieser Pflanze durch die Entwicklung des im Herbste ausgesäeten Keimes weiterlebe, wie die Eiche nach dem Winterschlafe neue Blätter treibt. So schaffen wir uns in unserer Phantasie eine Einheit der organischen Welt und freuen uns noch bei der Vorstellung, dass der Begriff der Unendlichkeit, welcher für Raum, Zeit und Kausalität nur zu neuen Schwierigkeiten führt, bei dieser einzigen und ewigen organischen Persönlichkeit sich wie von selbst ergibt. Wie das sogenannte Bewußtsein des Menschenindividuums nichts ist als sein Gedächtnis, dessen größerer Teil freilich "unter der Schwelle" dieses selben Bewußtseins bleibt, so ist das Fortleben des Organismus in seinen Kindern und Kindeskindern oder die Vererbung das unbewußte organische Gedächtnis. Wie sich der beschränkte aber unfehlbare sogenannte Instinkt zum diskursiven Denken verhält, so verhält sich das unfehlbare organische Gedächtnis der Vererbung zu dem Individualgedächtnis für Individualerinnerungen.

Die Vererbung angeborener und erworbener Eigenschaften muß auch ohne Erklärung zugegeben werden. Die Fortsetzer Darwins bemühen sich.denn auch, womöglich alles aus erworbenen Eigenschaften oder aus der Anpassung herzuleiten; denn das uranfängliche Protoplasma hatte so wenige Eigenschaften, hatte ein so geringes Erbe, dass mit Ausnahme des abstrakten Lebens eben erst alles durch Anpassung erworben werden mußte. Es versteht sich von selbst, dass nicht nur Glieder und Organe der Tiere, sondern auch ihre Begierden und Instinkte Ergebnisse der Anpassung sein müssen. Da ist es nun nicht ohne Humor zu lesen, wie die Theoretiker der Entwicklungslehre jedesmal die alte Morphologie ins Treffen führen, wenn der Begriff der Anpassung versagt. "In manchen Fällen ist die Anpassung aber nicht erkennbar, wie in der verschiedenen Gestalt so vieler Laubblätter; in der Tatsache, dass so viele Dikotylen fünf, so viele Monokotylen sechs Staubfäden besitzen. Dann spricht man von morphologischen Merkmalen im Gegensatze zu Anpassungsmerkmalen" (Reinke, Die Welt als Tat S. 243). Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich die Apriorität mit der Morphologie vergleiche; wenn man etwas nicht aus der Erfahrung erklären kann, z. B. deshalb, weil die Erfahrung ohne dieses Etwas gar nicht zustande kommen konnte, so "spricht man" von apriorischen Begriffen im Gegensatze zu Erfahrungsbegriffen.