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Geschichte des Gehirns

Für Wortabergläubische jeder Art kann eine Geschichte der Vernunft gar nicht vorhanden sein. Für sie gibt es eine Seele, diese Seele hat verschiedene Vermögen, unter diesen Vermögen gibt es ein ewiges und unveränderliches Denkvermögen. Sie haben auf die alte Frage: cur opium facit somniare? immer nur Molières lustige alte Antwort, das komme von der virtus dormitiva atque somnifera.

Die besondere Klasse der Wortabergläubischen, die sich Materialisten nennen, kann eine Geschichte der menschlichen Vernunft nur in einer Entwicklungsgeschichte des Gehirns sehen. Es ist auch für uns gar nicht zweifelhaft, dass die mikroskopische Entwicklungsgeschichte des Gehirns der Geschichte der Vernunft parallel geht (um auch einmal das gefährliche Bild vom Parallelismus zu gebrauchen), wenn es uns auch fast wahrscheinlicher dünkt, infinitesimal die Entwicklung der Vernunft als die Ursache und die Entwicklung des Gehirns als die Wirkung aufzufassen. Immerhin wäre für die Psychologie und Erkenntnistheorie viel gewonnen, wenn wir eine Entwicklungsgeschichte des Gehirns so besäßen, wie wir eine Entwicklungsgeschichte der Dampfmaschine von Heron bis auf die Gegenwart besitzen. In Wahrheit aber wissen wir kaum etwas von der Maschinerie des gegenwärtigen Gehirns, so gut wie gar nichts von der Geschichte seiner Maschinerie. Ein Neger im Innern Afrikas, der die erste Lokomotive an sich vorüberbrausen sehen mag, wird von den Geheimnissen der Dampfmaschine nicht weniger wissen als unsere Physiologen von der Tätigkeit des Gehirns und von der Geschichte dieser Tätigkeit.

Wir denken nicht daran, eine Entwicklungsgeschichte des Gehirns naturphilosophisch aufstellen zu wollen; was Darwinisten darin geleistet haben, setzt überall schon ein unbewußtes Schema einer Vernunftgeschichte voraus. Wir glauben auch nicht, dass eine derartige Untersuchung irgend vorwärts kommen kann, solange sie sich für eine Geschichte der Vernunft ausgibt. Denn so gewiß der Begriff Vernunft eine Personifikation ist, so gewiß ist die Vernunft keine Persönlichkeit, auch keine Reihe von Persönlichkeiten und hat darum keine Geschichte. Die Vernunft ist kein Lokomotivführer. Setzen wir anstatt Vernunft Sprache, so gelangen wir wohl zu einer lückenhaften Geschichte der Vernunft, aber diese umfaßt nur einige tausend Jahre, also einen Zeitraum, der gegenüber der Aufgabe gar nicht in Betracht kommt. So viel oder so wenig Etymologie dazu führt, die Urgeschichte der Sprache zu verstehen, so viel oder so wenig bedeutet diese Sprach- oder Vernunftgeschichte der jüngsten Gegenwart für die Urgeschichte der Vernunft.