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Abstraktionen

Die organischen Werkzeuge der Tiere und des Menschen sind nun im Laufe der Jahrtausende ebenfalls verbessert worden. Weil aber die Verbesserungen erstens unmerklich und zweitens unbewußt geschahen, und weil wir nur unter besonders glücklichen Umständen die verschiedenen aufeinanderfolgenden Modelle auch vergleichen können, ist eine solche Geschichte organischer Werkzeuge des Menschen ein armseliges Ding. Wie ein Schüler von der Weltgeschichte nur ein paar Namen und Zahlen weiß, so auch der modernste Biologe von der Geschichte des Auges z. B. nur ein paar wichtige Stationen. Den wirklichen, das heißt zufälligen Weg kennen wir nicht. Wir wissen eigentlich nur, dass das Sehorgan bei einigen Tieren so, bei anderen so aussieht, und können von einer "Entwicklung" zum menschlichen Auge nur sehr ungenau sprechen. Vollends von der Geschichte des Auges seit der Zeit, dass es ein menschliches Auge gibt, bis zur Gegenwart wissen wir fast nichts; ja selbst der Gedanke ist noch ziemlich neu, dass das menschliche Auge selbst wieder eine Geschichte habe.

Wie wir trotzdem zu etwas wie einer Geschichte der Vernunft gelangen können, das werden wir begreifen, wenn wir den Unterschied zwischen dem wirklichen Stoff und der Abstraktion in anderen Verhältnissen betrachten. Wir reden ja auch von einer Geschichte der Malerei, und es fällt uns dabei kaum ein, dass es in der weiten Welt der Wirklichkeiten etwas wie Malerei gar nicht gebe, dass es nur Farben und Linien gebe, welche sich da und dort in unserem Gehirn zu Malereien verbinden. Wirklich sind in letzter Instanz nur die Naturerscheinungen, welche für unser Auge zu Ursachen der Farben und Linien werden. Die einzelnen Malereien oder Bilder sind künstlerische Gehirntätigkeiten der Maler und wecken im Gehirn des empfänglichen Beschauers die Vorstellungen ähnlicher Bilder. Alles andere, die Malerepochen, die Stile, die Moden sind Einteilungsgründe, Artbegriffe, . Ähnlichkeitsgruppen und andere Abstraktionen der Art. Mit Hilfe dieser Abstraktionen, die wir dann eine Geschichte der Malerei nennen, ordnen wir unsere Übersicht über die Malereien und gewinnen so einen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Auges und damit einen kleinen feinen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Gehirns oder der Vernunft.