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Geschichte der Vernunft oder Sprache

Wie sich die Malerei zu den einzelnen Malereien verhält, so die Abstraktion Vernunft zu den einzelnen Denkakter. Wie wir einen Überblick über die Menge der Bilder eine Geschichte der Malerei nennen, so könnten wir einen geordneten Überblick über die seit der Entstehung der Vernunft bis heute vollzogenen Denkakte eine Geschichte der Vernunft nennen. Wir haben nun die Überzeugung gewonnen, dass Denken und Sprechen identisch ist. Eine Geschichte der Vernunft wird also identisch sein mit einer Geschichte der Sprache, eine Geschichte der Sprache wird einen Hauptteil ausmachen in der idealen Geschichte des Gehirns.

Die Entwicklungsgeschichte des Gehirns bis zum menschlichen Gehirn hinauf ist gewissermaßen nur die Paläontologie, wie die Geschichte des Auges von dem lichtempfindenden Hautfleck an nur die Paläontologie des Menschenauges ist. Die neuere Geschichte des Menschenauges, ich meine die Geschichte der letzten so und so viel hunderttausend Jahre, die Geschichte des Auges, seitdem es Menschenauge ist, ist auch mit dem tüchtigsten Mikroskope nicht zu enträtseln; wir erschließen einzelne Beiträge zu dieser Geschichte aus den nachweisbaren Sehakten, die freilich wieder nur an Farbenbezeichnungen und ähnlichen Worten nachweisbar sind. So wären allerdings Beiträge zu einer neueren Geschichte der Vernunft nur aus einer Geschichte der Sprache zu erschließen. Und da wir unsere Sprachen mit einiger Sicherheit nur um ein- bis zweitausend Jahre zurückverfolgen können, mit aller Phantasie und Unsicherheit höchstens drei bis vier Jahrtausende, so sind Beiträge für eine Geschichte selbst der neueren Vernunft nur für die allerneueste Zeit zu erbringen.

Es gewährt ja einen geistigen Genuß, die Sprache so und so zu definieren und dann logisch zu schließen, dass die Menschen, als sie zu sprechen anfingen, sofort nach dieser Definition im Besitze dieser oder jener geistigen Eigenschaften gewesen sein müssen. Es ist das aber die reinste Wortspielerei. Auch das Wort Sprache ist eine leere Abstraktion, bei welcher wir an die gegenwärtige Sprache denken. Bereits das Sprachgefühl Homers, also einer Zeit, die nur wenige Generationen vor unserer Gegenwart liegt, ist uns viel fremder, als unsere Übersetzungen vermuten lassen. Und das ist die Sprache von gestern. Von der Sprache, wie sie vor hunderttausend Jahren etwa war, können wir uns auch nicht entfernt ein Bild machen. Über den Ursprung der Sprache gar wissen wir nichts Positives. Es wird also schwer halten, die Geschichte der Sprache mit ihrem Ursprung, die Geschichte der Vernunft mit ihrem Ursprung zu beginnen. Nur falsche Vorstellungen können wir berichtigen und insbesondere der uralten, längst widerlegten und doch überall heimlich wiederkehrenden Anschauung entgegentreten, als ob die Sprache eine Schöpfung der Vernunft, also jünger als die Vernunft sei.