Zum Hauptinhalt springen

Die Buchkultur

Oben schon ist (nach Wuttke) daran gemahnt worden, dass vielleicht die Bedeutung der körperlichen Kraft eine notwendige Erscheinung der schriftlosen Zeit war. Diese Vorstellung wird ganz lebendig, wenn wir unsere Zeitungsgegenwart oder auch nur die beginnende Bücherzeit mit den Zeiten vor Erfindung des Buchdrucks vergleichen, da wir doch über die schriftlose Zeit nichts Bestimmtes wissen. Aber in der Bibel sind uns noch Kriegsberichte aus einer Zeit erhalten; die der schriftlosen Zeit nahe stand; und die Religionskriege des Islam fallen in Jahrhunderte vor Erfindung des Buchdrucks. Damals war der Bürgerkrieg noch ein Schlachten, buchstäblich ein Abschlachten des Gegners bis auf den letzten Mann. Den redenden Gegner konnte man durch Totschlagen zum Schweigen bringen, und zwar nur durch Totschlagen. Schon die deutsche Reformation zeigt uns einen Bürgerkrieg, in welchem mit Flugschriften gekämpft wurde, unblutig. Luther wurde nicht totgeschlagen, auch nicht zu der Zeit, da er besiegt schien. Zu dem Blutvergießen des Dreißigjährigen Kriegs führten andere Gegensätze als die religiösen, wenn auch Rom den Brand eifrig schürte. Und heute stehen wir in einem unaufhörlichen Bürgerkrieg (man denke nur an die Erscheinung der Sozialdemokratie), der mit Zeitungsartikeln ausgefochten wird. Das mündliche Schimpfen der Gegner führt zuletzt zu Tätlichkeiten, bei den homerischen Helden sowohl wie bei rauflustigen Bauern im Wirtshaus. Das Schimpfen der Parteizeitungen kann durch Jahrzehnte unblutig fortgesetzt werden. Man nennt das gewöhnlich den Segen des Humanismus, der Konstitution, der Gesetzlichkeit. Es ist aber im Grunde nur eine Folge des Buchdrucks. An diesem modernen Bürgerkrieg sind Millionen Menschen beteiligt. Durch Schrift, Druck und Telegraph hat die Regierung ihre Beamten und ihre Soldaten weit schneller, sicherer und massenhafter am Schnürchen als früher; aber auch die Führer der Massen sind durch dieselben Mittel in der Lage, über Millionen Menschen zu gebieten, wo sie sich einst nur an eine Volksversammlung wenden konnten.

Alle diese praktischen Vorteile der schriftlichen Sprache sollen natürlich nicht verkleinert werden. Ihre Apotheose versuchte ich ja oben (vgl. S. 552) durch die Phantasie: Vernichtung unserer Kultur durch Vernichtung unseres Buchdenkens, unserer Bibliotheken. Nach einem allgemeinen Bücherbrande könnte manches Gedicht, manche Historie wieder hergestellt werden. Aber gerade die realen Kenntnisse wären für lange Zeit verloren. Es würde sich dann plötzlich herausstellen, dass unsere Kultur nicht auf den Kenntnissen beruht, die sich in der Lautsprache ausdrücken lassen, sondern auf denjenigen ungeheuren Vorräten, welche nur schriftlich aufgespeichert sind. Alle Professoren Europas wären mit ihren lebendigen Kenntnissen nicht imstande, die Tabellen zu ersetzen, welche niemand auswendig weiß, welche nur in den Büchern stehen. Unsere Fabriken müßten stille stehen, weil die Chemie nicht Menschenwissen, sondern Bücherwissen ist, unser Staat wäre umgeworfen, weil die Statistik nur von Büchern gewußt wird. Und keine einzige Wissenschaft, deren Betrieb auf subtilen mathematischen Berechnungen beruht, ließe sich ohne Logarithmentafeln weiter führen. Die Logarithmentafeln kennt kein Mensch, kennt nur die Schrift.