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Tempora

In unserer Schulmeistersprache sind die drei Hauptzeiten des Verbums, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zu Formen geworden, die wir ohne jede Geistesanstrengung, aber auch ohne jede anschauliche Vorstellung gebrauchen. Man vergleiche einmal mit diesen drei Hauptzeiten die Farbenpracht der drei Worte, welche uns eben begegnet sind: "Verwesen, Wesen und Werden." Verwesen führt uns das Aufhören des Individuums und die Auflösung des Körpers in seine chemischen Bestandteile vor Augen. Es ist ein tüchtig wirkendes Wort, steht noch in der Vollkraft der Beobachtung da, an welche es erinnert. "Wesen" drapiert sich einerseits als der abstrakteste und in einem gewissen Sinne höchst philosophische Begriff, anderseits führt es in eine Urzeit zurück, in welcher das zugrunde liegende Wort noch so handgreiflich war wie das Übernachten. Das "werden" endlich erinnert an die Bewegung des werdenden Kindes. Den Begriff "verwesen" habe ich nur herangezogen, um auch ein starkes Wort für den Zeitbegriff der Vergangenheit zu haben; die beiden anderen Worte aber sind uns als Hilfszeitwörter der Gegenwart und der Zukunft alltäglich geworden; wir sagen "der Hund ist ein Säugetier" oder "im Dezember wirst du Geburtstag haben", und ahnen nicht, wie die alte Gegenständlichkeit von Sein und Werden heruntergekommen sein muß, um so unselbständig der Zeit zu dienen, die selbst nichts ist und nichts wird. Für meine Leser brauche ich wohl nicht zu bemerken, dass ich, der einfacheren Übersicht wegen, hier an Stelle von "Wesen" das andere Wort "Sein" gesetzt habe.