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Mythologie

Die mythologische Entstehung der Abstraktionen jedoch ist durchaus keine moderne Lehre. Sie findet sich sogar schon an der Schwelle der griechischen Philosophie, bei Xenophanes, einem Zeitgenossen des Pythagoras, um 500 vor Christi Geburt. Er war ein Rhapsode und ein Philosoph, was damals gewiß keinen Widerspruch in sich schloß. Man hat in die erhaltenen Bruchstücke seiner naturphilosophischen Gedichte ohne Schwierigkeit den Pantheismus unserer Zeit hinein lesen können. Wie dem auch sei, etwas Goethe muß in dem alten Dichterdenker gelebt haben, der zuerst die Faustische Tragik des Nichtwissens empfand und herausschrie, der das köstliche Goethesche Wort; "Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist" — zuerst wußte. Man könnte Xenophanes zum ersten Philosophen des Metaphorischen ernennen, wenn man nur etwas mehr von ihm übrig hätte. Es scheint mir sogar möglich, in seinen Satz, dass das Individuelle von unserem Verstande abhängig sei (ta polla hêttô nou einai), sogar die Kantsche Philosophie hinein zu legen. Das wäre aber bei der Armseligkeit der Überlieferung ein müßiges Spiel. Gewiß ist nur, dass er die Mythologie von Homeros und Hesiodos, also die Religion seiner Zeit, ernsthaft verspottet hat mit denselben Mitteln, die viel später der weit über Gebühr berühmte Lukianos Spaßes halber anwandte, und dass er die metaphorische Entstehung dieser Mythologie erkannte. Die Menschen, sagt er, haben die Götter geschaffen und ihnen nach Menschenart Kleider, Sprache und Formen gegeben. Die Äthiopier stellen ihre Götter schwarz und stubbsnäsig dar, die Thrakier rothaarig und blauäugig. Wenn Ochsen und Pferde Hände hätten, wenn sie malen und Bildwerke ausführen könnten wie die Menschen, so würden sie Bilder malen und auch die Götter nach ihrer Gestalt darstellen, die Pferde solche mit einem Pferdeleib, die Ochsen solche mit einem Ochsenleib.

Was die ältesten Dichter unbewußt taten, so dass ihre poetischen Bilder und ihre religiösen Vorstellungen sich miteinander vermischen, das tun alle Dichter bis zur Stunde bewußt, und weil sich die neueren, Schiller so gut wie Zola, der Metaphern bewußt sind, so sehen sie in ihren Personifikationen Symbole und nicht mehr Gestalten des Glaubens. Besinnen wir uns aber recht darauf, dass die einfachsten Begriffe wie die abstraktesten durch die gleiche psychologische Metapher entstehen, dass es derselbe Witz ist, der die allernächsten und die entferntesten Ähnlichkeiten wahrnimmt, so hört für uns auch der Artunterschied auf zwischen wissen, symbolisieren und glauben. "Glauben" ist etymologisch verwandt mit "loben" und hat die Grundbedeutung "gut heißen". Die Phantasie beginnt nicht erst bei den religiösen und sittlichen Glaubensmeinungen, sondern arbeitet metaphorisch schon bei dem mit, was wir "wissen" nennen. Die Erscheinungen der Schwere sind Beobachtungen, die Erscheinungen des Lichtes sind Beobachtungen; die Gesetze der Gravitation und der Lichtschwingungen jedoch sind Glaubenssache so gut wie die populär gewordenen Begriffe Kraft und Stoff. Der Begriff der Ursache ist Glaubenssache, metaphorisch nach dem vermeintlichen Bewußtsein eines menschlichen Willens gebildet, so gut wie die stubbsnäsigen Götter der Äthiopier. Die Transformatoren unserer Dynamomaschinen sind wirklich; das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, das sie uns so anschaulich zu machen scheinen, ist dennoch Glaubenssache. Anschaulich sind immer nur die Beobachtungen selbst. Der Begriff ist immer metaphorisch, gibt niemals Anschauung, weder bei den mythenbildenden Dichtern noch bei den mythenfeindlichen. Philosophen. Begreifen wir das, so erscheint uns der schöne Satz Kants "Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer" selber blind und leer. Es gibt keine Anschauung, außer in der unmittelbaren Gegenwart, in dem unmittelbaren Gegenüber von beobachtendem Subjekt und der Wirklichkeitswelt. So wie die Sprache sich der Anschauungen bemächtigen will, wird sie vom ersten Tasten an zur Metapher, einerlei, ob die Sprache ein Wissen, ein Symbol oder einen Glauben ausdrücken will. Gerade Kants größte Tat ist es freilich (da er die Symbole in seiner oft prachtvollen Sprache nur als verdeutlichenden Schmuck gebraucht), zwischen Wissen und Glauben schärfer als alle Vorgänger unterschieden zu haben; er kritisiert das Wissen und baut sein Gemisch von Religion und Sittlichkeit auf den Glauben, auf ein Gefühl. Wollen wir aber seine Erkenntnistheorie und seine Ethik unter Einen Gesichtspunkt zusammenfassen, so müssen wir doch sagen, dass er sowohl da wie dort ein Nichtwissen lehrt, ein unbewußtes Nichtwissen in der Erkenntnistheorie, ein bewußtes Nichtwissen in seiner Ethik.

Unser Wissen von den ältesten Sprachformen und von den ältesten Religionsformen ist wirklich ein und dasselbe Wissen. Nicht, wie Max Müller das lehrte. Nur darum, weil Götter immer nur Worte sind, Worte immer nur Götter; und weil das um so deutlicher wird, je weniger die Götter und die Worte zu sagen haben. Worte lebendiger Sprachen sind immer reicher als die Erfahrung, um die Metapher reicher, um ihre Mythologie. Man gedenke der abgründigen Ironie, mit der Spinoza (am Ende des I. Kapitels des Tract. theol.-pol.) zu sagen wagt: "ex verbis et imaginibus longe plures ideae componi possunt, quam ex solis iis principiis et notionibus, quibus tota nostra naturalis cognitio superstruitur." Gewiß, "aus Worten und Bildern können weit mehr Ideen zusammengestellt werden als aus den Kenntnissen unserer Erfahrung".