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Kant

In Kant hat sich der Scharfsinn der ehrlichsten Scholastiker mit dem nüchternen Zweifel der Engländer vereinigt. Kant hat die Welt bis zur Gegenwart geführt. Er weiß — bis auf den sprachkritischen Punkt freilich nur —, dass den menschlichen Begriffen immer bildliche Vorstellungen anhängen, dass wir bis zur Erkenntnis der Wirklichkeitswelt, des Ding-an-sich, niemals vordringen können, weil unser Denken — wie wir ihn ohne Zwang sagen lassen können — metaphorisch ist, anthropozentrisch. Es ist nicht das kleinste Verdienst Kants, dass er durch das überwältigende Aussprechen Lockescher Vorstellungen der neueren Untersuchung der menschlichen Sinnesorgane die Wege gewiesen hat. Man könnte aus Kants Werken eine unangreifbare kritische Erkenntnistheorie des Nichtwissens zusammenstellen, eine noch freiere als die einst" berühmte "docta ignorantia" des Nicolaus Cusanus. In seinem negativen Denken ist Kant bereits der Alleszertrümmerer;1 wir beugen uns vor dem Geiste, der in seinen stärksten Stunden die Riesenarbeit begonnen hat, welche als Selbstzersetzung der Sprache oder des Denkens notwendig war.

Aber Kants letzte Weltanschauung ist dennoch nur die einer Übergangszeit; oder vielleicht hat ihn gerade das Bewußtsein seiner Riesenkraft dazu verführt, der negativen Tat ein positives System folgen zu lassen. Jedenfalls steht er der absoluten Vernunft etwa so gegenüber wie Graf Mirabeau dem absoluten Königtum. Er will sie in bestimmte Grenzen zurückweisen, er will ihren Mißbrauch abschaffen, er will sie zuerst von ihrem Throne stürzen, um sie nachher durch ein unlogisches Vetorecht wieder zu retten. Dieser Zwiespalt im Kopfe Kants ließe sich an der inneren und äußeren Geschichte seiner "Kritik der reinen Vernunft" nachweisen. Ich muß hier darauf verzichten. Kant wollte sein Werk ursprünglich nennen "Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft". Er hat unerreicht klar über die Grenzen der Vernunft geschrieben, aber die Doppelbedeutung des Wörtchens "über" hat er dabei übersehen; unbewußt hat auch er noch die Vernunft als eine mythologische Person, als ein personifiziertes Seelenvermögen aufgefaßt, hat das logische Denken in menschlicher Sprache von der menschlichen Vernunft unterschieden und hat nicht bemerkt, dass es über unsere Kraft geht, über die Vernunft oder Sprache zu sprechen oder zu denken. So gelangt er dazu, die Kategorien des Denkens schließlich doch wieder — sehr vorsichtig freilich — auf das Undenkbare, auf das Ding-an-sich anzuwenden. Sein Sündenfall besteht darin, dass er nach zehnjähriger Vorarbeit nicht die Grenzen der Vernunft überhaupt, sondern die Grenzen einer reinen Vernunft kritisierte, dass er eine reine Vernunft, das heißt eine Vernunft vor aller Erfahrung der anderen Vernunft gegenüber stellte, dass er die von Locke ausgerotteten angeborenen Ideen auf diesem Umwege wieder auf den Thron setzte und ihnen ein Vetorecht gab. Die reine Vernunft war die Glaubenssache und die große Metapher Kants. Ihm stand für die Begriffe der reinen Vernunft das Wort "intelligibel" zur Verfügung; ist aber im Verstande nichts, was nicht vorher in den Sinnen war, in der Erfahrung, so kann im Verstande nichts Intelligibles sein, nichts Unerfahrenes, nach Kants Sprachgebrauch, so ist alles Intelligible nicht nur unvorstellbar und unverständlich, sondern undenkbar. Drei mögliche Wege sah Kant: den Dogmatismus der Scholastiker, den Zweifel Humes und seinen eigenen Weg; im Kampfe gegen den Dogmatismus war er siegreich, im Kampfe gegen den Skeptizismus ist er unterlegen.


  1. Als ein kleiner Beitrag zu der Art, wie geflügelte Worte entstehen können, mag es hier verzeichnet werden, dass der arme Mendelssohn Kant "den alles zermalmenden" nannte in einem Satze ("Morgenstunden", Vorrede), in dem er zugeben muß, keines der kritischen Werke Kants gelesen zu haben.