Zum Hauptinhalt springen

Mutter und Kind

Man achte einmal genau auf das Sprachverhältnis zwischen Säugling und Mutter zu der Zeit, wo das Kind noch nicht sprechen kann und wo trotzdem eine Verständigung zwischen beider schon stattfindet. Sicherlich ist das Weinen des Kindes ursprünglich ein Reflexlaut. Es weint vor Schmerz, vor Unbehagen, insbesondere vor Hunger. Die Hebende Mutter erkennt übrigens an der Art des Weinens ungefähr, ob das Kind einen Schmerz fühle, ob es sich z. B. nur langweile oder ob es Hunger habe und trinken wolle. Gegen Ende des ersten Jahres ist das Hungerweinen des Kindes aber aus einem Reflexlaut Sprache geworden; denn das Kind hat die Erfahrung gemacht, dass es auf eine gewisse Art des Weinens die Brust erhält. Der gleiche Laut war also zuerst der Reflexlaut eines Gefühls sodann ein Sprachmittel, wobei es gleichgültig bleibt, ob in der Seele des Kindes dieses Sprachmittel etwa den Charakter eines Befehls, einer Bitte oder gar den eines selbsttätigen Zauberspruchs angenommen hätte. In diesem Kindesalter nimmt das Weinen aber noch einen dritten Charakter an. Wenn das weinende Kind die Brust erhalten hat, so setzt es das Weinen oft noch eine Weile — ich möchte sagen: behaglich — fort, genau so, als ob es jetzt sich oder der Mutter erzählen wollte, es habe geweint, oder es habe weinen müssen, um die Brust zu bekommen. Man könnte das so ausdrücken, dass das Hungerweinen des Kindes zuerst lyrisch sei, dann dramatisch werde und endlich in einem Epos Verwendung finde. Es ist das kein Scherz. Es ist der Weg der Sprache vom Reflexlaut des Gefühls (Lyrik) zur Wirksamkeit des Sprachlauts auf die Umgebung (Drama) und endlich zur ruhigen Mitteilung (Epos).

Wie verhält sich die Mutter zu diesem Hungerweinen ihres Kindes? Der bloße Reflexlaut des Gefühls weckt in ihr das entsprechende Gefühl des Mitleids, der Liebe, der Lust oder was immer, und sie eilt herbei, froh die Brust zu reichen. Das Hungerweinen als Sprachlaut, die Aufforderung des Kindes beantwortet sie schon sprachlich. Auf das erzählende, behagliche Hungerweinen des beruhigten Kindes reagiert sie durch ein entsprechendes Geplapper. Ich behaupte da nur Dinge, die man in jeder Kinderstube beobachten kann.