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Weinen

Die Erregung des Gefühls gehört auf ein anderes Gebiet, Das freundliche Geplapper, das die Erzählung des Kindes begleitet, ist bereits Geschwätz, gehört also schon einer höheren und modernen Verwendung der Sprache an. Die Entstehung der Sprache selbst werden wir nur in dem zweiten Falle Jbe-lauschen können, wenn das Hungerweinen des Kindes eine Aufforderung ist und die Mutter Sprachlaute von sich gibt, um das Kind sofort zu beruhigen, bevor sie noch herbei geeilt ist, die Brust entblößt und das Kind angelegt hat. Heute gebraucht die Mutter die Worte der Erwachsenen. Sie sagt z. B. "Gleich wird das Kind zu trinken bekommen" oder "Die Mutter ist schon da" oder etwas Ähnliches. Das Kind beruhigt sich, trotzdem es keine Silbe versteht. Es hat die Stimme der Mutter erkannt und weiß aus Erfahrung, dass auf diese Stimme die Brust folgen wird. Doch die Stimme allein tut's nicht; denn das Kind würde sich nicht beruhigen, wenn die Mutter zankte. Im Ton der Stimme hegt die Sprache, die das Kind versteht. Dieser Ton ist aber — ich kann mich dabei nur auf mein Gehör verlassen — eine Art Nachahmung und zugleich eine Umformung des Hungerweinens. Er ähnelt, wenn ich mich nicht irre, vollständig dem Ton, welchen das behagliche Hungerweinen des beruhigten Kindes annimmt. Habe ich mit diesen kleinen Beobachtungen recht, so spielen die Nuancen des weinerlichen Tones in der Kinderstube eine solche Rolle, dass eine Menge grammatischer Kategorien dazu gehörte, sie als Formen der Sprache zu fassen. Es stecken in diesen Verhandlungen zwischen Mutter und Kind schon die Kategorien des Nomens (Brust, Milch oder Hunger), des Verbums (trinken), ja sogar der Zeit (ich habe geweint), des Pronomens (ich und du).

Die Versuche, auf die Sprachlaute beim Weinen (wie dann auf die Laute beim Lachen und Staunen) die ersten Sprachlaute der Menschen zu begründen und aus ihnen metaphorisch das Übrige entstehen zu lassen, habe ich als phantastisch aufgegeben, so lockend mir auch die Hypothese heute noch erscheint. Auf eins aber möchte ich hinweisen, dass nämlich der weinerliche Ton selbst ein wesentlicher Bestandteil der Sprache geblieben ist, ebenso wie der Ton des Staunens und der Freude. Ich habe an anderer Stelle erklärt, warum es europäische Beschränktheit ist, nur die im Alphabet geordneten Lautzeichen artikuliert zu nennen und z. B. die der Sprache wesentliche Tonhöhe bei den Chinesen nicht unter dem Begriff der Artikulation zu fassen. Der besondere Ton z. B. des Hungerweinens ist unserer Sprache ebenso wesentlich und hat selbst — darauf kommt es mir hier an — metaphorische Verwendung gefunden. Nicht nur der Schauspieler, sondern jeder natürliche Mensch verwendet Nuancen des weinerlichen Tons für die Reihe der Gefühle, die von der Verzweiflung über die Trauer hinweg bis zu dem schlichten Ton der Sympathie heruntergehen.

Wir fassen den Sprachlaut des Hungerweinens beim Kinde am häufigsten und vielleicht am richtigsten als Bitte auf. Diesen Ton beobachten wir alltäglich bei der Bitte des Bettlers. Wie sehr es auf den Ton ankommt und nicht auf das Wort, sehen wir daraus, dass wir die Phrase des Bettlers im fremden Lande und auch zu Hause gewöhnlich gar nicht verstehen. Und wiederum hat das Wort "bitte", wenn wir es deutlich hören, nur in Verbindung mit dem bettelnden oder weinerlichen Ton diese Bedeutung. Das Wort allein kann ebensogut metaphorisch einen Befehl, ja einen durch Hohn verstärkten Befehl ausdrücken, wenn z. B. der Gläubiger zum Schuldner sagt "ich bitte um sofortige Bezahlung" oder wenn der Vorgesetzte boshaft und ironisch seine Macht mißbraucht und dem Schreiber sagt "ich bitte um Pünktlichkeit".

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