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Sprachzweck ist Suggestion

Die Sprache ist etwas zwischen den Menschen, ihr Zweck ist Mitteilung. Aber die Mitteilung kann ja nicht selbst Zweck sein, sie ist es nur beim Schwätzer. Immer wollen wir — wenn auch oft indirekt und unbewußt — das Denken und damit das Wollen des anderen Menschen nach unserem Denken und Wollen, das heißt nach unserem Interesse beeinflussen. Der Zweck der Sprache ist also Beeinflussung, oder Gedankenlenkung, mit einem Modeworte: Suggestion. Die Wirkung der Sprache auf den anderen ist verschieden; der Zweck wird nicht immer erreicht. Unterwerfung unter die Suggestion oder Auflehnung kann die Folge sein. Diese Wirkung kann ebensogut durch Handlungen als wieder durch Sprache ausgedrückt werden.

Von Wichtigkeit ist es nun, dass dieser Zweck der Sprache auch schon bei ihrer Entstehung mitgewirkt haben muß. Das Schwatzen und Erzählen ohne Not konnte erst als ein Luxus, als ein Mißbrauch der hochentwickelten Sprache eintreten. In den Zeiten der Spracherfindung mußte die Notdurft der Verständigung noch größer sein als jetzt. Und da können wir es uns lebhaft vorstellen, wie Sprachstoff und Sprachform noch gar nicht zu trennen waren, wie Sprachstoff und Sprachform zugleich aus dem alleinigen Zweck des Sprechens hervorgingen. Wir nehmen wieder das Beispiel von dem Hungerweinen des Kindes. Als Sprachlaut kann es zunächst metaphorisch so ungleiche Begriffe umfaßt haben wie "Brust, Mutter, Hunger, satt, Schmerz, Hoffnung, Freude, trinken" usw. Daraus ergibt sich sodann, dass der Sprachlaut ebensogut an den Reflexlaut des Schmerzes, des Hungerweinens, wie an den der Freude über die gereichte Brust oder an den des Staunens z. B. über die Schnelligkeit oder über die weiße Farbe der Brust oder über die in einem Gefäße gereichte Milch usw. anknüpfen konnte. Ein Versuch, unter diesen Möglichkeiten zu wählen, wäre womöglich noch törichter als die Bemühungen unserer Sprachwissenschaft, mit Hilfe der Etymologie zu absoluten Wurzeln einer Ursprache vorzudringen.

Die Einsicht in den Zweck des Sprechens lehrt aber für diese Urverhältnisse etwas Wichtigeres: dass nämlich jener erste Sprachlaut weder ein Nomen, noch ein Verbum, noch ein Adjektiv war, sondern schon eine Absicht, der Wunsch, dem mit Nahrungsstoff versehenen anderen, hier der Mutter, etwas zu suggerieren. Das Wesentliche an jenem ersten Sprachlaut unseres Phantasiebeispiels war das, was wir heute den Imperativ nennen oder die bittende Form und dgl. Wir können somit aus dem Zweck der Sprache vermuten, dass der Begriff einer so schwierigen Verbalform, deren psychologische Entstehung den Grammatikern so viel zu schaffen macht, schon dem ersten Sprachlaute als sein wesentlichster Inhalt angehört hat, dass gewissermaßen die Befehlsform älter ist als der Begriff Milch. Denn wir können die Vorstellung von dem ersten Sprachlaut des Säuglings recht gut auf die ältesten Sprachlaute der Menschheit übertragen. Auf ganz anderem Wege ist auch M. Bréal dazu gelangt (Ess. d. Sém. 262), im Imperativ, als dem subjektivsten Modus, die älteste Konjugationsform zu suchen.

In ähnlicher Weise ist mit dem Reflexlaut des Staunens das verbunden, was in der späteren Grammatik zum Ton und zum Begriff des Fragesatzes wurde.

Wir halten es für ganz begreiflich, dass durch Einübung der Sprachlaute als Gedächtniszeichen für Dinge die Worte entstanden seien, unser Sprachstoff. Es ist um nichts begreiflicher, aber auch um nichts weniger begreifüch, dass auch die jetzt so schwierigen Formen des Befehls, der Frage, der Möglichkeit, der Bedingung usw. den ersten Sprachlauten als ihr wesentlichster Inhalt angehörten und durch Einübung des Tons formelhaft erhalten blieben. Nur der beschränkte Alphabetismus, der die Sprachlaute des Alphabets für etwas Artikulierteres, Handgreiflicheres, Festeres hält als die Betonungen, konnte sich über diese Tatsache täuschen. In diesem Alphabetismus ist allerdings die Sprachwissenschaft bis jetzt ziemlich befangen.

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