Zum Hauptinhalt springen

Bitte des Kindes

Der Imperativ läßt sich eigentlich auch auf die bloßen Mitteilungen anwenden; jede Mitteilung ist zugleich ein Zwang, daher denn auch die Belästigung durch Mitteilungen, die uns unerwünscht oder gleichgültig sind. Die Satzform des Imperativs ist nur ein unbedeutendes Überbleibsel aus einer Sprechweise, welche ursprünglich als auffordernder Ton die Sprache beherrscht haben mag.

Welche Wichtigkeit der Ton, also recht eigentlich die Sprechweise für das Verbum besaß, kann man aus den sogenannten Modusformen ersehen, von welchen die Grammatik vier aufstellt und sie die Formen des Wirklichen, des Möglichen, des Wünschens und des Sollens nennt. Die Formen der Möglichkeit, des Wünschens und des Sollens (Konjunktiv, Optativ und Imperativ) gehen aber in ihrem Sinn so wirr durcheinander, dass ich die Grammatiker nicht beneide, welche die alte Ordnung aufrecht zu erhalten suchen. In einer der gangbarsten Schulgrammatiken Berlins finde ich die Erklärung, es stehe der Konjunktiv (b) in Nebensätzen, welche von Verben abhängig sind, bei denen der Erfolg der Tätigkeit ein unbestimmter ist; "solche Verben bezeichnen: ein Ahnen, Vermuten, Wünschen, Bitten, Hoffen, Fürchten, Sorgen, Streben, Hindern, Gebieten, Verbieten, Erlauben, Verdienen, Warten." Die armen Lehrer! Die armen Schüler!

Wir wissen, dass z. B. das Wünschen (um einen der verständlichsten dieser Begriffe herauszugreifen) ebensogut durch den Konjunktiv wie durch den Optativ oder den Imperativ ausgedrückt werden kann. Die Sprachform ist ganz hilflos gegenüber der psychologischen Wirklichkeit. In der psychologischen Wirklichkeit verfügt das Kind, ja selbst schon der Säugling, über den Ton oder die Sprechweise des Konjunktivs, Optativs oder Imperativs viel früher als über den referierenden Ton des Indikativs. Und alle logischen Bemühungen der Grammatiker, den Wunsch und die Möglichkeit und ähnliche Kategorien in die Modusformen des Verbums hinein zu klassifizieren, scheitern an der Psychologie des Kindes. Diese Modusformen fangen beim Kinde absolut verständlich mit dem weinerlichen oder bittenden Ton an, mit welchem es z. B. Stillung seines Hungers verlangt. Wenn das Kind zwei Jahre später mit demselben absoluten Ton Unmögliches erbittet, so ist ihm mit keiner Logik der Erwachsenen ein Unterschied begreiflich zu machen. Das Kind will z. B. den Mond in seine Händchen kriegen. Da könnte man ihm nun sagen, dass die Bedingungen des Weltlaufs der Erfüllung entgegenständen, dass es Unmögliches wünsche, dass der liebe Gott sich nicht befehlen lasse (Konjunktiv, Optativ, Imperativ). Das Kind versteht die Einwendungen nicht und bittet um den Mond, wie der blödsinnig gewordene Oswald Alwing sagt: "Mutter, gib mir die Sonne."

Dieser kindliche Standpunkt ist aber in der Sprachform weit mehr versteckt, als man glauben sollte. Hinter allen Konjunktiven und Optativen verbirgt sich die eigensinnige Bitte des weinenden Kindes, welches als Säugling die reale Macht seines weinerlichen Tones zu erfahren geglaubt hat und ihn nun anwendet, um weitergehende Wünsche zu befriedigen. So wenig wie das Kind wissen die Menschen im Naturzustande noch von dem Unterschiede zwischen möglichen und unmöglichen Bedingungen. Die Unabänderlichkeit der Naturgesetze ist noch nicht seit dreihundert Jahren ein fester BegrifE der gebildeten Welt. Bei dem gläubigen Volke ist er heute noch nicht vorhanden, und im Gebet wie im Fluche steckt die alte kindliche Bitte, welche Erfüllung erwartet.

Durch einen schwer verständlichen Witz der Sprachgeschichte ist (z. B. im Deutschen, auch im Lateinischen) gerade der Bedingungssatz, der doch im Grunde just an die logischen Schwierigkeiten erinnern sollte, die Form für den Optativ geworden. Wir müssen sagen, dass die Sprache da um Jahrhunderte hinter unserer Weltanschauung zurückgeblieben ist, sowie sie in der Scheidung zwischen Adjektiv und Verbum hinter unserer Erkenntnistheorie zurücksteht. Nicht naturgemäß (wie Wegener einmal sagt, Untersuchungen S. 188), sondern gegen die Art unserer Naturanschauung sind die Formen der Bedingungen zu den Formen des Wunsches geworden. Der Widerspruch ist so groß, dass in den Fällen, in welchen der Sprecher nicht fromm ist und die Unmöglichkeit der Erfüllung einsieht, dieselbe Sprachform des Bedingungssatzes geradezu die Bedeutung des Schmerzes, der Einsicht in die Unmöglichkeit ausdrückt. Der Bedingungssatz als Form des Optativs ist also ein Rückstand aus Zeiten, in welchen das Volk mit seinem bittenden Ton die Gottheit noch so sicher zu beeinflussen glaubte, wie das weinende Kind der Mutter gegenüber an die Erfüllung ganz unmöglicher Wünsche glaubt.