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Erblichkeit und Anpassung

Wir brauchen uns nur darauf zu besinnen, dass für uns die menschliche Sprache, ja selbst die einzelne Volkssprache und jede ihrer Mundarten ein unwirkliches Abstraktum ist, dass wir es in unserer Kritik nur mit Individualsprachen, das heißt mit den Sprachgewohnheiten einzelner Menschen zu tun haben, um einen freieren Standpunkt gegenüber der sogenannten Sprachschöpfung zu gewinnen. Die Entstehung der Sprache ist um nichts schwerer, aber auch um nichts leichter zu erklären als die Entstehung irgend eines lebendigen Wesens auf der Erde. Um aber diese Gleichung ernsthaft überlegen zu können, müssen wir in unserem Verzicht auf Abstraktionen noch einen Schritt weiter gehen und uns erinnern, dass die Individualsprachen nur verhältnismäßig konkrete Einheiten sind, wenn man sie nämlich dem wüsten Begriff "menschliche Sprache" gegenüberstellt; dass aber die Individualsprachen, nimmt man es mit der Wirklichkeit genau, doch nur wieder Abstraktionen sind. Wirklich sind doch nur die tönenden Worte, wie sie ein einzelner Mensch in einem bestimmten Augenblicke, unter bestimmten Umständen ausspricht. Nur diese tönenden Worte können mit wirklichen lebendigen Wesen verglichen werden; die Individualsprachen entsprechen doch nur dem engsten Artbegriff der lebendigen Wesen.

Die Entstehung eines solchen lebenden Einzelwesens, eines Organismus, beschreibt man gegenwärtig als eine Wirkung von zwei Ursachen, die einander in einem gewissen Sinne widersprechen: man beschreibt oder erklärt sie durch Erblichkeit und Anpassung. Als die treibenden Ursachen in der Sprachentwicklung werden wir jetzt schon die Metapher und die Analogie vermuten; und wir können jetzt sagen, dass beide sich unter dem Begriff der Ähnlichkeit zusammenfassen lassen. Die metaphorische Veränderung der Worte beruht darauf, dass wir mit bewußter Phantasietätigkeit ein Wort gebrauchen für ein Ding, das der bisherigen Bedeutung des Wortes nur ähnlich war. Die analogische Bereicherung der Sprache beruht darauf, dass wir mit unbewußter Phantasietätigkeit eine Gruppe von Dingen unter einem Worte begreifen, die uns gleich zu sein scheinen, in Wahrheit aber nur ähnlich sind. Eine Metapher ist anfangs immer eine Analogiebildung ohne Selbsttäuschung. Auf der Hervorhebung von Ähnlichkeiten und auf dem Übersehen von Unähnlichkeiten hat sich die menschliche Sprache aufgebaut.

Auf den ersten Blick scheint das in der Vererbung der lebendigen Natur ganz anders zu sein. Unter Erblichkeit sind wir geneigt einen schablonenhaften Vorgang zu verstehen, bei welchem der Tochterorganismus dem Mutterorganismus nicht etwa bloß sehr ähnlich, sondern völlig gleich ist. Wer mir diese Selbsttäuschung bestreiten wollte, der achte nur einmal auf sein stilles Denken. Es ist ja gerade der Begriff der Anpassung zur Hilfe genommen worden, um aus Zeit und Umständen die Änderungen im Tochterorganismus zu erklären. Diese Änderungen erst verwandeln die Gleichheit zu einer bloßen Ähnlichkeit. Suchen wir die Auffassung recht scharf zu fassen, so muß auch die allerminimalste Abweichung vom Mutterorganismus durch Anpassung erklärt werden. Es bleibt also auch bei dieser Betrachtung für die Vererbung nur die völlige Gleichheit übrig. Da es nun in der Natur eine mathematische Gleichheit zwischen Tochterorganismus und Mutterorganismus nicht gibt, so werden wohl Vererbung und Anpassung auch nur zwei Abstraktionen sein, in welchen wir unbehilflich genug den wirklichen Vorgang auseinanderspalten. Und der Begriff "Vererbung", wie er denn auch eben der Sprache angehört, wird uns nur zu einem neuen Beispiele dafür, dass wir Ähnlichkeiten unter dem Schein der Gleichheit zusammenzufassen pflegen.

Aus dem Gesagten wird es verständlich sein, warum wir keinen Gegensatz mehr sehen zwischen Vererbung und Anpassung als den Ursachen eines lebendigen, wirklichen Einzelorganismus und zwischen Metapher und Analogie als den Ursachen jedes wirklich ausgesprochenen Wortes einer Individualsprache. Wir können recht gut die geheimnisvolle Vererbung in beiden Fällen vorläufig ausscheiden und werden sogar bei der künstlichen Zuchtwahl der Gärtner und Viehzüchter einen Vorgang beobachten können, der mit der bewußten Analogiebildung, der Metapher, einige Ähnlichkeit aufweist.