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Biologie und Sprachwissenschaft

Die Einwirkung der beiden Formen der Ähnlichkeit auf den Bedeutungswandel der Worte läßt sich in den lebenden Sprachen und in den paar Jahren, die wir ihre historische Zeit nennen, Schritt für Schritt nachweisen. Aber die Sprachwissenschaft schreckt immer wieder davor zurück, die gleichen Mächte als wirksam zu erkennen auch bei der Entstehung der Sprache, auch in irgend einer willkürlich angenommenen Urzeit. Es scheint fast, dass im Gehirn auch der aufgeklärtesten Männer die biblische Schöpfungsgeschichte irgendwie als Hemmung nachwirkt. In der Sprachwissenschaft stärker als in der Biologie, wo doch wenigstens heute (mehr durch Ahnungen als durch Beweise) die Entstehung der gegenwärtigen Lebewelt aus einem noch undifferenzierten Organismus gelehrt wird. Auch die Biologie freilich stellt sich die scholastische Frage: wie denn das erste Protoplasma-Atom entstanden sein möge; aber die Biologie scheut wenigstens nicht davor zurück, von dieser willkürlich angenommenen Urzeit ab ein natürliches Schema der Entwicklung aufzustellen oder zu suchen. Noch nennt sie diese Lehre nicht "die Entstehung der Individuen", noch nennt sie sie "die Entstehung der Arten"; aber sie sieht es für selbstverständlich an, dass die heute wirkenden Ursachen auch in jener Urzeit gewirkt haben.

Nichts von dieser Freiheit nehmen wir in der Sprachwissenschaft wahr. Sie hält ihr bißchen Etymologie für Sprachweisheit; das ist, als ob die Naturwissenschaft unsere Rinder bis auf die Rinder der ägyptischen Hieroglyphenbilder zurück verfolgen wollte, die ägyptischen Rinder aber nach der biblischen Legende geschaffen sein ließe. Es ist wahr, dass die Sprache imstande ist, künstlich neue Worte zu bilden, was sie scheinbar von der lebendigen Natur unterscheidet. Aber diese künstlichen Neubildungen sind doch immer aus dem alten Sprachstoff hervorgegangen, sind schließlich ohne Ausnahme Metaphern, Analogien, Entlehnungen oder doch wenigstens Zusammenstellungen vorhandener Laute; sie sind also keine Gegeninstanz gegen die Ähnlichkeit zwischen Sprachentwicklung und der Entwicklung des Lebens auf der Erde.

Aber selbst diese Tatsache wird nur als eine Ausnahme behandelt, um den Satz aufrecht zu halten, dass nicht mehr viel neuer Sprachstoff geschaffen werde, dass dazu auch kein Bedürfnis vorhanden sei. Hermann Paul sagt (Pr. d. Sprg. S. 140) geradezu: "Dies massenhafte Material ... läßt nichts Neues neben sich aufkommen, zumal da es sich durch mannigfache Zusammenfügung und durch Bedeutungsübertragung bequem erweitern läßt." Er scheint gar nicht zu sehen, wie dieser Satz sich selbst widerspricht, wie jede Zusammenfügung, jede Bedeutungsübertragung, wie also die alltäglichsten Erscheinungen das Sprachmaterial unaufhörlich noch vermehren. Ja ich gehe so weit, auch jede Deklinations- und Konjugationsform, die zufällig in einer Individualsprache noch nicht gelebt hat und nun plötzlich durch die Umstände notwendig und darum wirklich geworden ist, für eine Neuschöpfung der Sprache zu erklären. Wenn ich sage "du hättest radeln sollen", so ist dieses Wort — die vier Worte als eines genommen — vielleicht zum ersten Male ausgesprochen; es ist eine Neuschöpfung und wird eingeübt. Wenn wir seit einigen Jahren einüben "die unsichtbaren Strahlen, mittelst der unsichtbaren Strahlen, vor den unsichtbaren Strahlen usw.", so beteiligen wir uns ohne Frage an Neuschöpfungen. Wir müßten denn Schulmeister sein und die bequemsten Analogiebildungen, die wir darum grammatische Formen nennen, anders auffassen als die unbequemen.