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Ursprache

Die ältere Sprachwissenschaft stellte sich unter der Sprache der Urmenschen ganz naiv einen Bau vor, der zwar kleiner und ärmlicher war als das Gebäude einer heutigen Kultursprache, aber im wesentlichen mit der gleichen Kunst gezimmert, für die gleichen Bedürfnisse eingerichtet. Neuerdings ist die Sprachwissenschaft redlich bemüht, die Ursprache primitiver aufzufassen; aber die alten Vorstellungen wirken nach, und schon das Wort Ursprache an sich erregt das Bild von etwas, das unserer Sprache ähnlich sieht. Die klare Einsicht, dass die Mitteilungen zwischen den Menschen angefangen haben müssen wie die Organismen, unartikuliert, ungegliedert, wird eben dadurch erschwert, dass wir uns in den Begriffen unserer Sprache die beinahe vorbegriffliche Sprache des Anfangs kaum begreiflich machen können. Und doch ist ein Blick auf das vermeintlich ungegliederte Protoplasma der Biologie vielleicht noch lehrreicher, als man glauben sollte. Nehmen wir einmal mit dem deutschen Darwinismus etwa an, ein Mittelding zwischen Affe und Mensch habe die Erfindung der Sprache gemacht, so müssen wir uns den Anfang der Erfindung natürlich in einem Zustand denken, wo von Satzteilen und Redeteilen noch nicht eine Spur vorhanden war. Deshalb brauchte das Bild der Wirklichkeitswelt in jenen Gehirnen nicht falsch zu sein. Was die Affenmenschen — wenn es solche gab — sahen, das sahen sie so richtig wie wir; vielleicht hörten, schmeckten und rochen sie es noch schärfer als wir. Nur die Fülle und Übersichtlichkeit ihrer Erinnerungen war unendlich geringer. Suchen wir uns aber das Weltbild eines sehr niedrigen Tierorganismus, eines Tieres ohne Sinnesorgan, vorzustellen, so werden wir sagen müssen, dass auch dieses Weltbild in seiner Weise richtig ist und dem Bedürfnisse entspricht. Es ist nur noch nicht nach den verschiedenen Sinneseindrücken differenziert, so wenig wie die Erinnerung eines Affenmenschen nach sprachlichen Kategorien, die am Ende gar mit den Eindrücken der Zufallssinne ursprünglich, in irgend einem Zusammenhang gewesen sein mögen. Wäre die Sprachwissenschaft von der Psychologie ausgegangen anstatt von dem historischen Fache der Philologie, so hätte sie die Zufälligkeit unserer grammatischen Kategorien, der Redeteile, erkennen müssen, während sie jetzt schon froh ist, ab und zu ein Wort zu entdecken, welches nicht ganz bestimmt in einer einzigen Kategorie unterzubringen ist. Mein Beispiel vom Warnungschrei einer Menschenhorde, den wir uns gar nicht menschlicher zu denken brauchen als den Warnungspfiff einer Gemse, mag uns zeigen, wie diese Sprachäußerung jeden Redeteil ersetzen konnte. Ich schicke voraus, dass dieser Warnungschrei auf alle Fälle syntaktisch als ein Prädikat aufzufassen sein dürfte, als ein Prädikat zu einem Subjekte, welches in den allen wohlbekannten Umständen lag, das heißt als eine Antwort auf die Frage, welche aus den Umständen hervorging. Der Schrei konnte (in unserer Sprache ausgedrückt) ein Substantiv bedeuten: "Feinde"; oder ein Adjektiv. "Schwarze"; oder ein Pronomen: "Sie" (kommen); oder ein Verbum: (sie) "Kommen"; oder ein Zahlwort: (es kommt) "Einer", (es kommen) "Viele"; oder ein Adverbium: "Von rechts"; oder eine Interjektion: "Feindio!" Man wird mir die Erklärung erlassen, warum ich den Schrei nicht auch als Präposition, als Konjunktion und als Artikel gedeutet habe.

Das Verständnis dieses Warnungsschreis bei der Menschenhorde brauchte nun durch den Mangel sprachlicher Kategorien nicht im mindesten beeinträchtigt zu werden. In dem gleichen Falle wird eine Räuberbande, die sich der schönen italienischen oder der reichen deutschen Sprache bedient, den artikulierten Ruf der ausgestellten Wache gar nicht besser verstehen. Wenn die Bande den Feind erwartet, so wird sie aus dem Rufe "jetzt", "von rechts", "viele" usw. genau so deutlich die Meinung der Wache erkennen, wie die Horde sie erkannte etwa aus der Stärke des Schreis und den begleitenden Gebärden, wobei ich ganz unberücksichtigt lassen will, dass die italienische oder deutsche Bande von den Kategorien der Redeteile ebenso wenig etwas weiß wie jene alte Horde. Was den Kategorien etwa in Wirklichkeit entspricht (Raumverhältnisse, Zeitverhältnisse, Zahlgleichungen u. dgl.), das ist bis zu einer gewissen Grenze doch selbst den Tieren geläufig und mußte den angenommenen Affenmenschen vor der Ausbildung einer artikulierten Sprache auch schon im Gehirn stecken. Auch diese Betrachtung führt also dazu, die Entstehung der Sprache immer weiter und weiter zurück zu schieben. Ob unsere gegenwärtige gebildete und logische Sprache eine Schwierigkeit darin findet, den Begriff "Sprache" zu definieren und so die sprechenden Menschen von den vorsprachlichen Affenmenschen begrifflich sauber abzugrenzen, kann der Wirklichkeit ganz gleichgültig sein, wenn auch die Sprachphilosophie sich um solche Doktorfragen abquälte.