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Zufall

Wir müssen einen Augenblick stehen bleiben, um uns an die Bedeutung des Begriffs "Zufall" — der hier so oft wiederkehrt — zu erinnern. "Zufall" ist ein höchst armseliges Menschenwort, das, auf die Natur angewendet, keinen rechten Sinn mehr hat. Wären wir strenger in unserem Sprachgebrauch, so dürften wir das Wort "zufällig" nur im Gegensatz zu "absichtlich" aussprechen. Von Absichten wissen wir aber nur bei Menschen etwas, nicht in der Natur. Mit einem sehr schlechten Bilde sagen wir also — und das ist der häufigste Gebrauch des Wortes Zufall —, dass z. B. der Blitz in dieses und dieses Haus zufällig eingeschlagen habe. Unsere Weltanschauung verbietet uns jedoch, den Weg des Blitzes anders als aus einer unbedingten Notwendigkeit zu erklären. Wenn wir nun im Laboratorium die Entladung eines Funkens aus der Elektrisiermaschine für notwendig, in der Wirklichkeitswelt jedoch das Einschlagen des Blitzes in ein bestimmtes Haus für zufällig erklären, so meinen wir doch nur, dass wir die Bedingungen des ersten Falls kennen, die Bedingungen des zweiten Falls nicht kennen. Im Gegensatz zu "absichtlich" bedeutet "Zufall" ein Nichtwollen; im Gegensatz zu "notwendig" soll es ein Nichtwissen ausdrücken. Das Gemeinsame des Bildes steckt einzig und allein in der Negation. (Ein dritter Gebrauch des Wortes Zufall, wenn wir nämlich einen Nebenumstand, das heißt etwas, was uns weniger interessiert, z. B. ob der Blitz die Mauer oder das Dach zuerst getroffen habe, zufällig nennen, geht uns hier weniger an, weil alle Welt sich über die Relativität dieses Zufallbegriffs klar ist.)

In der Welterklärung heißt für uns also Zufall alles das, was wir nicht erklären können. Es ist nicht überflüssig, sich das klar zu machen. Denn nicht nur in der Umgangssprache ist mitunter halb wissenschaftlich von einem "Gott Zufall" die Rede, sondern dieser Gott Zufall hat auch in der Geschichte der Welterklärung eine Rolle gespielt. Demokritos hat etwas zu sagen geglaubt, als er lehrte, dass seine Atome "zufällig" zu den Körpern der Natur sich verbinden. Hätte er sich deutlich gemacht, dass Zufall nur unser Nichtwissen ausdrückt, so hätte er das wohl ausdrücklich gesagt; sein Zufall war ihm aber irgend eine positive Gottheit, und darum ist über diesen Zufall so viel gestritten worden. (Vgl. I, S. 353 ff. und Art. Zufall in meinem "Wörterbuch der Philosophie".)