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Zufallslaute der Kinder

Der Zufall jedoch, dass das Instrument für die Atmung zugleich ein Musikinstrument ist, bringt das Kind sehr bald dazu, sinnlos auf diesem Instrumente zu spielen. Das Kind braucht nur beim Ausatmen die Zunge zu bewegen (und es bewegt sie weit lebhafter, als es erwachsene Menschen tun), um ein Geräusch zu erregen, das ihm offenbar Vergnügen macht. Wir sind es gewohnt, dieses Geräusch der kindlichen Sprachwerkzeuge nur dann Lallen zu nennen, wenn wir die hervorgebrachten Töne mit unserem traditionellen Alphabet nicht ausdrücken können; es wird sich empfehlen, auch die nach diesem alphabetischen Schema artikulierten Silben, die absichtslos bis weit ins zweite Jahr hinein spielend ausgeführt werden, gleichfalls noch ein Lallen zu nennen. Man hat nun die Seele des Kindes bis zum Ablauf des ersten Jahres oft mit der Tierseele verglichen. Je mehr ich aber geneigt bin, das Seelenleben der Tiere höher einzuschätzen, als es gewöhnlich geschieht, desto lebhafter muß ich solche Nebeneinanderstellungen im einzelnen zurückweisen. Unbedingt hat das Kind dasjenige mit dem Tiere gemein, was ich das ältere Artgedächtnis genannt habe; und wieviel von dem jüngeren Artgedächtnis noch tierisch ist, das wird sich in abstrakten Begriffen kaum ausdrücken lassen. Die individuelle Entwicklung des Menschenkindes geht jedoch sofort nach der Geburt ihre eigenen Wege. Äußerlich hat es die Volubilität der Zunge geerbt und beginnt die künftige Sprache zufällig einzuüben; innerlich gar ist ein Unterschied vorhanden, den jede Amme kennt. Das Kind erlernt nämlich ungleich schneller das Verstehen der Sprache als ihren Gebrauch. Einige Kunststückchen ("Wie groß ist das Kind?" — "Bitte, bitte!") lernt das Kind auf Befehle der Eltern nach dem ersten Jahre ausführen, während es die Worte "groß" und "bitte" selbst nach dem zweiten Jahre nicht immer auch nur mangelhaft nachspricht. Es wäre Sache der Physiologen, mit der Methode von Flechsig am Kindergehirn nachzuweisen, dass die Nervenbahn vom Ohre zum "Zentrum" rascher und vollständiger entsteht als die Bahn vom Zentrum zum Sprachorgan, und diese wieder (entsprechend anderen Beobachtungen) rascher als vom Zentrum des Sehorgans zu dem Sprachorgan. Doch auch solche physiologische Entdeckungen würden nichts erklären, würden nur genauer beschreiben, was wir heute schon wissen: dass nämlich das Kind die Sprache früher versteht, als aktiv gebraucht. Eine ähnliche Erscheinung bietet auch jeder Erwachsene, wenn er eine fremde Sprache lernt; er versteht sie früher, als er sie sprechen kann. Beim Erwachsenen kann freilich der Grund auch darin liegen, dass ein ungefähres Verstehen der Hauptsilben eines Satzes den Sinn schon erraten läßt, dass aber das Stammeln der bloßen Hauptsilben (wie es in der Praxis oft genug geschieht) gegen den Bildungsstolz des Lernenden wäre. Das Kind jedoch versteht und befolgt den Zuruf "Wie groß ist das Kind?" bevor es noch die Hauptsilbe "groß" auch nur verstümmelt als "oo" nachzusprechen vermag oder versucht. (Wobei ich bemerke, dass das mit der Beschränktheit eines Erwachsenen gesagt ist; denn wir vermuten den Versuch einer Nachahmung erst dann, wenn wir eine Ähnlichkeit wahrnehmen. Vielleicht hat aber das Kind schon oo nachzuahmen versucht, wo es brr gesagt hat. Die Seele des Kindes ist uns anfangs so verschlossen wie die des Tieres.)

Es liegt also ein bis zwei Jahre die Tatsache vor, dass das Kind eine Anzahl Worte seiner Muttersprache bereits versteht (wenn auch nicht immer richtig versteht), sich etwas bei ihnen denkt, während es die gleichen Lautgruppen nicht nachzuahmen, wohl aber zufällig vor sich hinzulallen vermag. Preyer hat nun nach Beobachtungen an einem einzigen Kinde eine niedliche Tabelle solcher Zufallssilben aufgestellt und sie unglücklicherweise häufig als Ursilben oder Urworte bezeichnet. Die Voraussetzung Preyers ist aber ganz verkehrt. In notwendiger Abhängigkeit von unbekannten Feinheiten der Nerven und Muskeln eines Kindes ist es, zufällig also für unser Wissen, ob das eine Kind beim Lallen mehr die Lippen oder mehr die Zunge bewegt. Hat es aus solchen zufälligen Umständen die Gewohnheit angenommen, die Zungenspitze irgendwo an das Zahnfleisch zu legen, so werden D-Laute entstehen; arbeitet es mehr mit den Lippen, so kommen B-Laute heraus. Unter den Lippenlauten ist dann wahrscheinlich der labiale Nasal m leichter zu stande gebracht als das p. Wenn nun z. B. das Kind bereits im zweiten Monate das Zufallswort "mamamama" lallt, im neunten Monate "papapa", so hat das mit dem Sprachworte Mama und Papa nicht das Mindeste zu schaffen. Noch im Anfang des zweiten Jahres, wenn das Kind Mama und Papa richtig hört und die Personen richtig zeigt, kann es die Laute nicht immer richtig nachsprechen, die es Monate vorher gelallt hat.

Die angeblichen Onomatopöien oder Klangnachahmungen der Kinder dürfen uns nicht irre machen. Teils gehören sie dem Gebiete des Kinderstubenlatein an, teils fallen sie in eine spätere Zeit des Sprechenlernens. Niemals würde ein Kind von selbst darauf kommen, den Klang des Pendelschlags ticktack zu nennen.

Grundfalsch ist es, wenn Preyer dieses Sprechenlernen der Kinder mit ihrem Schreibenlernen vergleicht, weil in beiden Fällen keine neue Erfindung gemacht werde. Das Kritzeln, zu welchem übrigens nicht einmal alle Kinder Gelegenheit haben, hat nicht die entfernteste Beziehung zur Sprache, nicht einmal zur Schrift; das Lallen jedoch übt die Laute und Silben der künftigen Sprache im Spiele bereits vollständig ein.

Hoffentlich wundert sich niemand darüber, dass der Säugling bei seinem Lallen gerade die Laute seiner künftigen Menschensprache einübt und nicht etwa das Schnattern und Heulen und Zwitschern und Brüllen der Tiere. Es sind ja die menschlichen Sprachorgane im wesentlichen gleich gebaut und so wenig auf einer Flöte ein Paukenschlag geblasen werden kann, so wenig ist es dem Instrument des Säuglings natürlich, Tierstimmen nachzuahmen. Innerhalb der Zufallslaute eines Säuglings müßte sich die angenommene Ursprache der Menschheit bewegt haben.

Damit sind wir auf Umwegen da angelangt, wo wir den Begriff der Zufallslaute klarer als bisher von der Kindersprache auf die Ursprache übertragen können. Zugleich wird der Charakter der Zufälligkeit teilweise aufgehoben, weil wir das Selbstverständliche nun anschaulicher vor uns haben, dass nämlich die Zufallslaute abhängig sind vom Bau des menschlichen Sprachinstruments. Zufällig sind sie nur insofern, als wir ihre mechanisch-mathematische Formel nicht kennen. So geht es uns aber doch auch bei anderen Musikinstrumenten. Wir können die Klangfarben der Flöte, der Geige, der menschlichen Stimme noch nicht in mathematische Formeln fassen; dennoch sagen wir mit voller Sicherheit, irgend ein Stück sei gut oder schlecht für die Flöte, die Geige, die menschliche Stimme komponiert. Hat aber der Komponist das Instrument, für welches er schrieb, als eine gegebene Tatsache vor sich, so ist unser Sprachwerkzeug im unendlichen Gange der Entwicklung gewissermaßen zugleich Instrument und Produkt der menschlichen Sprache geworden. Die Sprache ist also gar nicht in der Lage, für ihr Instrument ein Stück zu komponieren, das seinem Charakter nicht entspräche.

Könnten die menschlichen Kinder aufwachsen, ohne von ihrer Umgebung auch die entwickelte Sprache mit zu übernehmen, so müßte aus ihren Zufallslauten immer wieder eine neue Ursprache entstehen, und keine wäre der anderen ähnlich. Der Begriff der Ursprache löst sich uns also an dieser Stelle in den eines zufälligen Anfangs auf. Die Frage, ob alle Menschensprachen der Erde von einer einzigen Ursprache abstammen oder nicht, wird gegenstandslos, weil in dem einen wie dem anderen Falle nur wenige Zufallslaute an den Anfang zu stehen kommen, so dass — selbst bei der Annahme eines uranfänglich einheitlichen Beginns — die Zufallsdifferenzen schon zu einer Zeit auftreten müßten, die für die Gegenwart ebensoweit zurückliegt. Es mag der Adler glauben, dass er der Sonne näher kommt als etwa das auffliegende Huhn; für die Sonne selbst ist Adler und Huhn der Erde gleich nahe.